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Titel0312

Bemerkungen

Vorspannvielfalt
Einen Aufruf gegen Kriegsvorbereitung zum Anlaß nehmend ließ Christian Bommarius, Demagoge vom Dienst bei den Zeitungen des DuMont-Konzerns, eine Schimpfkanonade gegen Abgeordnete der Linkspartei los, die sich diesem Protest angeschlossen hatten (siehe Ossietzky 2/12, »Normale Zeitungsgeschichte«). In der Einleitung seines Artikels in der Berliner Zeitung und in der Frankfurter Rundschau hieß es, diese Linksparlamentarier hätten sich »mit dem Massenmörder Assad verbrüdert« und so »ihr antisemitisches Treiben fortgesetzt«. Der Kölner Stadtanzeiger, ebenfalls ein DuMont-Blatt, leitete den Bommarius-Schmähtext anders ein, von »kommunistischer Verbrüderung mit Despoten« ist da die Rede, das »antisemitische Treiben« fehlt. Wie kommt‘s zu solcher Variabilität? Hat der Vorstandsbetreuer der Zeitungen bei DuMont, einst Redakteur der »marxistisch«-studentischen Roten Blätter, dem ihm ja vertrauten Kölner Publikum die Diffamierung nicht so faustdick vorsetzen wollen wie dem in Berlin und Frankfurt? Oder hatte ein Kölner Redakteur das Gefühl, man dürfe es beim journalistischen Lügen nicht zu toll treiben? Publizistische Sprachregelung ist auch kein leichter Job.

M. W.

Nachts in Seoul
Dieser Tage beim Kardiologen. Auf dem »Krabbeltisch« neben anderem, schon etwas abgegriffen, der Spiegel, Heft 1/12. Die Überschrift »Frontbesuch in Seoul« über die ganze Seite und hervorgehoben durch den dreistöckigen Vorspann nebst Nennung des Verfassers schon am Anfang weckt mein Interesse. »Als es Nacht ist in Seoul«, lese ich, »treten sie vor das Restaurant. Der koreanische Wirt macht ein Foto von der deutschen Delegation.«

Jochen-Martin Gutsch, hauptberuflich im Gesellschaftsressort des Hamburger Magazins tätig, hat diesen und einige weitere Höhepunkte einer Reise deutscher »Revolutionsveteranen« für die Nachwelt festgehalten. Auf dem »letzten Schlachtfeld des Kalten Krieges« weilten sie, »hofiert wie Staatsmänner«: Ex-Ministerpräsident Lothar de Maiziére, Rainer Eppelmann, letzter DDR-Verteidigungsminister, Ex-General und Ex-Minister in Brandenburg Jörg Schönbohm, Ex-Bahnchef Johannes Ludewig waren dabei. Allesamt »Ehemalige«, wiederaufbereitet als Mitglieder einer Expertenkommission »Koreanisch-Deutsches Konsultationsgremium zur Wiedervereinigung«, die den Koreanern erklären soll, »wie man erfolgreich vereinigt«. De Maiziére war zu diesem Zweck schon fünfmal in Seoul, erlebt jetzt seinen vierten oder fünften Vereinigungsminister. »Ick kann mir die Namen nicht mehr merken.«

Mit dem »Merken« scheint es bei de Maiziére, den die Koreaner laut Spiegel bereits mit »Excellence« und »Prime Minister« ansprechen, »so als wäre er wieder im Dienst«, überhaupt Probleme zu geben. Anders ist nicht zu erklären, was der die Delegation begleitende Spiegel-Gesellschaftsreporter über jenen Abend festgehalten hat, nachdem der koreanische Wirt sein Foto gemacht hatte: »Die Stimmung ist nicht schlecht nach Reiswein und ein paar Bier. De Maiziére pfeift eine Melodie aus ›Fidelio‹, einer Oper sagt er, die in der DDR verboten war wegen der Zeile: ›Oh, welche Lust, in freier Luft den Atem leicht zu heben!‹«

Damit hat der Spiegel exklusiv und aus Expertenmund eines der fast letzten Geheimnisse ans Tageslicht befördert. De Maiziére muß es wissen. Er ist ausgebildeter Musiker mit einem abgeschlossenen Studium an der renommierten Musikhochschule Hanns Eisler, hat als Bratschist unter anderem im Rundfunksinfonieorchester musiziert.

Zu Gunsten des »Revolutionsveteranen«, der da mit zwanzig Jahren Verspätung und fern der Heimat ein bislang unbekanntes Verbot öffentlich gemacht hat, könnte sprechen, daß dieses oder jenes Glas Bier schlecht war. Daß das Hamburger Magazin artikulierten Unsinn ungeprüft abdruckte, läßt erheblichen Zweifel zu an dessen Selbstdarstellung, die am besten recherchierte Publikation im deutschsprachigen Raum zu sein. Ein Blick beispielsweise in die Bestände des Babelsberger Deutschen Rundfunkarchivs über die Aufführungen der Staatsoper Unter den Linden könnte hilfreich sein. Unter der Stabführung von Otmar Suitner ist dort unter dem Datum des 16. Dezember 1970 eine Fidelio-Aufführung unter anderen mit Peter Schreier zu finden.
Hans Canjé

PS: Unter »Korrekturen« ist im Spiegel 3/12 die Notiz zu finden: »Zum Heft 1/12 Seite 46, »Frontbesuch in Seoul«: Die Aufführung der Oper »Fidelio« war in der DDR nicht verboten.



Win-Win
Thomas Rabe, jetzt Vorstandsvorsitzender des Bertelsmann-Konzerns, erschließt seinem Unternehmen ein neues, profitträchtiges Geschäftsfeld: Zusammen mit US-amerikanischen Finanzinvestoren werden die Gütersloher unter dem Titel »University Ventures Fund« als Anbieter für Hochschulstudien auftreten, in Kooperation mit staatlichen Universitäten. Bildungsinstitutionen, öffentliche und private, werden dann den Studierwilligen vor allem Online-Curricula der Firma Bertelsmann als Bildungsware anbieten. Der weltweite Markt für solche Produkte (Schulmaterialien nicht eingerechnet) wird derzeit auf 1.000 Milliarden Dollar geschätzt, laut F.A.Z. Begünstigt wird dieses Geschäftsfeld durch den Trend, auch für das Studium an staatlichen Universitäten Bezahlung zu verlangen. Zusätzlich will Bertelsmann Dienstleistungen für Bildungseinrichtungen übernehmen.

Ideell werbende Vorarbeit für diese zukünftige Geschäftstätigkeit der Bertelsmänner hat ihre als gemeinnützig anerkannte und steuerlich begünstigte Denkfabrik geleistet, die Bertelsmann-Stiftung. Sie verbreitet den Glauben an die Vorzüge der Privatisierung und unternehmerischen Ausrichtung des Bildungswesens. Nutzen bringt sie also, aber »gemeinen«? Mit dem neuen kommerziellen Vorhaben ergebe sich »eine echte Win-Win-Situation«, sagt der Bertelsmann-Chef. Nicht zu den Gewinnern werden diejenigen jungen Leute gehören, denen es an dem nötigen, durchaus nicht kleinen Geld für weiterführende Ausbildung als Ware fehlt. Die Klassengesellschaft festigt sich.
A. K.


»Die Sau ist tot«
bliesen in Detmold die Jagdhörner zum Halali, bei der Kundgebung der »Bürgerbewegung Unser Teutoburger Wald«. Ein Signal sollte das sein für den finalen Schuß auf das Projekt eines Nationalparks in Ostwestfalen-Lippe. So ganz bürgerlich ging es freilich bei dem demonstrativen Akt nicht zu – der »Fürst« (wie ihn die Medien in der Region gern nennen) und Waldgroßbesitzer Stephan zur Lippe sprach zu seinem Volk und »Freiherr« Philipp Heeremann, oberster Wald-»Bauer« in Nordrhein-Westfalen. Auch sonst eine erlauchte Reihe von Rednern: Elmar Brok MdEP und CDU-Bezirksvorsitzender darunter, ferner Frank Schäffler MdB, Bezirksvorsitzender der FDP Ostwestfalen-Lippe und prominenter Euro-Kritiker. Der Paderborner CDU-Bundestagsabgeordnete Carsten Linnemann war anwesend. Schäffler rief auf zur Rettung Ostwestfalen-Lippes vor dem Düsseldorfer »Öko-Sozialismus«. Und der lippische Kreisbauernleiter Heinrich Kemper beschwor die Tradition des »Hermannslandes« – seit dem Jahre Neun nach Christus habe man sich hier im Kampf »gegen fremde Mächte« bewährt. Auf die berühmte »Durchbruchsschlacht«, den großen Wahlerfolg der NSDAP am 15. Januar 1933 bei der Landtagswahl in Lippe, kam Kemper nicht zu sprechen.

Mit großem Aufwand führt seit Monaten die »Bürgerbewegung« ihre Kampagne gegen einen Nationalpark in Ostwestfalen-Lippe, an Finanzen fehlt es offensichtlich nicht. Eher schon an Argumenten, und so griff man zum Druck auf die Tränendrüse, mit einer großen Anzeige in der Lippischen Landeszeitung, auf der ein Kind zu sehen ist, das angesichts des Nationalparks traurig fragt: »Warum darf ich hier nicht rein?«

Das Kind ist falsch unterrichtet, in einem Nationalpark dürfte es ja spazieren gehen. Nicht erlaubt und auch gar nicht zu empfehlen ist das auf einem Truppenübungsplatz. Wie in der Senne. Aber dieses ostwestfälisch-lippische Terrain soll, so möchten es CDU und FDP, eben nicht Nationalpark werden, sondern dem Militär vorbehalten bleiben. Zum Üben für den Krieg. Schade für das Kind. Es muß sich nun mit dem gelegentlichen Anblick einer Panzershow am Bundeswehrstandort in Augustdorf/Lippe und dem Ausflug nach Detmold zum Denkmal für Hermann den Cheruskerfürsten begnügen. Der hat viele Römer zur Strecke gebracht. Vermutlich allerdings nicht im lippischen Wald. Aber egal wo – die Hauptsache ist, ein germanisches Halali konnte geblasen werden.
M. W.


Die Zähmung des Schwarzen
Ein schöner Film aus Paris: »Ziemlich beste Freunde«. Ein Millionenpublikum in Frankreich und jetzt auch in Deutschland ist begeistert. Diese Menschenfreundlichkeit. Dieser Realismus in den Details. Diese einprägsamen Bilder. Diese ausdrucksstarken Gesichter der beiden Hauptdarsteller François Cluzet und Omar Sy. Diese zu Herzen gehende Beziehung zwischen einem querschnittsgelähmten reichen Weißen und einem jungen Immigranten aus Afrika. Ja, ein wunderschönes Kino-Märchen vom Aristokraten, der sich nach dem Leben sehnt – an allem anderen fehlt‘s ihm nicht. Ihn beglücken das Temperament und die Direktheit des Wilden, der nach und nach auch den ganzen Hof für sich einnimmt, zumal sich der schwarze Mann als lernfähig erweist. Nach anfänglichem Sträuben ist er zu jeder Drecksarbeit bereit, und am Ende steht fest, daß er auch nicht mehr klauen wird; ihm gelingt es sogar, ein gestohlenes Fabergé-Ei wiederzubeschaffen, so daß die Sammlung wieder vollständig ist. Die Eigentums- und Machtverhältnisse sind gesichert; das ist die Hauptsache. Mehr noch: Sie erstrahlen neu im Glanze der feuchten Augen des Publikums.
E. S.


Hitler, der Rätekommunist
Götz Aly, früher als Historiker tätig, seit einigen Jahren als journalistischer Geschichtspolitiker, ist unablässig darum bemüht, das Publikum zu belehren: Beim deutschen Faschismus habe es sich tatsächlich um Sozialismus gehandelt, einen nationalen eben; die Braunen seien im Herzen rot. So auch in seinem neuen Buch »Warum die Deutschen? Warum die Juden?«, das den Anspruch stellt, den Holocaust neu zu erklären. In dieser Hinsicht ist die Studie dürftig, Aly bringt manche Information zur ideellen Vorgeschichte des mörderischen Antisemitismus im »Dritten Reich«, die freilich bei anderen Autoren schon detaillierter gegeben wurde. Originell ist da lediglich seine psychologisierende Einäugigkeit; ein »Neidkomplex« der »trägen Deutschen« gegenüber den leistungstragenden Juden, so stellt er es dar, sei die wichtigste Antriebskraft der antisemitischen Bewegung in Deutschland gewesen. Dieser Gedanke führt ihn dann aber zu der These, die den eigentlichen Zweck seines Buches ausmacht – »Gleichheitssucht«, schreibt er, stecke als Kern im nationalsozialistischen und damit im antisemitischen Weltbild. Von dieser gesellschaftspolitischen Krankheit seien schon früh Sozialdemokraten und später auch Kommunisten befallen gewesen, insofern »wurzele« die Hitlerei in der deutschen Arbeiterbewegung. Ganz nebenbei bringt Aly auch ein Beispiel dafür, wie diese Linie von links nach rechts in ein und derselben Person zu finden sei: Adolf Hitler, merkt er an, habe nach Ende des Ersten Weltkrieges in München zunächst als »Kleinfunktionär der kommunistischen Rätemacht«, als »Verteidiger der Räterepublik« gewirkt.

Das ist tatsächlich eine neue Deutung – so unmittelbar einleuchtend, daß Aly darauf verzichtet, sie näher auszuführen und zu belegen. Bisher hatten die Historiker ja beschrieben, daß der spätere Führer in der Zeit der Revolution sich brav an sein Reichswehrregiment hielt, das erst nicht so recht wußte, welcher bayerischen Obrigkeit es sich zuordnen sollte, dann aber die Lage erkannte und der »Ordnungsmacht« diente. Hitler, so wußten wir es, agierte als treuer Gefreiter auch im Soldatenrat und arbeitete sich hoch zum Observanten und Nachwuchspropagandisten im Auftrage seiner Truppe. Und nun dieses: Der Mann war Rätekommunist! Ein Grund mehr, der Aktualisierung geschichtlicher Erkenntnisse, wie Aly sie offeriert, sich anzuschließen: Nie wieder das Verlangen nach gesellschaftlicher Gleichheit, nicht einmal in seiner bescheidensten, der sozialstaatlichen Form. »Egalitarismus«, so hat uns Aly aufgeklärt, ist Terror. Und daß die ersten politischen Weggefährten Hitlers Rätekommunisten ermordet haben, war ein Versehen.
A. K.
Götz Aly: »Warum die Deutschen? Warum die Juden?«, S. Fischer Verlag, 351 Seiten, 22,95 €


Authentische Fälschungen
Die »Protokolle der Weisen von Zion« – für den vom deutschen Papst rekommunizierten Gottesmann Richard Williamson sind sie eine »authentische Informationsquelle«. Sie seien, so predigt dieser Bischof, von Gott gesandt. Diese »Protokolle«, Ende des 19. Jahrhunderts entstanden, sind ein Konglomerat, das sich aus verschiedenen Quellen speist. Im Auftrag der »Ochrana«, der zaristischen Geheimpolizei, in Paris entstanden, ließ ihr Chef Ratschkowski dieses Elaborat herstellen, um zu beweisen, daß die Juden sich verschworen hätten, die Weltherrschaft zu erringen.

Umberto Eco hat in seinem neuen Roman »Der Friedhof in Prag« jeder einzelnen Quelle, allen Fälschungen und Plagiaten nachgespürt. Er mußte nichts erfinden. Nur die Hauptfigur Simon Simonini ist Fiktion. Das ist ein Notar und begabter Fälscher von Testamenten und Dokumenten. Zur Tarnung betreibt er einen Trödlerladen in Paris, wo er sogar »geweihte« Hostien verkauft. Er ist für die unterschiedlichsten Geheimdienste tätig und erfahren im Inszenieren von Intrigen. Simonini führt ein Tagebuch, in dem auch ein Abbé Dalla Piccola seine Notizen einfügt und ergänzt. Sind es zwei Personen oder die Spaltung seiner Persönlichkeit? Ein »Erzähler« hilft nicht weiter, auch er kennt sich nicht mehr aus – so wie der Leser. Das hat der Verfasser beabsichtigt. Viele Erzählstränge treffen in der Tagebuchniederschrift zusammen. Eco liebt Absurditäten und Verwirrung, und der Leser genießt die Ironie seiner Sätze.

Dieser Roman lebt von Ideen, von echten Verschwörungstheorien über Katholiken (ganz besonders Jesuiten), über Freimaurer und Juden. Da wird konvertiert und rekonvertiert – stets zum persönlichen Vorteil. Das Buch liest sich oft wie ein Thriller. So manche Leiche versteckt Simonini in der Kloake unter dem Keller seines Trödlerladens.

Und er arbeitet an einer Schrift, die er irgendwann »Protokolle« nennt – das klingt amtlich, wirkt authentisch und wie belegt – er ist ja Notar. Hierfür beutet er seinen toten Großvater aus, Briefe, die der hinterlassen hatte. Und Dumas‘ Werke und eine geheim gedruckte Satire des Maurice Joly, gegen Napoleon III. gerichtet: Dialoge zwischen Machiavelli und Montesquieu in der Hölle. Neben Joly – den Eco von Simonini wie nebenbei umbringen läßt, weil er zu gefährlich wurde – tauchen immer mehr Autoren und ihre Lebensgeschichten auf. Figuren, die gelebt haben, die Eco gezielt in einen Zusammenhang bringt. Alle Fäden führen zu dem Fälscher Simonini, der absolut skrupellos ist: Mal arbeitet er für den französischen, mal für den russischen Geheimdienst, mal schreibt er – oder läßt schreiben – Pamphlete gegen die Jesuiten oder, wenn es gerade gebraucht wird, gegen die Freimaurer. Und verdient daran. Er zieht seinen Kopf aus jeder Schlinge. An Dumas geschult, verliebt er sich selbst in sein romantisch verklärtes antisemitisches »Protokoll«, das er schließlich für »die Russen« liefert. Es erscheint später – verändert. Auch der realexistierende preußische V-Mann Hermann Goedsche hatte seine Finger drin, er plagiierte Simoninis Kunstprodukt. Wieder andere schrieben, einer vom anderen, ab. Dabei hatte Simonini doch so viel Wert gelegt auf sozusagen authentische Fälschungen. Und so erscheinen im zaristischen Rußland an unterschiedlichen Orten Anfang des 20. Jahrhunderts jene Protokolle.

Der Traum seines Großvaters, er soll ihn verwirklichen: »O Gott, ein ganzes Volk auszurotten, zum Glück mußte ich es nicht selber tun, aber meinen bescheidenen Beitrag leistete ich gerade dazu.« Eine tödliche Ironie. Selbst in den literarischen Salons des 19. Jahrhunderts wurde in Gesprächen die Grundlage dafür gelegt. Eco zeigt, wie nebenbei, unterschwellig oder ganz offen der Antisemitismus beherrschend wird. Etwas, das weiterwirkt – siebzig Jahre nach der »Endlösung«, die in diesem Roman als zu verwirklichende Idee am Ende steht.

Wenn bei zwanzig Prozent der Deutschen antisemitisches Denken heute noch zu finden ist – wann hört das auf?
Monika Köhler

Umberto Eco: »Der Friedhof in Prag«, aus dem Italienischen übersetzt von Burkhart Kroeber, Hanser Verlag, 519 Seiten, 26 €



Fremde Heimat
Als 1928 die lediglich mit Seghers unterzeichnete Erzählung »Der Aufstand der Fischer von St. Barbara« überraschend mit dem renommierten Kleist-Preis ausgezeichnet werden sollte, stellte sich wohl nicht nur der Zeichner der Neuen Bücherschau unter dem Autor einen etwas grimmig blickenden, bärtigen Mann vor, denn die Sprache der Erzählung war herb und schnörkellos. Daß es dann eine attraktive junge Frau war, die sich den Vornamen »Anna« gab, erstaunte. Lange wurde sie jedoch Attribute wie herb und männlich nicht los. Noch als sie mit »Das siebte Kreuz«, »Transit« und den Meisterzählungen »Der Ausflug der toten Mädchen« oder »Crisanta« zur Weltelite zählte, bekam sie von einer kundigen Spezialistin die Kennzeichnung »die Frau mit dem männlichen Blick«.

Nun – nachdem es ausführliche Biographien und immer zahlreicher werdende Interpretationen ihrer Werke gibt – hat Monika Melchert ein vergleichsweise dünnes Buch über Anna Seghers’ erste Berliner Jahre nach der Rückkehr aus dem mexikanischen Exil geschrieben, angereichert mit einigen Vor- und Rückblenden. Die Seghers lebte, anders als all die Jahre zuvor, ohne Ehemann (der nachkommen wollte) und ohne Kinder (die in Paris studierten). Ihre Genossen meinten, sie überall zu brauchen, und so geriet sie mitten hinein in die völlig zerstörte Stadt mit den frierenden und hungernden Einwohnern und den auf raschen Aufbau orientierten Genossen. Oft fühlte sie sich fremd, Halt und Hilfe fand sie bei einigen wenigen alten Freund(inn)en.

Monika Melchert verfolgt sorgfältig die verschiedenen Spuren, die über Anna Seghers in dieser Zeit Auskunft geben: Briefe, Aussagen von Zeitgenossen, Zitate aus ihrem Werk. Und siehe: Wenn überhaupt die Legende vom »Männlichen« je gestimmt haben sollte, in diesen Jahren überhaupt nicht. Wie sehnte sie sich nach ihrem Mann und den Kindern! Wie gern hätte sie sich bei jemandem angelehnt! Wie sensibel reagierte sie auf die Fremdheit und Kälte der alten Heimat und so manches alten (und jungen) Genossen!

Es ist ein Buch voller Verständnis und Einfühlung. Freunde der Schriftstellerin können noch vertrauter mit »ihrer Anna« werden, und Neuleser finden einen besonderen Zugang. Zugleich ist es eine Interpretation von Monika Melchert – für mich bleibt Anna Seghers geheimnisvoll und nie ganz entschlüsselbar, deshalb ist für weitere Interpretationen noch genügend Raum und Zeit.
Christel Berger

Monika Melchert: »Heimkehr in ein kaltes Land. Anna Seghers in Berlin 1946–1952«, Verlag für Berlin-Brandenburg, 172 Seiten, 19,95 €



Walter Kaufmanns Lektüre
In Klaus Schlesingers Tagebucheintragung aus dem Jahr 1983 findet sich eine Selbsteinschätzung: »Ich bin alles halb. Halb Ost, halb West, halb Mieter, halb Besetzer, halb Schriftsteller, halb politischer Akteur, halb Familienvater, halb Alleinlebender.« Was Astrid Köhler in ihrer Biographie nicht bloß zu veranschaulichen versucht, womöglich hatte sie auch im Sinn, das alles gegen ihre Recherchen abzuwägen. Jedenfalls ist ein gut geschriebenes, gut gegliedertes Buch entstanden, ein Text, der trotz etlicher Wiederholungen seinen Sog beibehält.

»Würden Sie im Grunde alles noch einmal machen in Ihrem Leben?« wird Klaus Schlesinger am Ende gefragt, und ohne Wenn und Aber sagt er »Ja«. Er war sich selbst treu geblieben – seinen Freunden und (im weitesten Sinn) auch seinen Frauen, außer der, die aus Rachegefühlen das Gerücht in Umlauf brachte, er sei ein Zuträger der Staatssicherheit gewesen: Eine böse Verleumdung!

Offen im Leben wie in der Kunst war Klaus Schlesinger stets. Und gerade weil er in seiner Schaffenszeit immer wieder die DDR verlassen durfte – privilegiert? Ja, privilegiert! – blieb er dem Land seiner Herkunft zugetan, bestand er, als ihm ein längerer Aufenthalt in Westberlin genehmigt wurde, auf seiner Staatsangehörigkeit und seinen DDR-Paß. Also doch wohl mehr Ost als West!

Wo im geteilten Berlin hat Klaus Schlesinger sich nicht alles eingemietet, einmieten müssen oder wollen – wobei die Schilderungen seiner Jahre als Mieter zugleich auch bildhafte Milieuschilderungen hergeben. Er war – und im Grunde blieb er – der Junge aus der Berliner Dunckerstraße.

Die Selbsteinschätzung vom halben Schriftsteller und halben politischen Akteur erweist sich als so verkürzt wie die über Ost und West. Er war beides ganz, Schriftsteller und Akteur, der eine ergänzte den anderen. Das besagt das Buch, das einen ernsthaften, hart mit sich ringenden Schriftsteller beschreibt, der zunehmend an literarischer Sicherheit gewinnt, seinem Sujet entsprechende Stilmittel findet, Sinn und Form in Einklang zu bringen versteht – und lebhaften Anteil am Schaffen der Kollegen nimmt, sich stets bereit zeigt, für deren Belange in die Bresche zu springen: Reisefreiheit, Nöte mit der Zensur, Geldnöte ... Bei dem Versuch, eine von behördlicher Druckgenehmigung unabhängige Anthologie herauszugeben, wird er im Osten einiges riskieren, seinem Vorhaben aber nicht abtrünnig, als es scheitert. Durch die Welt reisend wird er seinen politischen Standpunkt festigen und gegen Anfechtungen verteidigen – links, wo das Herz ist! Auch dieser Haltung wegen wird nach dem Mauerfall sein Ausschluß (wie der der anderen) aus dem DDR-Schriftstellerverband rückgängig gemacht, wird die unselige Entscheidung aus den 1970er Jahren als Fehlentscheidung erklärt, und in diesem Abschnitt seines Lebens wird er mit der Befürwortung Friedrich Dieckmanns in die Berliner Akademie der Künste berufen. »Der Gerechte, der nichts von sich hermacht«, hat Dieckmann ihn genannt.

Halb Familienvater, halb Alleinlebender? Astrid Köhler beschreibt einen Vater mit innigem Verhältnis zu den Söhnen, der um sie bemüht blieb und auf sie Einfluß nahm, und schildert einen Mann, der nach der Scheidung von Bettina Wegner den absoluten Bruch nicht vollziehen, sondern den Weg zu einer neuen Zweisamkeit suchen wird – beide bleiben sich freundschaftlich verbunden. Sie wird ihm den Wunsch nach zeitweiligem Alleinleben nie abgesprochen haben, jenen Drang zur Freiheit und zum Abenteuer, der gut für sein Schreiben war. Aber auch jener scheinbare Widerspruch ist nachvollziehbar: Klaus Schlesinger wird ein dreimonatiges Stipendium in New York in dem Wissen ablehnen, schon nach wenigen Wochen vom Heimweh und der Sehnsucht nach der neuen Lebensgefährtin bedrängt zu werden. Der Leser wird den Familienvater gegen den Alleinlebenden abzuwägen verstehen.
Und was ihn vornehmlich bestechen wird an diesem Buch, ist, daß es einen Schriftsteller in seiner Zeit zeigt, mit all den Konflikten, Siegen und Niederlagen, Sehnsüchten, Hoffnungen und Enttäuschungen eben dieser Zeit.
W. K.
Astrid Köhler: »Klaus Schlesinger. Die Biographie«, Aufbau Verlag, 394 Seiten, 26,99 €


An die Lokalpresse
Die Presse und die Oppositionsparteien sollten mit der Hetze gegen den Bundespräsidenten aufhören! Wie lange will man denn noch mit dem Wulff tanzen! Er ist doch auch nur ein Mensch! Und es gibt doch noch andere wichtige Themen, so die Trennung Kai Wiesingers von seiner Chantal oder die unwürdige Käfighaltung niedersächsischer Legehennen. Und wer hätte sonst die Rede zum 300. Geburtstag vom Alten Fritz halten sollen, wenn nicht der Christian! Beide waren doch irgendwie schlitzohrig, haben herumgeflunkert und sich gern herumgestritten, der König mit dem Voltaire und der Präsident mit der Bild-Zeitung! Da trägt doch jeder sein »Friederisiko«! Und gerade der alte Fritz hat sich dafür ausgesprochen, daß jeder nach seiner Façon selig werden soll. Und die Bettina soll sich endlich wieder in Ruhe um ihre Stiftungen kümmern können und den eigenen Kindern beibringen, wie man sich beim Schwimmen über Wasser hält! Jeder weiß doch selber, wie wichtig das ist in unseren Tagen. – Paula Brachvogel (63), Au-pair-Mädchen, 39240 Tippelskirchen
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Wenn das Ende einer Jahreszeit in Sicht gerät, versucht der Handel, die Waren der auslaufenden Saison zu günstigen Bedingungen zu verschleudern, damit sie nicht zu Ladenhütern werden. Ganz deutlich ist das bei Textilien und bei Schuhen. Also: Wie die Stichflammen ran an die Wühltische! Oder wenn beim Auto eine bestimmte Serie ausläuft und noch aufs Pflaster gebracht werden soll, gibt’s satte Rabatte. Sowas läßt man sich nicht entgehen! So haben sicher auch die Frauen gedacht, die sich ihre Brüste mit französischen Implantaten auffüllen ließen. Und jetzt haben sie den Salat; denn die Kissen waren mit Silikon gefüllt, das eigentlich bei der Matratzenherstellung verwendet wird, und sie haben sich im wahrsten Sinne des Wortes als Auslaufmodelle erwiesen! Was soll der Konsument daraus lernen? Auslaufmodelle ja, aber nicht um jeden Preis! – Annebritt Schneider (32), Restauratorin, 14712 Rathenow
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Heute macht die Presse wieda mal een jroßet Jeschrei üba die Bespitzlung der Linken durch den Verfassungsschutz. Aber Leute, bleibt doch uffn Teppich! Det is doch nischt Neuet! Det war doch schon imma so! Zujejeben, et is schon een bißken komisch, detse sojar die rotköpfije Vizechefin vom Bundestach int Visier jenomm` haben! Eijentlich is doch der Bundestach det Kontrollorjan von die jeheimen Dienste un nich umjekehrt. Aba jut, lassen wa det mal beiseite. Die Beobachtung der Rechten hat ja ooch so jut wie nischt jebracht, obwohl die einjeschleusten V-Leute selber kräftich mitjemischt haben bei die Aktionen! Den`n is det wahrscheinlich jar nich uffjefall`n, detset da mit Neonazis ze tun hatten! Und die Akten, die der Verfassungsschutz über die Linken anjeleecht hat, stimm` ja ooch nich! Über den Gehrcke hamse 5000 Seiten jeschrie`m, aba im Jeburtsdatum hamse sich doch vajriffen! So stehts jedenfalls im neuen deutschland. Aba vielleicht is det `ne janz raffinierte Taktik, weil, die Linken soll`n selber nich mehr jenau wissen, wann se aus welchem Ei jekrochen sind! Übrijens, wenn det wirklich so kommt, daß die Jeheimbehörden uffjelöst wer’n, ick gloobs ja nich, aber anjenomm`, denn wird doch ooch der Riesenkomplex in de Chausseestraße jar nich jebraucht! Da könnse doch een noblet Obdachlosenheim draus machen, un wat für eens! – Kalle Kaffjorke (62), Kehrmaschinen-Fahrer, 13593 Berlin-Pichelsdorf
Wolfgang Helfritsch