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Titel315

Zollstöcke aus Gummi  (Manfred Sohn)

Im Jahre 2003, so läßt sich auf der Website des Statistischen Bundesamtes nachlesen, »wurde in der Preisstatistik des Statistischen Bundesamtes die hedonische Qualitätsbereinigung eingeführt«.


Das klingt wie eine Lappalie oder ein Spezialistenthema, ist es aber nicht. Der Preisindex ist eine der zentralen Meßgrößen, quasi der unentbehrliche Zollstock aller bürgerlichen Ökonomen. Ob nun Bruttoinlandsprodukt oder Inflationsraten: Alles hängt am Preis. Ihn »qualitätszubereinigen« bedeutet nicht weniger, als künftig mit Zollstöcken aus Gummi oder einem anderen dehnbaren Material zu hantieren. Das Verfahren wird auf eine ganze Reihe vor allem langlebiger Konsumgüter angewendet, zum Beispiel PCs, Notebooks, Gebrauchtwagen, Drucker und bis 2011 auch bei Waschmaschinen oder Fernsehapparaten. Es funktioniert am Beispiel des PC grob folgendermaßen: Nehmen wir an, im Jahr 2003 kostete ein PC mit einer Festplatte von 200 Gigabyte 1000 Euro. Drei Jahre später bringt dieselbe Firma aber einen PC heraus, der 1100 Euro kostet – das wäre eine Preissteigerung um zehn Prozent. Aber – so sagen nun die Statistiker – der neue PC hat eine Festplatte nicht nur von 200 Gigabyte, sondern von 500 Gigabyte. Die gesteigerte Leistungsfähigkeit müsse aus dem erhöhten Preis herausgerechnet werden. Dafür gibt es aufwendige statistische Verfahren, mit denen das passiert, und bei Desktop-PCs ergäbe das, so erklärte das Bundesamt im Juni 2013, eine hedonische Preisbereinigung von 0,892 Prozent. Insgesamt, so das Amt, hätte die hedonische Preismessung die Wirkung, die Inflationsrate um rund 0,1 Prozent niedriger erscheinen zu lassen als sie das ohne dieses neue Instrument wäre.


Diese 0,1 Prozent mögen gering erscheinen. Sie kommen aber einer Kapitulation in einer seit Marx‘ Zeiten tobenden Debatte gleich. Der aus dem Griechischen kommende Begriff hedonisch verweist darauf, daß es bei Objekten einen Unterschied zwischen den äußeren und den inneren, den eigentlichen, Werten, gäbe. Preise aber, so predigte die ganze bürgerliche Ökonomiezunft bisher, bildeten nach einigen Schwankungen, die sich aus dem Verhältnis von Angebot und Nachfrage ergäben, exakt den Wert einer Ware ab. Mit diesem in Varianten immer wieder wie eine Gebetsmühle vorgetragenen Argument verwiesen sie die marxistische Ökonomie in das Reich des Mystischen, weil eben Marx den Nachweis führte, daß der Wert einer Ware sich zwar auf der Oberfläche als Preis ausdrücke, aber Preis und Wert ganz verschiedene Dinge seien – das eine bezeichne die Oberfläche, das andere das Wesen einer Sache. Der Wert einer Ware werde letztlich bestimmt durch die in ihm geronnene Menge der bei seiner Herstellung verbrauchten Ware Arbeitskraft.


Nun gibt also das Statistische Bundesamt zu: Preis und Wert einer Ware sind nicht dasselbe. Zunächst einmal ist damit der Manipulation der Statistik Tür und Tor geöffnet. Wir werden sehen, wohin diese Willkür beim Preisindex noch führt. Vielleicht kommt das Amt in der intellektuellen Absetzbewegung, die hier stattfindet, sogar zu einer weiteren marxschen Erkenntnis: Der gegenwärtige weltweite Preisverfall – die von allen Notenbanken wie ein Gespenst bekämpften deflationären Tendenzen – hat seinen Kern darin, daß der weltweite Kapitalismus immer weniger Ware Arbeitskraft produktiv zu vernutzen in der Lage ist. Die Produktivitätssteigerungen führen dazu, daß tatsächlich in den Waren von heute trotz ihrer qualitativen Verbesserungen immer weniger geronnene menschliche Arbeitskraft enthalten ist. Also sinkt ihr Wert und mit Verzögerungen auch der Preis industriell hergestellter Waren. Das Dramatische des Prozesses, der sich in der Tendenz zu sinkenden Preisen ausdrückt, ist aber nicht die Geldebene, sondern die Tatsache, daß damit der Motor der kapitalistischen Wirtschaftsweise selbst – die Vernutzung menschlicher Arbeitskraft zu Profitzwecken – zu erlahmen beginnt. Das ist der Kern der weltweiten ökonomischen Stagnation, die sich weder durch hedonische noch durch andere Meßmethoden hinwegmanipulieren lassen wird.