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Titel032014

Willy Brandt als Hoffnungsträger  (Wolfgang Bittner)

Vielen Älteren ist die kurze Epoche des Politikwechsels nach der bleiernen Zeit mit den Bundeskanzlern Adenauer, Erhard und Kiesinger noch in Erinnerung. Exponent dieses politischen Frühlings in Deutschland war zweifellos Willy Brandt, Kanzler der Bundesrepublik von 1969 bis 1974, der am 18. Dezember 2013 hundert Jahre alt geworden wäre. Unehelich als Herbert Frahm geboren und schon früh politisch aktiv, flüchtete er 1933 vor dem Hitler-Faschismus nach Norwegen, wo er sich neben einem Studium der Geschichte und journalistischer Tätigkeit weiterhin politisch betätigte, jetzt unter dem angenommenen Namen Willy Brandt.

Anläßlich des Geburtstagsjubiläums sind mehrere Bücher über Brandt erschienen, unter denen das seines Mitarbeiters und Weggefährten Albrecht Müller wohltuend hervorsticht: »Brandt aktuell – Treibjagd auf einen Hoffnungsträger«. Der Autor war Planungschef im Bundeskanzleramt unter den Kanzlern Brandt und Schmidt, 1972 Organisator des Wahlkampfes für Brandt, von 1987 bis 1994 dann für die SPD Mitglied des Deutschen Bundestages. 2003 gründete er zusammen mit Wolfgang Lieb (Regierungssprecher und Staatssekretär unter Ministerpräsident Johannes Rau) die NachDenkSeiten, einer der meistgelesenen politischen Blogs in Deutschland.

Albrecht Müller schreibt aus genauer Kenntnis der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse der vergangenen Jahrzehnte – aus dem inneren Kreis heraus – von einer Treibjagd gegen Willy Brandt, und er belegt das mit zahlreichen stichhaltigen Berichten und Dokumenten. Es ist erschütternd, was da an Bösartigkeiten, Verleumdungen und Denunziationen zum Vorschein kommt: Ein Wust von unvorstellbaren Gemeinheiten und Schmutzattacken, der die landläufige Ansicht von der Politik als schmutzigem Geschäft leider bestätigt.

Nicht nur seine Emigration wurde Brandt in perfider Weise vorgehalten, sondern auch seine uneheliche Geburt. Von Wirtschaft und Innenpolitik habe er wenig verstanden, ein Trinker und Frauenheld sei er gewesen, psychisch labil und depressiv. Während des Wahlkampfs gegen die SPD wurden 1972 mehr als 34 Millionen DM für zumeist anonyme Zeitungsanzeigen ausgegeben, in denen Brandt unterstellt wurde, er »öffne dem Kreml die Tore nach Europa«, seine Politik bedrohe die Arbeitsplätze, fördere Geldentwertung und Preissteigerungen, seine Ostpolitik sei »das Ergebnis kommunistischer Beharrlichkeit«. Brandt leide an einer Leberkrankheit, hieß es, er wolle die sozialistische Planwirtschaft einführen und gefährde den Wohlstand. Eine »Aktion nüchterne Bürger« propagierte in Anspielung auf einen angeblichen Alkoholismus Brandts: »Lieber Rainer Barzel als Reiner Korn Brandt«; die Junge Union verteilte Aufkleber mit der Parole »Willy Weinbrand«; sogar einen Mord sollte er begangen haben. Adenauer und Strauß sprachen von dem »Herrn Frahm«.

Albrecht Müller bescheinigt Brandt indessen, er sei ein perfekter Wahlkämpfer und grandioser Menschenfischer gewesen, keineswegs depressiv oder ein Zauderer, sondern hochintelligent, umsichtig und fantasievoll. Neben der Entspannungspolitik mit Rußland und Polen listet der Autor die Verdienste Brandts in der Innenpolitik zur Verbesserung der Lage der arbeitenden Bevölkerung auf: Das neue Betriebsverfassungsrecht, die flexible Altersgrenze, Anhebung der Kleinrenten, Öffnung der Rentenversicherung für Selbständige und Hausfrauen, Dynamisierung der Kriegsopferrenten, Erhöhung des Kindesgeldes, das Ausbildungsförderungsgesetz, Kampf gegen Bodenspekulationen, Verbesserung der Lohnquote der abhängig Arbeitenden, Entwicklung des Umweltschutzes und so weiter. Das alles wurde und wird – so Albrecht Müller – von den Leitmedien ignoriert und von den Historikern weitgehend verschwiegen.

Aber selbst in der eigenen Partei gab es Intrigen, Verleumdungen und hinterhältige Gegnerschaft. Helmut Schmidt, der sich als Konkurrent sah und Brandt unter anderem in seiner Personalauswahl boykottierte, nannte ihn auf einer Zusammenkunft mit einflußreichen Persönlichkeiten (Bilderberg-Konferenz) einen »Scheißdemokraten«. Die wiederholte Forderung des ehemaligen Oberleutnants der Wehrmacht nach mehr »Führung« beruhte – wie Albrecht Müller richtig analysiert – »auf einem Verständnis von Politik und von menschlichem Zusammenleben«, das der einstige Emigrant und Widerstandskämpfer Brandt nicht teilte. Und Schmidts Vorwurf, Brandt habe die Partei »verludern« lassen, ist leicht widerlegt, denn die Zahl der SPD-Mitglieder stieg seinerzeit von etwa 600.000 auf über eine Million.

Auch Herbert Wehner – Müller nennt ihn einen »illoyalen Machtmenschen« und »Meister der PR in eigener Sache« – intrigierte gegen Brandt; 1973 erklärte er in Moskau: »Der Herr badet gerne lau!« Die sogenannten Kanalarbeiter wie auch der rechtskonservative Seeheimer Kreis polemisierten gegen ihn; die spätere Bundestagspräsidentin Annemarie Renger beschwerte sich über die Verwendung des Begriffs Demokratischer Sozialismus in Wahlkampfanzeigen. Und 1969, so schreibt Albrecht Müller, wollten Brandts Stellvertreter Wehner und Schmidt »lieber auf das Kanzleramt verzichten, als Brandt den Vortritt zu lassen«. Doch der nutzte noch in der Wahlnacht die Chance und verkündete die Verabredung mit dem FDP-Vorsitzenden Walter Scheel, eine sozialliberale Koalition bilden zu wollen. Damit übernahm die SPD die Regierungsbildung. Aber die Koalitionsverhandlungen fanden wegen einer Erkrankung Brandts ohne ihn statt; Wehner »vergaß« die Anweisungen Brandts in der Aktentasche, wichtige Positionen wurden verschenkt, Brandts Position als Bundeskanzler von vornherein geschwächt.

Brandt ist manches vorzuwerfen, zum Beispiel seine Zustimmung (die er später bedauerte) zum Radikalenerlaß, keinesfalls jedoch, daß er ein Zauderer oder Träumer oder psychisch labil war. Er hatte ein Gespür für kompetente Berater, die nicht korrumpiert und nicht korrumpierbar waren. Daß er 1974 zurücktrat (angeblich wegen der Guillaume-Affäre), war insofern ein Unglück, als ihm die Konzeption einer anderen, humaneren Gesellschaft vorschwebte. Die Tragik dieses Scheiterns wird deutlich, wenn später unter einer rot-grünen Regierung eine Deregulierung der Finanzmärkte erfolgte, eine Agenda 2010 mit weitreichenden negativen Folgen für die arbeitende Bevölkerung beschlossen wurde oder Deutschland an Kriegen teilnahm. Wir hören von Milliarden von Bonuszahlungen an Banker während der Finanzkrise, von Geldentwertung, Verarmung eines großen Teils der Bevölkerung oder von flächendeckender Bespitzelung durch in- und ausländische Geheimdienste. Wir leben in einer anderen Gesellschaft als derjenigen, die Anfang der 1970er Jahre auf den Weg gebracht werden sollte, jedenfalls nicht mehr in einer Demokratie.

Ein Politiker sei erst dann erledigt, schreibt Albrecht Müller, »wenn er nicht nur Gegner in anderen Parteien und große Interessen und wichtige Medien gegen sich hat, sondern vor allem, wenn zusätzlich in den eigenen Reihen gegen ihn gearbeitet wird«. Willy Brandt sei dafür ein »klassischer Fall«, Zielperson des rechtskonservativen Lagers. Daß ihm bis heute keine Gerechtigkeit widerfahre, sei besonders deshalb bedauerlich, weil sich aus seiner Kanzlerschaft »für uns Heutige viel lernen ließe« – wenn man denn lernen wollte.

Albrecht Müller: »Brandt aktuell – Treibjagd auf einen Hoffnungsträger«, Westend Verlag, Frankfurt am Main, 158 Seiten, 12,99 €