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Titel320

Unklare Lage  (Klaus Nilius)

Am Abend vor dem 75. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz erreichte der »Tatort« des Bayerischen Rundfunks mit dem Titel »Unklare Lage« eine »Super-Quote« (Hamburger Abendblatt am 28. Januar, zwei Tage danach). 9,41 Millionen Menschen, das ist ein Marktanteil von 26,4 Prozent, »sahen zu, wie die TV-Kommissare Franz Leitmayr und Ivo Batic mit einem Ausbruch allgemeiner Hysterie in München zu kämpfen hatten«.

 

Ich erinnere mich genau an den Tag, als die Hysterie in München ausbrach, die diesem Polizeifilm als Vorlage diente. Ich war damals in Würzburg, und es war Freitag, der 22. Juli 2016. Vier Tage zuvor waren nahe Würzburg in einer Regionalbahn fünf Menschen mit Beil und Messer angegriffen und verletzt worden, von einem als minderjährig und unbegleitet registrierten Flüchtling. Die Tat hatte die Menschen aufgewühlt.

 

Jetzt also erneut Bayern, diesmal München. Wie sich nach und nach aus den Nachrichten herausklarte, hatte ein 18-Jähriger in und vor einer McDonald’s-Filiale in der Nähe des Olympia-Einkaufs-Zentrums (OEZ) neun Menschen erschossen, weitere verletzt und sich anschließend selbst getötet. Viele Opfer waren junge Leute mit Migrationshintergrund. Kurz nach den Schüssen gab es laut Polizei »eine akute Terrorlage«: Sind es mehrere Täter? Handelte der jetzt tote Jugendliche allein? Hatte vielleicht eine Zivilstreife ihn erschossen? Warum hat sich ein Auto mit zwei Insassen in hohem Tempo vom Tatort entfernt?

 

Fahndung auf Hochtouren. München hält den Atem an. Nachrichten und Spekulationen überschlagen sich. Dann die Entwarnung: Der junge Mann sei ein Einzeltäter. Als Hauptmotiv verkünden die Ermittler Rache wegen Mobbing.

 

Unabhängige Experten widersprechen. Der Zweifel bleibt, mit ihm die Anti-These, birgt doch schon das Datum möglicherweise einen Fingerzeig: Auf den Tag genau fünf Jahre zuvor hatte der Rechtsterrorist Anders Breivik in Utoya und Oslo 77 Menschen erschossen.

 

Es vergingen allerdings noch mehr als drei Jahre, bis Mitte Oktober 2019 das Attentat vom Landeskriminalamt in München öffentlich neu bewertet wurde: als »politisch motivierte Gewaltkriminalität von rechts« aus »rechtsradikaler und rassistischer Gesinnung«.

 

Zurück zum Fernsehfilm: Schüsse fallen in einem Münchner Bus, treffen den Fahrkartenkontrolleur. Der Täter, ein junger Mann, flüchtet, wird vom SEK gestellt und erschossen. Er war mit Rucksack und Waffen anscheinend unterwegs zu seiner früheren Schule. Was wollte er dort? Gibt es einen Mittäter, noch einen Amokläufer? Eine Augenzeugin ist sich sicher. Gibt es einen terroristischen Hintergrund? Ausnahmezustand. Straßen werden abgesperrt. Der Hauptbahnhof ist leergefegt. Fahndung auf Hochtouren. Befördert durch die sogenannten sozialen Medien steigt die Hysterie in der Bevölkerung.

 

Da der Film nach 90 Minuten enden muss, anders als die Realität, kommt es schließlich zum Showdown. Es gab einen zweiten Beteiligten: die Freundin, die ihrem von Mitschülerinnen und Mitschülern gemobbten Freund zur Seite stand. In einer U-Bahn-Station ereilt sie ihr Schicksal. Um ihren prall gefüllten Rucksack kümmern sich die Spezialisten, was auch immer er enthielt. Ratlos wendet sich in der Schlussszene die leitende Hauptkommissarin an einen Mitstreiter aus dem Führungsstab: »Wir müssen herausfinden, warum sie es gemacht hat.«

 

In einer bayerischen Zeitung lese ich, der Drehbuchautor sei nicht »dem Klischee [erlegen], bei den Täterfamilien nach dem Motiv für einen möglichen Schulamoklauf zu suchen«. Diese Frage sei nicht das Thema gewesen. Für den Journalisten wie für die Filmemacher war es anscheinend gleichermaßen undenkbar, diesen »Tatort«, der so nah an der realen Polizeiarbeit und der panischen Situation einer Stadt in Angst agierte, zu einem ernüchternden, zugegebenermaßen vielleicht die Sonntagsabendruhe störenden Ende zu bringen, das sich an der Wirklichkeit in diesem Land orientiert, mit all den vielen Gewalttaten aus »rechtsradikaler und rassistischer Gesinnung«. Und das damit noch näher an der realen »Vorlage« gewesen wäre. Vielleicht braucht der Bayerische Rundfunk für solch einen Filmschluss ja ebenfalls drei Jahre Zeit, wie jüngst das Bayerische LKA für seine Bewertung des OEZ-Attentats?