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Titel032013

Bemerkungen

Keine Schicksalsstunde
Die Niedersachsen haben es hinter sich: Die »bundespolitische Richtungswahl«, die »Schicksalsstunde«, die »Weichenstellung für den Herbst«, wozu die Medien fast durchweg ein keineswegs weltbewegendes landespolitisches Ereignis aufzublasen bemüht waren. Ob im Schloß an der Leine ein CDU- oder ein SPD-Landesvater residiert, hat kaum Einfluß auf die politische Entwicklung in der Bundesrepublik insgesamt, anders als es der Slogan »Hannover gibt die Richtung für Berlin vor« (N24) suggeriert. Auf die Kräfteverhältnisse im Bundesrat wird verwiesen – aber dieses Verfassungsorgan ist nicht der Ort für umstürzlerische Aktionen. Die CDU hat einige Prozente verloren, kein Drama, sie befinden sich als Leihgabe bei der FDP. Stärkste Partei ist die CDU geblieben, es fehlt ihr nur ein Mandat zum Regieren. Die SPD hat ein bißchen dazugewonnen, und nun kann sie den Ministerpräsidenten stellen, aber dadurch ist Angela Merkel nicht bedroht. Von einem »Aufbruch« der Sozialdemokraten mit Steinbrück als Anführer kann keine Rede sein. Die Grünen haben sich auch in Niedersachsen gutbürgerlich ausgedehnt, das liegt im Trend. Und Linkspartei sowie Piraten sind abgestraft worden, kein Wunder, wenn man ihren inneren Zustand bedenkt. Die niedersächsische Landtagswahl hat nicht einmal über das Schicksal des FDP-Bundesvorsitzenden entschieden. Rund 40 Prozent der Wahlberechtigten fanden die ganze Affäre nicht so wichtig, sie behielten ihre Stimme. Verstehen kann man das, aber erreicht haben sie damit auch nichts. Einst wurde mit Hilfe eines inzwischen nicht mehr so gern genannten Finanz-»Dienstleisters« bei einer niedersächsischen Landtagswahl für Gerhard Schröder und seine SPD mit dem Spruch geworben: »Ein Niedersachse muß Kanzler werden.« Das trug dazu bei, den Konkurrenten um die Kanzlerkandidatur in der eigenen Partei zu verdrängen, und Schröder gelangte dann tatsächlich von Hannover aus nach Berlin. Aber Steinbrück ist kein Niedersachse, und der bisherige Oberbürgermeister von Hannover hat keine Kanzlerambitionen, er muß froh sein, wenn seine knappste Regierungsmehrheit mit einiger Dauer zusammenhält.

A. K.


Frackingbotschaft vom BND
Endlich mal eine erfreuliche Entdeckung des Bundesnachrichtendienstes (BND): Die Vereinigten Staaten von Amerika sind in Zukunft nicht mehr gezwungen, im Nahen Osten oder in anderen ölreichen Regionen den Kampf gegen Terroristen und Despoten zu führen, Regimewechsel zu organisieren und Militärbasen zu unterhalten, sie können sich behaglich im eigenen Terrain einrichten. Und doch nach Herzenslust Energie verbrauchen. Fracking macht es möglich. Eine vertrauliche BND-Studie habe herausgefunden, meldete Spiegel online – und andere Medien griffen es begierig auf –, daß aus dem Boden der USA riesige Mengen der neu in den Blick gekommenen Erdgassorte herauszuholen seien. Das verändere völlig die globale geopolitische Lage.

Die USA würden nun energiewirtschaftlich autark, Rußland als Exportnation werde geschwächt, die Bundesrepublik aber könne in Zukunft genug billiges Öl aus der Golfgegend ankaufen. Über die Umweltschäden beim Fracking machen sich die BND-Experten keine Gedanken, dafür sind sie nicht zuständig. Aber wie sind die geheimdienstlichen Experten zu ihren sensationellen Erkenntnissen gekommen? Vermutlich hat einer von ihnen in US-amerikanische Zeitungen oder Fernsehsendungen hineingeschaut. Dort spielt sich seit Monaten ein heftiger Meinungsstreit über Chancen und Gefahren des Frackings ab. Und die einschlägig tätigen Unternehmen mischen kräftig mit. Im Kleinformat gilt das auch für die Bundesrepublik: Bürgerinitiativen formieren sich, einige Gemeinden wollen sich dem Fracking versperren, Bundesländer stehen vor der Frage, unter welchen Bedingungen sie dieses Verfahren zulassen sollen. Ob da jemand dem BND einen Wink gegeben hat, zwecks Wirtschaftsförderung?
Peter Söhren


Freiheitskampf
»Gasfeld befreit, ... Menschen tot« überschreibt Spiegel online seine Meldung über das Gemetzel um eine BP-Förderanlage in der algerischen Wüste, wobei in dem Bericht die Zahl der Toten aktualisiert wird, nach oben hin. »Blutig« sei diese »Bilanz«, meinen die meisten Kommentatoren aus Politik und Medien, aber eben doch ein notwendiges »Signal« für die Entschlossenheit im »Kampf gegen den Terrorismus«. Befreit wurde also das Erdgas, dessen ungestörte geschäftliche Verwendung. Dem Börsenkurs des internationalen Konzerns Beyond Petroleum wird das guttun. An Blutspuren ist das Unternehmen, British Petroleum hieß es früher, aus seiner langen Geschichte gewöhnt.
M. W.


Meinungsfreiheit
Der Presse war zu entnehmen, es »werden 3300 Grenzschützer in Saudi-Arabien durch die Bundespolizei ausgebildet, was den deutschen Steuerzahler jährlich eine Million Euro kostet. Das Projekt ist auf fünf Jahre ausgelegt.« Der Fraktionsvorsitzende der FDP teilt dazu auf Anfrage mit: »Das ... Abkommen zur Ausbildung von Grenzschützern in Saudi-Arabien durch die Bundespolizei ist noch von der Koalition aus CDU/CSU und SPD, also dem damaligen Innenminister Wolfgang Schäuble und dem damaligen Außenminister Frank-Walter Steinmeier, ausgehandelt worden.« Die schwarzgelbe Regierung will jetzt Panzerwagen nach Saudi-Arabien verkaufen. Gegen eine solche Lieferung spricht sich die SPD aus. Gernot Erler tut das, der ehemals Steinmeiers Staatssekretär war. Und der »SPD-Verteidigungspolitiker« Hans-Peter Bartels tut das, weil Saudi-Arabien in bezug auf Demokratie, Menschenrechte und Korruption ein »extrem schmutziges Land« ist. Sigmar Gabriel spricht von einem »unerträglichen Skandal«. Womöglich müssen die Saudis nun auf die Panzerwagen warten, bis die SPD mal wieder in der Regierung sitzt.
Günter Krone


Hollande, Trittin im Gefolge
Mali soll Kriegsgewinne bringen: Der französische Staat führt seine »militärischen Fähigkeiten« im westafrikanischen Terrain jetzt demonstrativ vor. Deutsche Politiker versprechen »volle politische Unterstützung«. Dreist wird im Fall Mali über die geopolitischen Realitäten hinweggetäuscht. Bombenflugzeuge und Bodentruppen – die »Große Nation« schlägt zu in »Französisch-Afrika«, ihrem ehemaligen Kolonialgebiet. Der regierungsoffiziellen Aussage nach: Um Menschenrechte und Demokratie in Mali vor »Gotteskriegern« zu retten, und vor allem, um nicht nur Frankreich, sondern gleich »ganz Europa« vor einem »Ansturm der Terroristen« zu schützen. Mali, sagt bestätigend der deutsche Außenminister, liege ja »vor der Haustür« der Europäer. »Konsequent und richtig« nennt der deutsche Militärminister die »Operation Serval«. Der Name klingt hierzulande vertraut, denn »Serval« heißt auch das Kampffahrzeug, mit dem Rheinmetall seine Kunden ausstattet. »Anteilnahme« sicherte Thomas de Maizière im FAZ-Interview »den Opfern unserer französischen Kameraden« zu, er meint damit Opfer unter den Soldaten Frankreichs, nicht etwa Opfer des Einsatzes derselben. Noch nicht geklärt ist, wie die deutsche Teilnahme an diesem Feldzug im einzelnen ausgestaltet wird, je nach Kriegsablauf wird dafür auch der Bundestag noch heranzuziehen sein. Besonders forsch gibt sich der Spitzenmann der grünen Partei, er hat keinen Zweifel an der Förderungswürdigkeit des französischen Militärunternehmens, und Entschlossenheit macht sich gut, wenn einer Vizekanzler werden will. Fast ausnahmslos wird die Intervention in Mali hierzulande als ein erfreulicher Akt politischer Uneigennützigkeit dargestellt.

Hingegen verdecken Politiker und Medien (ganz überwiegend) jene Tatbestände, die den Konflikt in seinen realen Herkünften und Antrieben erkennbar machen: Mali ist in seinen gegenwärtigen wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen ein Resultat kolonialer Geschichte und anhaltender postkolonialer Ausbeutung. Die Bevölkerungsmehrheit dort lebt in extremer Verarmung, aber das Land ist eine Goldgrube für externe Geschäftsbetreiber, nicht nur als drittgrößter Lieferant in Afrika für das Edelmetall selbst, auch als begehrtes Fundterrain für Bodenschätze, Uran, Phosphate, Kupfer, Bauxit, Erdöl und Erdgas. Die Konkurrenz der Konzerne um diese Ressourcen ist heftig, selbstverständlich bedarf sie politisch-militärischer Begleitung, und verhindert werden soll jede Entwicklung, die langfristig so etwas wie ökonomische Souveränität bedeuten könnte.

Die »Gotteskrieger« wiederum, die angeblich ganz Europa in Gefahr bringen, sind Geschöpfe machttaktischer Geopolitik »westlichen« Formates, freilich leicht außer Kontrolle geratend, fallweise unterstützt von muslimischen Feudalherren, die als Partner der NATO gelten – eine verwirrende Gemengelage aus wirtschaftlichen Herrschaftsinteressen, Schachzügen im Kampf um politischen Geländegewinn, Eigenmächtigkeiten einzelner Warlords und Verselbständigung religiös sich gebender Ideologien. Eindeutig ist nur: Bei alledem werden massenhaft »Kollateralschäden« in Kauf genommen. Hunger und Tod treffen nicht die Firmenzentralen und die politisch-militärischen Führungsstäbe fernab von Mali und dessen Nachbarländern.

Als Kriegsgewinnler kann sich schon jetzt der französische Präsident fühlen. Vor seiner Wahl, ist in der FAZ zu lesen, habe er sich »bei Linkssympathisanten mit antimilitaristischen Tönen eingeschmeichelt«, nun aber in einen »entschlossenen Kriegsherrn verwandelt«. Das werde ihm Respekt verschaffen, bei innenpolitischen Gegnern, und Frankreich stehe nun wieder im Glanz seiner militärischen Tradition da, die Intervention »im afrikanischen Hinterhof« zahle sich aus. Und wenn solcherart Weltpolitik in den Hinterhöfen Kleingewerbetreibende in der Gewaltbranche hervorbringt, Terroristen genannt, ist der Schuldige schnell zu finden – »der Moslem« ist es, als solcher, er neigt zur Gewalt.
A. K.


Transformation
Unter deutschen Journalisten geht Angst um, der Arbeitsplatz ist prekär, immer mehr Redaktionen werden verschlankt oder gleich ganz wegrationalisiert. Das bringt Streß, so auch jetzt, wo Kommentare zur »Rettung Europas« geschrieben werden mußten, zum Militärschlag in Mali also. Da wird Expertise gebraucht, und so liegt es nahe, sich auf Erkenntnisse einer Denkfabrik zu berufen, in Gütersloh ist eine solche angesiedelt. Die Bertelsmann-Stiftung hat seit Jahren eine thematische Vorliebe für das Maliland. In ihrem »Transformationsindex« stand es längere Zeit auf einem Spitzenplatz, der Weg »zu Demokratie und Marktwirtschaft« werde dort besonders erfolgreich gegangen. Diese Beschreibung erwies sich als etwas leichtfertig. Zwar kam die Privatisierung öffentlichen Eigentums in Gang, auch die Vergabe von Explorationsrechten an ausländische Firmen, aber das rief Unruhen hervor. Die große Mehrheit der Bevölkerung im Bertelsmann-Musterstaat wurde immer ärmer. Im Norden Malis rebellierten die Tuareg, soziales Elend bot dort bewaffneten islamistischen Kleingruppen günstigen Boden, es setzte Binnenflucht in großem Maßstab ein. Im Süden Malis spielten sich putschistische Konkurrenzen in der einheimischen statthaltenden Elite ab, die Interessen der französischen »Schutzmacht« gerieten ins Unsichere. Hinzu kamen unerwünschte Folgen des Regimewechsels in Libyen. Den Krieg gegen Gaddafi hatte Frankreich in Gang gesetzt, um nicht gestört zu werden in seinem Anspruch, ehemals koloniale Herrschaft in Westafrika in neokolonialen Formen fortzusetzen. Nun brachte die Zerstörung des libyschen Staates Turbulenzen in südlich gelegene Länder. So schlug die Stunde des kriegerischen Zugriffs, und die Experten versichern uns, mit »markt«-wirtschaftlichen Interessen und staatlicher Fürsorge für private Unternehmen, in diesem Fall französische, habe der Einsatz von Militär nichts zu tun, Demokratie sei in einer solchen Weltgegend vermutlich auch nicht realisierbar, jetzt müsse die Abwehrschlacht gegen den Islamismus geführt werden. Einige hundert orientalische Legionäre, mal von diesem, mal von jenem Auftraggeber bezahlt, bedrohen das gesamte Abendland. In diesem Fall terminlich passend, denn die »militärische Konsolidierung« der Region, in der Mali liegt, war schon vorbereitet, unter französischer Regie. In Gütersloh wird man auch für diese neue Phase der Transformation eine wohlklingende, Plumpheit vermeidende Beschreibung zustandebringen, wozu sonst werden denn Wissenschaftler bezahlt.
Peter Söhren


Neujahrsansprachen
finden nicht immer die gewünschte Aufmerksamkeit. Zeichnen sich die Betrachtungen der PolitikerInnen doch durch verzichtbare Appelle, Leerstellen, Schönfärberei und Banalitäten aus. Dieses Mal fiel auf, daß die Bundeskanzlerin versuchte, ihre Untertanen auf die Folgen der von ihr mitgemanagten und mitverschuldeten Finanz- und Wirtschaftkrise einzustimmen. Zuversichtlich stimmen sollte da ein Zitat aus dem nur in Bruchstücken überlieferten Werk des antiken Materialisten Demokritos (s. »Die Fragmente der Vorsokratiker«, griechisch und deutsch von Hermann Diels, hg. von Walther Kranz, 16. Auflage, Dublin/Zürich 1972, Band 2, Seite 201, Nr. 269). Bei Angela Merkel beziehungsweise ihren Redeschreibern lautet der Text wie folgt: »Mut steht am Anfang des Handelns, Glück am Ende.« Die Ähnlichkeit mit unserem – leicht zu widerlegenden – Sprichwort »Jeder ist seines Glückes Schmied« liegt nahe. Die Worte des in der zweiten Hälfte des fünften Jahrhunderts v. u. Z. wirkenden griechischen Philosophen lassen sich aber auch etwas anders – aktueller, realistischer – verstehen: »Handeln beginnt mit Risiko; über das Resultat (des Handelns) entscheidet der Zufall.«
Wolfgang O. Schmitt


Unwort des Jahres in Portugal
Zum Unwort des Jahres 2012 hat der Lehr- und Wörterbuchverlag Porto Editora das Wort »entroikado« erklärt, das in der Übersetzung etwa »getroikert« heißt. Portugal, das seit 2011 unter den harten Spartauflagen der Troika aus Europäischer Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds lebt, hat seinen Humor damit wiederentdeckt. Ein neues portugiesisches Kartenspiel heißt »Vem aí a Troika« – »Die Troika kommt«.
khw


Bruder Betto
Am 11. Januar sprach die Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO) den zweijährlich verliehenen »Premio José Martí« einem der bedeutendsten lateinamerikanischen Intellektuellen zu. Der brasilianische Dominikaner und Exponent der Befreiungstheologie Carlos Alberto Libânio Christo, bekannter als Frei Betto (»Bruder Betto«), wird die Auszeichnung am 30. Januar in Havanna entgegennehmen. Die Ehrung gebührt laut UNESCO seinem lebenslangen »Beitrag für eine globale Friedenskultur, für die soziale Gerechtigkeit und die Menschenrechte in Lateinamerika und in der Karibik«. Sie gebührt aber vor allem Frei Bettos Bedeutung für die gesellschaftliche Entwicklung und Integration derjenigen Staaten, die sich von der imperialistischen Bevormundung seitens der USA gelöst haben und heute auf die Integration Lateinamerikas hinarbeiten.

Frei Betto (69) ist Autor von 53 vielfach übersetzten und prämierten Büchern, darunter die unter der Militärdiktatur trotz Folter und Zensur entstandenen »Briefe aus dem Gefängnis« und »Bluttaufe«. Als Berater und Mentor begleitete Bruder Betto den sozialistischen Aufbau in Kuba, später, als Regierungsmitglied, die ersten Schritte des brasilianischen Präsidenten Lula. Im vornehmlich katholischen Lateinamerika und als einer der Initiatoren der Befreiungstheologie hat Frei Betto die Gemeinsamkeiten christlicher und sozialistischer Denkweise und Zielsetzung gegen allen Widerstand aus Rom verteidigt, das Evangelium als Erlösung von Armut und Unterdrückung, als Absage an die traditionelle Verquickung von Kirche und Kapital: »Die kubanische Revolution ist für mich Teil des Evangeliums.« Im Gegensatz zum in Europa eingerissenen Brauch sinnverkehrender Preisverleihung – man denke nur an den Ludwig-Börne-Preis oder den Friedensnobelpreis – entsprach die Jury der UNESCO dem Vermächtnis von José Martí und dem Stiftungsauftrag der Regierung Kubas, die diese Auszeichnung 1994 den Vereinten Nationen vorgeschlagen hatte. José Julián Martí Pérez (1853–1895) war kubanischer Schriftsteller, Journalist und Philosoph, vor allem Vorkämpfer eines nationalen Selbstverständnisses Kubas und damit der Unabhängigkeit von Spanien und der Solidarität des lateinischen Amerikas. Er schrieb die Verse der »Guantanamera«, des wohl populärsten kubanischen Liedes, und er war in seinem kurzen Leben der »hombre sincero de donde crece la palma«, der »Aufrichtige von dort, wo die Palme wächst«, der »mit den Ärmsten der Erde sein Schicksal teilen will«. José Martí fiel 1895 in den Auseinandersetzungen mit der Kolonialmacht, die erst drei Jahre später mit dem Eingreifen der USA – und deren neuerlicher Unterjochung Kubas – zu Ende gingen. Frei Betto hat die Verfolgung überlebt. Als Aufrichtiger. Und er teilt sein Schicksal mit den Ärmsten der Erde.
Wolf Gauer


Zwischen Be- und Verwunderung
Zu den editorischen Ereignissen der letzten Zeit gehört die Neuherausgabe eines Buches, das vor 77 Jahren in Straßburg gedruckt wurde und dann auf den französischen Markt gelangte. Autor des Buches ist der 1933 aus Deutschland emigrierte Journalist Maximilian Scheer. Er unterzog sich, unterstützt von zwei Mitarbeitern, einer wahren Kärrnerarbeit. Das geschah mit dem Vorsatz, zweierlei zu bewirken: die Aufklärung der Öffentlichkeit über das in Deutschland herrschende Terrorregime und eine Mobilisierung jenseits der deutschen Grenzen durch den Nachweis, daß die vor keinem Verbrechen zurückschreckenden Machthaber mit dem Hakenkreuz auf Krieg und Eroberung ausgingen und in Europa niemand länger glauben solle, er könnte davon nicht betroffen sein.

Gestützt auf Informationen von Emigranten, fußend auf einer Durchmusterung der Zeitschriften und Zeitungen, die in Deutschland unter nazistischer Regie erschienen, der Auswertung von Rundschreiben der Nazi-Organisationen, amtlichen Statistiken und Gesetzen wird ein Bild von den Verfolgungen aller Regimegegner ausgebreitet, das den Zeitraum bis in das Frühjahr 1936 in den Blick nimmt. Aufgelistet werden die Zahlen der Inhaftierten in Gefängnissen, Zuchthäusern und Konzentrationslagern, namentlich genannt werden die Hingerichteten und die in Todeszellen auf ihre Ermordung Wartenden, die Drangsalierungen, die auch Frauen und selbst Kinder nicht verschonen. Dazu die in wilden Aktionen der SA und bei Folterungen Umgebrachten, an Herzversagen Gestorbenen und diejenigen, die keinen anderen Ausweg sahen, als in den Freitod zu fliehen. Lange Namenslisten reihen die von ihren Arbeitsplätzen vertriebenen und in Scharen ins Exil gezwungenen Wissenschaftler auf. Erfaßt sind die verbotenen oder geraubten Zeitungen der Arbeiter- und der bürgerlichen Presse. Geliefert wird die Bilanz eines weiter wütenden Schreckensregimes. Deren Veröffentlichung erledigt auch die aktuell in der Bundesrepublik herumgeisternde Legende von der »Konsens- und Wohlfühldiktatur«. Soweit die Bewunderung für das Werk Scheers, der sich 1940 mit seiner Familie aus Frankreich via Portugal in die USA retten konnte und von dort 1947 nach Deutschland und in die sowjetische Besatzungszone kam, wo er bis zu seinem Tode als Journalist, Redakteur bei Presse und Rundfunk, dann als freischaffender Schriftsteller und weltweit als Reisereporter arbeitete und sich weiteres Verdienst erwarb.

Die Verwunderung verursacht das Gesamtbild von diesem deutschen Staat des Jahres 1936, zu dem die Auswahl der Tatsachen zusammengeführt wird, die im einzelnen freilich auf ihre Rich­tigkeit – von Vollständigkeit kann ohne­hin die Rede nicht sein – zu überprüfen wären. Nach dieser Totale gab es in Deutschland die Machthaber, ihren Klüngel und ihre Büttel, Hunderttau­sende aktive Nazigegner und eine das Regime ablehnende, dumpf grollende Bevölkerungsmasse. Wie und warum dieses Zerrbild zustande kam, läßt sich vermuten. Will man es nicht als bloßes Wunschbild abtun, dann läßt es sich als das Resultat fehlender Informationen und womöglich der guten Absicht erklä­ren, im Ausland Sympathie und Solidari­tät für die Widerstandskräfte zu bewirken. Doch auch das entschlüsselt nicht, wie angesichts des Abstimmungser­gebnisses vom Januar 1935 im Saargebiet nicht von den 90 Prozent geredet wird, die »Nix wie hem« wollten, sondern von den »unbewegten Gesichtern nach der Saarabstimmung«. Wozu aus einem Bericht zitiert wird: »Der Arbeiter trägt vor dem Gesicht jene starre Maske, die überhaupt für den deutschen Menschen so bezeichnend geworden ist.« Da fallen einem Bilder von Zehntausenden beim Reichsbauerntag auf dem Bücke­berg und bei anderen Kundgebungen Zusammenströmenden ein, die nicht zusammenbefohlen wur­den. Nein, dies und schon der Titel des Bandes verfehlen die Tatsache, daß sich das Regime in kürzerer Zeit als das ita­lienische eine Massenbasis hatte schaf­fen können, die ohne Terror so nicht hätte zustande kommen können, aber die es eben doch funktionsfähig formiert hatte. Merkwürdig, daß in den Vorworten von Lionel Richard und Katharina Schlieper darüber kein Wort verloren wird.
Kurt Pätzold

Maximilian Scheer: »Das deutsche Volk klagt an. Hitlers Krieg gegen die Friedenskämpfer in Deutschland. Ein Tatsachenbericht«, erweiterter Reprint der Originalausgabe von 1936 aus dem Pariser Exil, Laika Verlag, 405 S., 24,90 €



Nicht Gekanntes, nicht Genanntes
Ihre Mitmenschen erschreckte die Bürgertochter Else Lasker-Schüler durch unbürgerliche Eskapaden. Kafka nannte sie ein »Schreckgespenst«. Besser kamen Bekannte, Freunde und Geliebte mit der Frau zurecht – von Benn über Hille, Kraus und Kerr bis Zech, einschließlich Herwarth Walden, mit dem Lasker-Schüler zeitweise Haus und Bett teilte. Die Genannten sitzen im Band »Die kreisende Weltfabrik« am Tisch der Essayistin. Gesuchtes und Gefundenes ist in diesem Buch versammelt, dessen Inhalt korrekt mit »Berliner Ansichten und Porträts« umschrieben ist. Die Herausgeberin Heidrun Loeper hat Texte ausgewählt, die zumeist Skizzen aus dem Alltag sind. Alles ist Anregung fürs Denken, Nachdenken, Überdenken. Eigene Marotten und die der sie Umgebenden reizten Lasker-Schüler immer wieder zu knappen Bemerkungen. Bisweilen ist die Schreiberin spöttisch oder sarkastisch. Sie schaut in andere Menschenseelen, ohne sie zu sezieren. Selbst oft eine Verletzte, hat ihre Annäherung etwas mit Abstandhalten zu tun. Lasker-Schüler ermittelt für sich und ihre Leser, um Überraschendes, Unerwartetes zu erkennen. Nicht Gekanntes, nicht Genanntes aus dem Berlin vor 100 Jahren schimmert auf.
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Ran an den Band! Er ist etwas für alle Generationen. Für alle, die gelegentlich gern ins Museum gehen – ins Literaturmuseum. Vor allem in das der deutschsprachigen Worthäcksler. Die Rede ist von Rühmkorfs Reden »Über Kollegen«, die in dem Band »In meinen Kopf passen viele Widersprüche« gebündelt sind.

Peter Rühmkorf war ein Hemmungsloser, der nicht heucheln konnte. Er war kein krummer Geselle, der kroch. Er war ein kraftvoller Kritiker, der blitzschnell gepriesenen Koryphäen des Geistes, der Kunst, der Kultur ... eine Kopfnuß verpassen konnte. Seine Sicht auf die Schreiberei und die Schreiber ließ er sich nicht vernebeln oder durch Weihrauch parfümieren. Rühmkorf ist vergnüglich zu lesen. Er läßt schmunzeln. Auch, wenn’s verbale Ohrfeigen gibt. Locker bleiben! Peter Rühmkorf brachte die Literatur nie in Verruf. Er war ein verliebter Verteidiger der Literatur. Schon der Werner-Riegel-Essay ist es wert, empfohlen zu werden wie der gesamte Band.
Bernd Heimberger

Else Lasker-Schüler: »Die kreisende Weltfabrik. Berliner Ansichten und Porträts«, Hrsg., Nachwort Heidrun Loeper, Transit Buchverlag, 128 Seiten, 14,80 €; Peter Rühmkorf: »In meinen Kopf passen viele Widersprüche. Über Kollegen«, hg. von Susanne Fischer und Stephan Opitz, mit Dichterporträts von F. W. Bernstein, Wallstein Verlag, 368 Seiten, 24,90 €

Bernd Heimberger, der Hunderte Rezensionen für Ossietzky geschrieben hat, lebt nicht mehr. Er öffnete Wege zur Literatur und fand in den Büchern Wege zu Menschen. So verhalf er uns zu bleibenden Bekanntschaften, auch Freundschaften. Dafür sei ihm gedankt. Red.



Zuschriften an die Lokalpresse
Bei meiner täglichen Presseschau kam mir eine alte Lebensweisheit meiner guten Großmutter wieder in den Sinn: Man müsse aus der Not eine Tugend machen. Ihr blieb in den 1940er Jahren wohl auch nichts anderes übrig. Aber auch in unseren Zeiten sollte man sich ab und zu mal daran erinnern. Manchmal kann man dabei sogar drei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Da lese ich doch, daß sich die wiederangesiedelten Wölfe – nein, ich meine nicht die Banker, sondern die Vorfahren unserer Schoßhunde – in Brandenburg breit und breiter machen und sich im Spreewald in Rudeln auf Unschuldslämmer und Gewürzgurken stürzen. Noch mehr Aufmerksamkeit widmet die Presse dem BER-Debakel, also der wiederholten Verschiebung des Eröffnungstermins, der Kostenexplosion und dem Fiasko der verhinderten Gewerbebetreiber des bekanntesten Großflughafenprojekts der Welt. Ich wage da mal einen Vorschlag, um den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben: Vielleicht sollte man langfristig Wolfsgehege auf dem lärmfreien Flugfeld einrichten, die Vermehrung und Erziehung der Räuber unter Kontrolle bringen und den verhinderten Geschäftsinhabern von der Agentur für Arbeit bezuschußte Umschulungen als Tiertrainer und Wolfspfleger anbieten. Die Gründung einer BER-Wildtierholding unter der Leitung von Ex-Pilot und Ex-Lokführer Hartmut Mehdorn, der sich gerade von Air Berlin verabschiedet hat, wäre ein Personalvorschlag, der sich in diesem Zusammenhang geradezu aufdrängt. – Wolfdietrich Isegrimm (47), Koordinator und Logistiker, 38448 Wolfsburg
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Wie das neue deutschland und die Lausitzer Rundschau im vergangenen Monat berichteten, ist in Hoyerswerda ein junges Paar, das Nazi-Aufkleber beseitigt hatte, von Nazis bedroht worden. Die Nazis grölten rechte Parolen, beleidigten das Paar und drohten damit, die Wohnungstür aufzubrechen. Die alarmierte Polizei erklärte ihre Unfähigkeit, den dauerhaften Schutz der Bedrohten zu sichern, half ihnen jedoch beim Umzug an einen unbekannten Ort. Eine überregionale Zeitung bezeichnete die Polizei daraufhin als »Freund und Umzugshelfer«. Auf Grund des Protestes der Bevölkerung kündigten die Behörden an, nunmehr »hart« zu reagieren. Landespolizeipräsident Rainer Kann erklärte: »Wir werden den Rechten auf den Füßen stehen!« Das halte ich für eine gute Lösung! Dann können die Rechten nicht aus Hoyerswerda weg, und das bedrohte Paar und andere Nazigegner können sich in Ruhe irgendwo verstecken. – Selma Kluge (63), Praktikantin, 55743 Hintertiefenbach
Wolfgang Helfritsch