erstellt mit easyCMS
Titel319

Gratisgeschenke  (Klaus Müller)

Warum liegt Magdeburg nicht an der Moldau? In Melnik, 60 Kilometer nördlich von Prag, fließen Moldau und Elbe zusammen. Ab nun heißt der Fluss Elbe – tschechisch Labe –, obwohl die Moldau – tschechisch Vlatava – hier sogar einige Kilometer mehr hinter sich hat. Warum nicht Moldau, Elmol, Moldel, Eldau, Molbe, Daube oder einfach Otta? Elbe – eine willkürliche Namensgebung? Viele patriotisch gesinnte Tschechen hadern damit, dass die stolze Moldau in der Elbe untergeht. Doch fordert keiner, die Elbe in Melnik enden und die Moldau bis in die Nordsee fließen zu lassen. Dass nicht die Moldau als Elbursprung gilt, geht zurück auf die im Mittelalter verfestigten Benennungen der beiden Flüsse, die mit der Siedlungsgeschichte Böhmens zu tun haben. Der Bereich der oberen Elbe war vor der Zuwanderung der slawischen Stämme bereits besiedelt. Die Siedlungsgeschichte an der Moldau beginnt später. Außerdem ist die Elbe oberhalb der Mündung breiter und fließt geradeaus, während die Moldau an der Mündung deutlich nach links abbiegt. So entsteht der Eindruck, als sei die Elbe der Hauptfluss und nehme die kleinere Moldau in sich auf.

 

Namen und Begriffe sind historisch entstanden, haben ihre Gründe und besitzen eine Geschichte. »Die Worte bilden die Existenzform der Begriffe, mit denen das Denken operiert, und die Begriffe sind der gedankliche Inhalt, die Bedeutung der Worte«, sagen die Philosophen Georg Klaus und Manfred Buhr. Es gibt oft mehrere Wörter für einen Begriff, die Synonyme. Das Riesenrad wird neuerdings Russenschaukel genannt, wie einst im Zarenreich des 18. Jahrhunderts. Mit einem Wort können unterschiedliche Begriffe gemeint sein. Keiner ist irritiert, weil die Maus des Computers keinen Speck mag. Man auf der Bank im Park keine Zinsen zahlen muss. Die Dichtung im Wasserhahn keine Chancen auf den Literaturpreis hat. Der Bückling keinen Bückling macht. Dietrich mit dem Dietrich das Tor öffnet. Und mit dem Kreuz auf dem Kreuz die Straße kreuzt. Engländer und Franzose im Werkzeugkasten liegen, sich zwei Jäger treffen und beide tot sind. Laut Guinness-Buch der Rekorde hat das Wort «Läufer» mit 24 die meisten Bedeutungen. Der »Läufer« ist unter anderem ein schmaler, langer Teppich, ein junges Hausschwein, eine Schachfigur, ein Mittelfeldspieler im Fußball, ein Laufsportler oder ein Rotationskolben an einem Wankelmotor. Der Begriff soll die allgemeinsten und wesentlichsten Eigenschaften des Objekts angeben. »Worauf es bei dem Studium der Wissenschaft ankommt, ist die Anstrengung des Begriffs auf sich zu nehmen«, sagt Hegel. Im Gegensatz zu einer Aussage sind Begriffe nicht wahr oder falsch. Sie sind zweckmäßig oder unzweckmäßig. Begriffe, die keine Grundlage in der Realität haben, kann man »mit jenen Wäldern des Nordens vergleichen, deren Bäume keine Wurzeln haben«, so Diderot. Ein Windstoß – und sie fallen um. Begriffe sind nach Engels das Ergebnis der Erkenntnis eines Gegenstandes oder einer Erscheinung. Sie sind das »Resultat, worin sich … Erfahrungen zusammenfassen«. Ihre Geschichte ist abgeleitet aus der der Verhältnisse, die sie sprachlich ausdrücken. Sie benennen etwas und bilden die Merkmale des Benannten ab, beschreiben und begründen die Realität.

 

Begriffe sind unangemessen, wenn sie die Abgrenzung untereinander behindern und wenn sie dem Inhalt des Widerzuspiegelnden nicht gerecht werden. So ist zweifelsfrei, dass die »Arbeitgeber« keine Arbeit geben. Sie stellen Arbeitsplätze zur Verfügung und legen Arbeitsaufgaben fest. Die »Arbeitnehmer« wiederum nehmen keine Arbeit, sondern leisten sie, indem sie gegen Bezahlung ihre Arbeitskraft dem Kapitalisten überlassen. Das »Kauderwelsch« der Ökonomen, wie Engels die gewollte Verdrehung nennt, zeigt, wie willkürlich die Begriffsbildung sein kann.

 

Begriffe sind von Interessen diktiert, können entwertet und missbraucht werden. Demokratie, Freiheit, Gerechtigkeit – ausgehöhlte Grundbegriffe. Demokratie – Herrschaft des Volkes? Wer glaubt es noch? Gleichheit – verkommen zum Feigenblatt für Ungleichheit. Freiheit – für wen? Freiheit – Einsicht in die Notwendigkeit, die Anerkennung des Unvermeidbaren? Freiheit – die Unterwerfung, die Akzeptanz der Macht, der gottgewollten? Das Abfinden mit eigener Macht-, Hilfs- und Bedeutungslosigkeit? Freiheit – die Freiheit des anderen? Immer des anderen? Freiheit gleich uneingeschränkte Toleranz? Auch der Intoleranz und damit Unfreiheit? Fortschritt – Bewegung zum Besseren oder unaufhaltsamer Marsch zum Abgrund angesichts des Bevölkerungswachstums und der Zerstörung der Natur? Fortschritt – Hebung des Wohlstandes oder Perfektionierung des Mordens? Nach Theodor W. Adorno und Max Horkheimer besteht die Ambivalenz des Fortschritts darin, dass er das Leben verbessert und zugleich bedroht. Er entwickele das Potential der Freiheit und die Wirklichkeit der Unterdrückung. Heil und Unheil – sie sind im Fortschrittsbegriff aufs engste verbunden. (»Wohin wollt ihr mit eurem Fortschritt?« https://www.cicero.de, 11.8.2018)

 

Begriffe haben ihre Geschichte. Sie ändern ihre Bedeutung im Laufe der Zeit. »Die Begriffsgeschichte war immer schon«, schreiben Ernst Müller und Falko Schmieder in ihrem kritischen Kompendium der Begriffsgeschichte und historischen Semantik, »aber insbesondere seit den 1920er Jahren keineswegs nur eine harmlose philologische, sondern zugleich eine politische und wissenschaftspolitische Methode, mit der geistige Kämpfe der Zeit durchfochten werden«. Sie sind vergänglich, vergehen und entstehen mit den realen Verhältnissen, die sie widerspiegeln. Wörter, auch relativ junge, verschwinden mit den Dingen, über die der Fortschritt hinweggeht: »Tonband«, »Videorecorder«, »Walkman«. Begriffe wie »materiell-technische Basis«, »Meister des Sports«, »Verdienter Aktivist«, »Maschinenausleihstation«, »Dederon«, »Brigadetagebuch«, »Werktätiger« und »Kollektiv« sind mit dem Sozialismus untergegangen, verlieren oder wandeln ihre Bedeutung wie der »Subbotnik«. Begriffe nutzen sich ab, veralten wie Omas Küchenschürzen (übrigens auch ein kaum noch gebrauchtes Wort.) Wer spricht noch von »Frauenzimmer«, »Adamskostüm«, »Backfisch«, »Fräulein« oder »Hasenbrot«? »Kurpfuscher«, »Tingeltangel«, »Brimborium«, »Zinnober«? »Remmidemmi«, »Wanst«, »Mumpitz«, »Kokolores«, »Firlefanz« oder »Schabernack«, den Till Eulenspiegel vielen seiner Zeitgenossen spielte? Oder klagt übers »Zipperlein« und schwärmt von der »Augenweide«? Viele klangvolle, bildhafte Begriffe sind verschwunden und andere vom Aussterben bedroht. Im »Duden« stehen 145.000 Stichwörter. 14.000 davon verwende der Durchschnittsdeutsche, schreibt die Journalistin Katharina Mahrenholtz in ihrem Buch »Luftikus und Tausendsassa«. Neue Verhältnisse bringen neue Begriffe hervor. Dass die Computerwelt ihre eigene Sprache hat, ist verständlich, dass aus der guten alten Kundendienstrufnummer die »Hotline«, aus Kindern »Kids« und aus Stöckelschuhen »High Heels« geworden sind, muss einem nicht gefallen. »Leiharbeit«, »Klonen«, »Genmanipulation«, »Klimakatastrophe«, »Islamischer Staat«, »Internet«, »Digitalisierung«, »Hartz-IV-Empfänger«, »Kopfpauschale«, »Bedingungsloses Grundeinkommen«, »Ankerzentren« sind Begriffe neueren Datums.

 

Begriffe helfen zu begreifen – manchmal sollen sie die Wirklichkeit kaschieren. Der Ausdruck »Asyltourismus« deutet die Flucht vor Krieg, Folter und Hunger um in Urlaubsreisen. Er wurde wie der Begriff »Anti-Abschiebe-Industrie« von christlich-sozialen Politikern erfunden, von denen man gern wissen möchte, was sie unter den Begriffen »christlich« und »sozial« verstehen. Mit »Gratisgeschenken« versuchen Versandhäuser und Zeitungen mehr von ihren Produkten und ihre Käufer für dumm zu verkaufen. Wer eine Ware kauft oder ein Probeabo abschließt, erhält zum Dank ein Geschenk. Sogar gratis. Also kostenlos. Es ist so unglaublich, dass Kapitalisten etwas verschenken, dass Kunden extra darauf hingewiesen werden müssen. Gleich doppelt. Sonst verstehen sie es nicht. Besser noch dreifach: ein »kostenloses Gratisgeschenk«. Damit hoffentlich auch der letzte Tölpel begreift, dass er für das Geschenk nichts bezahlen muss. Doch der Schein trügt, wie so oft. Wer glaubt, ihm werde etwas geschenkt, kennt den Kapitalismus nicht. Er müsste wissen, dass die Kosten der »Gratisgeschenke« in die Preise der Waren einkalkuliert sind, selbst dann, wenn es sich um den allerbilligsten Schnickschnack handelt, um Ramsch, für den sich nicht mal ein Besucher eines Flohmarktes interessiert, oder, wie Die Zeit schrieb, »um die Insolvenzmasse von 1-Euro-Shops und/oder ästhetischen Sondermüll: grellbunte Plastikschüsseln, eine Qual fürs Auge. Irgendwelchen gläsernen Deko-Krempel für die Fensterbank, der so hässlich ist, dass sogar Recyclinghöfe die Annahme verweigern. Armbanduhren, deren Zeiger bei der ersten Erschütterung abbrechen und deren Armbänder nach zwei Wochen einreißen«. (Marcus Rohwetter: »Quengel-Zone: ›Ihr Gratis-Geschenk‹«, https://www.zeit.de, 2.8.2018)