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Titel315

Bürgercourage und wahrhaftige Information  (Winfried Wolk)

»Die Achtung vor der Wahrheit, die Wahrung der Menschenwürde und die wahrhaftige Unterrichtung der Öffentlichkeit sind oberste Gebote der Presse. Jede in der Presse tätige Person wahrt auf dieser Grundlage das Ansehen und die Glaubwürdigkeit der Medien.« So lautet der erste Grundsatz des Pressekodex des Deutschen Presserates. Weiter heißt es: »Es widerspricht journalistischer Ethik, mit unangemessenen Darstellungen in Wort und Bild Menschen in ihrer Ehre zu verletzen.«


In dem Beitrag »Moskau verstehen, Kiew verraten« fragt der Spiegel-Kolumnist Georg Diez am 12. Dezember 2014 in Spiegel online »Wieviel ist Europa die Freiheit wert, die auf dem Maidan erkämpft wurde?« und beklagt, daß »Europas Politiker und Prominente … eher an einer Abschaffung der Revolution – und damit an der Abschaffung der Realität« arbeiten. Er meint damit »die liebe[n] Bundesminister a.D., Bundeskanzler a.D., Bundespräsidenten a.D.«, also einstmals höchste Repräsentanten unseres Landes, sowie »Frauen wie Gabriele Krone-Schmalz oder Männer wie Matthias Platzeck«, die rasch von Angst und Krieg reden würden »im Ton der Kälte und Selbstgerechtigkeit, für die man sich jeden Tag direkt in der Ukraine entschuldigen will«.


Herr Diez bezieht sich in seinen etwas verschwurbelten Ausführungen auf einen Aufruf von etwa 60 Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Medien unter dem Titel »Wieder Krieg in Europa? Nicht in unserem Namen!«, der am 5. Dezember 2014 in der Zeit veröffentlicht wurde. Spiegel online veröffentlichte den Appell nicht, auch die öffentlich-rechtlichen Medien ZDF und ARD blieben stumm. Es war wie damals in der DDR, als die Ausweisung Wolf Biermanns in den Medien der DDR Wellen schlug, ohne den Grund dafür, nämlich dessen Auftritt in Köln, und die die Entscheidung begründenden Passagen zu veröffentlichen. Auch vom Protest namhafter Künstler erfuhr man den Wortlaut des offenen Briefes nicht. Interessant ist, daß auch damals diese Persönlichkeiten diffamierend als unreif abqualifiziert wurden, genauso, wie jetzt mit diesem Appell umgegangen wird, der so offensichtlich nicht in das Konzept der gegenwärtigen, von den USA dominierten Politik der westlichen Welt paßt.


Herr Diez unterstellt Herta Däubler-Gmelin, Eberhard Diepgen, Pater Anselm Grün, Sibylle Havemann, Roman Herzog, Christoph Hein, Burkhard Hirsch, Sigmund Jähn, Uli Jörges, Margot Käßmann, Lothar de Maizière, Otto Schily, Friedrich Schorlemmer, Georg Schramm, Gerhard Schröder, Ingo Schulze, Hanna Schygulla und Horst Teltschik, um nur einige Persönlichkeiten zu nennen: »Sie arbeiten damit an der Abschaffung einer Revolution. Sie arbeiten an der Abschaffung einer Realität. Und das war ja der Plan. All das Gerede vom Krieg in den Köpfen, all das Geraune davon, daß faschistische Horden das Wesen des Maidan ausmachen ...«


Allerdings gibt es in unserem demokratisch verfaßten Land obigen Pressekodex, und ich frage mich natürlich, wo und wie Herr Diez in diesem Fall das oberste Gebote der Presse erfüllt, einer wahrhaftigen Unterrichtung der Öffentlichkeit verpflichtet zu sein. Und ich bin mir durchaus nicht sicher, ob der Autor nicht die Integrität dieser Männer und Frauen verletzt, wenn er ihnen einen »Ton der Kälte und Selbstgerechtigkeit, für die man sich jeden Tag direkt in der Ukraine entschuldigen will« unterstellt. Ja schlimmer noch, er macht sie, die sich für eine Beendigung dieser unheimlichen Spirale von Drohungen und Gegendrohungen einsetzen, selbst zu Kriegstreibern, wenn er sagt: »Sie haben getrommelt, als hätten sie selbst dran geglaubt, was sie immer und immer wiederholt haben und was der Kurzschluß der Weltkriegsfurchtnostalgie der Jahreszahlen war: 1914 = 2014, und in der Kriegspanik ist die Freiheitshoffnung untergegangen.«


»Wieviel ist Europa die Freiheit wert, die auf dem Maidan erkämpft wurde?« fragt Herr Diez, und ich frage mich, welche Freiheit er denn wohl meint. Ich erinnere mich, daß in den Anfängen der noch friedlichen Maidan-Bewegung die Demonstranten ein Ende des Oligarchen-Systems, der Korruption und demokratische Mitbestimmung forderten. Dann wurden die Demonstrationen zunehmend gewalttätiger, rechte Kräfte, die mit Fug und Recht als faschistisch bezeichnet werden können, heizten die Atmosphäre an, bis es zu einem Massaker sowohl an Demonstranten als auch an Sicherheitskräften kam. Dieses ist bis heute nicht aufgeklärt.


Die USA investierten seit 1992 mindestens fünf Milliarden US-Dollar, um einen Regimewechsel herbeizuführen, was dann letztlich gelang. Die legal gewählte Regierung der Ukraine wurde weggeputscht und ein neues System, nun USA-freundlich, installiert, ein eher rußlandfreundlicher Oligarch durch einen USA-freundlichen milliardenreichen Oligarchen ersetzt. Das ist die Freiheit, die auf dem Maidan erkämpft wurde. Das Land ist tief gespalten, eben weil der Westen versucht, mit all seinen Mitteln die Ukraine aus ihren jahrhundertealten Bindungen zu Rußland zu lösen und in das westliche System zu integrieren. Da geht es aber gar nicht darum, den Ukrainern eine imaginäre Freiheit zu bringen, da geht es vor allem darum, Rußland zu schwächen.


Herr Diez könnte das alles wissen, weil alles längst im gleichen Medium, in dem er seine Artikel veröffentlicht, zu lesen war. Schon am 21. Februar 2014 schrieb Uwe Klußmann unter dem Titel »Schachspiel im Minenfeld« über die bei diesem Konflikt waltenden Kräfte und wußte damals schon, daß es »nicht nur um die Zukunft eines von Korruptionsvorwürfen umwitterten Präsidenten« geht. »Es geht um Geopolitik, darum, welche Machtzentren in Europa und dem eurasischen Raum dominieren.« Und er zitiert Zbigniew Brzezinski, den amerikanischen Präsidentenberater und sein Strategiepapier »The Grand Chessboard«, in dem schon 1997 Ziele und Wege US-amerikanischer Geopolitik offengelegt wurden. Uwe Klußmann wußte offensichtlich schon damals viel besser, was Georg Diez heute blind ignoriert. »Mit solch süßen Versprechungen, die ungedeckten Schecks gleichen, wird eines der ärmsten Länder Europas womöglich ungewollt in einen Bürgerkrieg getrieben. In der Ukraine gerät nicht nur die Macht eines korruptionsverdächtigen Regierungsapparats ins Wanken, sondern auch ein Staat, der in seinen jetzigen Grenzen kaum noch lebensfähig ist … Bisher hat der Kreml separatistische Stimmungen im Osten und Süden der Ukraine nicht ermuntert.« Es sehe nicht danach aus, daß Putin an einem Bürgerkrieg vor seiner Haustür interessiert sei, führte Klußmann weiter aus. Der könne aber auch dann entbrennen, »wenn Moskau ihn nicht will. Wer die Geschichte der Ukraine kennt, weiß, daß die militanten Nationalisten im Westen des Landes immer wieder in Schlachten ziehen, die sie nur verlieren können.«


So war das vor einem knappen Jahr auf Spiegel online zu lesen. Heute staune ich darüber, wie sich die Informationsstruktur verändert hat. Herr Diez kritisiert die »AdorfBrandauerJörgesKüppersbuschWenders, die ihr alle einen Aufruf unterzeichnet habt, der mit keinem Wort erwähnt, wofür die Menschen in der Ukraine ihr Leben riskiert haben«. Will er uns wirklich weismachen, daß die Menschen in der Ukraine in ihrem Land für den jetzt herrschenden, außerordentlich instabilen und somit gefährlichen Zustand, der vor allem auf die massive westliche Einflußnahme zurückzuführen ist, ihr Leben riskiert haben?


Die Achtung vor der Wahrheit, die Wahrung der Menschenwürde und die wahrhaftige Unterrichtung der Öffentlichkeit sind oberste Gebote der Presse. Ich wünschte, es wäre so.