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Titel316

Hellmut von Gerlach  (Eckart Spoo)

Als Carl von Ossietzky 1932 die Haftstrafe antreten musste, zu der ihn das Reichsgericht in einem präfaschistischen Geheimverfahren verurteilt hatte, bat er Hellmut von Gerlach, ihn als Chefredakteur der Weltbühne zu vertreten – ein Beweis hoher Achtung und seltenen Vertrauens. In einer Mitteilung an die Leser würdigte er Gerlachs »reiche Erfahrung« und »ehrenvolle, niemals durch Konversionen befleckte Vergangenheit«; damit sei garantiert, »dass an der Haltung der Weltbühne nichts geändert wird«.


Ossietzky stellte Gerlach zudem als seinen Lehrer dar: »Vor mehr als 20 Jahren bildete ich als blutjunger Mensch meine ersten Arbeiten an seinem Beispiel.« Und er erinnerte daran, dass Siegfried Jacobsohn, bevor er 1905 die Schaubühne ins Leben rief, aus der 1918 die Weltbühne hervorging, seinen Ruf als Theaterkritiker in Gerlachs Welt am Montag begründet hatte.


Der vor nunmehr 150 Jahren – genau am 2. Februar 1866 – geborene Hellmut von Gerlach begann sein politisches Wirken als liberaler Jurist. Schon um 1910 engagierte er sich dann in der pazifistischen Bewegung. Der von ihm mitgegründete Bund Neues Vaterland setzte sich, während fast alle deutschen Publizisten den Ersten Weltkrieg und die anfänglichen deutschen Erfolge bejubelten, für einen Verständigungsfrieden ein. Der Bund wurde 1916 verboten. Gerlach ließ sich dadurch nicht beirren. Noch während des Krieges und gleich danach unternahm er neue Versuche, den Pazifismus zu organisieren, unter anderem als stellvertretender Vorsitzender und seit 1926 als Vorsitzender der Deutschen Liga für Menschenrechte. Seine besondere Sorge galt der Verständigung mit Polen. Seine Welt am Montag war das auflagenstärkste linksliberale Blatt der Weimarer Republik.


1933, nach dem Reichstagsbrand, emigrierte Gerlach. Von Paris aus bemühte er sich beharrlich um die Freilassung des in »Schutzhaft« malträtierten Ossietzky. An das Nobelpreis-Komitee schrieb er 1934 über Ossietzkys frühere publizistische Tätigkeit (und charakterisierte mit dem 22 Jahre jüngeren Mitstreiter auch sich selber): »Internationales Recht und die Heiligkeit der Verträge standen ihm über allem. Er war sich bewusst, dass er seinem Vaterland, der Menschheit und dem Weltfrieden nicht besser dienen könne, als wenn er die verruchte Theorie vom ›Fetzen Papier‹ auszurotten und den Rechtsgedanken wieder auf den Thron zu setzen versuchte. Für diesen Kampf hat er unendlich schwer leiden müssen.«


Noch am 1. August 1935, dem Tag seines Todes, traf sich Gerlach mit entlassenen Mithäftlingen Ossietzkys, um Informationen zu erlangen, die der Nobelpreis-Kampagne dienlich sein konnten. Es bedurfte noch großer Anstrengungen vieler Antifaschisten weltweit, bis 1936 dem inzwischen schwer erkrankten Ossietzky der Friedensnobelpreis zuerkannt wurde.


2007 fand an der Freien Universität Berlin eine wissenschaftliche Konferenz über den fast vergessenen Hellmut von Gerlach statt. Die Referate sind in dem von Christoph Koch, dem Vorsitzenden der Deutsch-Polnischen Gesellschaft, herausgegebenen Band »Vom Junker zum Bürger. Hellmut von Gerlach – Demokrat und Pazifist in Kaiserreich und Republik« (Martin Meidenbauer Verlag) zusammengefasst. In meinem Beitrag »Zur Aktualität Hellmut von Gerlachs« konzentrierte ich mich auf drei politische Aufgaben, bei denen uns die Beschäftigung mit Gerlach helfen kann: Widerstand gegen Lügenpropaganda, Widerstand gegen den Abbau des Rechts, kritischer Umgang mit der Geschichte. Höchst aktuell finde ich Gerlachs Artikelserie »Die große Zeit der Lüge«, als Buch erschienen 1926 im Verlag der Weltbühne, inzwischen wieder herausgebracht vom Donat Verlag. Ähnlich wie die Österreicher Karl Kraus und Alfred Fried dokumentierte und analysierte Gerlach die Kriegspropaganda im Ersten Weltkrieg, die Irreführung der Öffentlichkeit, die Uniformierung des Geistes und des Gemüts, die Zurichtung der Menschen und Staaten fürs Völkerschlachthaus. Dass Verträge und auch Verfassungen wie ein »Fetzen Papier« behandelt werden, können wir, wenn wir nicht wegschauen, alltäglich erleben; als Beispiele erwähnt seien die Angriffskriege, an denen sich das vereinte Deutschland entgegen der UN-Charta, entgegen der KSZE-Schlussakte und entgegen dem Grundgesetz beteiligt, der Umgang mit dem Asylrecht und die vielen sonstigen Rechtsbrüche, die Jahr für Jahr der von acht Bürgerrechtsorganisationen herausgegebene »Grundrechte-Report« auflistet. Und was die reaktionäre Geschichtspolitik betrifft: Gerlach forderte: »Weniger Treitschke, mehr Voltaire!« Aber im vereinten Deutschland hatte ein Palast der Republik keinen Bestand. Stattdessen muss nun dringend das Hohenzollernschloss wiederaufgebaut werden. Nicht nur das Berliner, sondern auch das Potsdamer Schloss. Sowie ebendort, nahe dem Führungsstab der Bundeswehr, auch die Garnisonkirche, dieses Symbol des deutschen Militarismus und seines feierlichen Bündnisses mit dem Hitler-Faschismus. Nach dem wilhelminischen Historiker Treitschke (»Die Juden sind unser Unglück«) ist in Berlin immer noch eine Straße benannt. Ich schlage vor, sie nach Gerlach umzubenennen.