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Titel320

Hat jemand ein bisschen Geld?  (Monika Köhler)

Er zieht das Fazit – aber das Stück ist noch nicht zu Ende. »Es gibt mich nicht mehr. Es gibt keinen Ivanov.« Nun beginnt ein großes Lamento: »Mein Kopf ist leer und übervoll.« Wir stecken mitten in diesem Stück, das seinen Namen trägt: »Ivanov« von Anton Čechov im Hamburger Schauspielhaus. Regie führt die Intendantin Karin Beier. Gleichzeitig gab es eine Aufführung von Tschechows »Iwanow« in Bochum unter Johan Simons, hier spielt Jens Harzer die Titelrolle, in Hamburg ist es Devid Striesow. Warum wird dieses Stück, Čechovs erstes, gerade jetzt wiederentdeckt? Ivanov, ein russischer Intellektueller, der mit seinen dreißig Jahren keinen Sinn mehr im Leben sieht, gelangweilt von allem, depressiv – er versteht sich selbst nicht mehr. Seine Tage vergehen, ohne Spuren zu hinterlassen. Zukunft? Nicht für ihn.

 

Im Grunde sind fast alle Mitwirkenden von dieser Müdigkeit befallen. Geht es uns heute ebenso? Sollen wir uns in ihnen erkennen? Auch die Ehe mit Anna Petrovna (Angelika Richter) kann Nikolaj Alekseevic nicht helfen. Die Jüdin Sarah Abramson trat aus Liebe zu Ivanov zum christlichen Glauben über, nannte sich Anna und wurde von ihren Eltern enterbt. Das verschuldete Landgut konnte so nicht gerettet werden. Dazu kam, dass Anna an Schwindsucht erkrankte. Kann er sie deshalb nicht mehr lieben, wie ihm der Arzt Lvov (Samuel Weiss) vorwirft? Anna versucht, die Krankheit zu ignorieren, bewegt sich in Tanzschritten, trägt einen bunten Morgenmantel, eine rote Hose. Sie versucht, etwas zu retten. Heiraten, nur der Mitgift wegen, die sich Ivanov, der depressive Egoist – und Jammerlappen, erhoffte.

 

Graf Sabelskij (Ernst Stötzner), sein Onkel, auch ohne Geld, hat nur seinen Adelstitel, der für die junge Witwe Babakina (Lina Beckmann) nicht ohne Reiz ist. Sie könnten sich doch zusammentun: heiraten – dann hätte das ständige Anpumpen ein Ende. Die junge Gutsbesitzerin mit dem alten Onkel: Warum nicht? Für Michail Michajlovic Borkin (Bastian Reiber), den Gutsverwalter Ivanovs, ist vieles machbar, auch diese Verkuppelung, er denkt praktisch. Nur keiner hört auf ihn.

 

Čechov verstand sein Stück als Komödie. Wie anders kann man diese Tristesse ertragen? Der Graf, schon 62, will er wirklich die Babakina freien? Er spricht von »Sauerei« – warum nicht? Sie redet sich schon als Gräfin an – warum nicht? Alle werfen sich Bosheiten an den Kopf. Ivanov ertrinkt in Selbstmitleid: »Ich bin böse.« Devid Striesow spielt die Lethargie eines Depressiven, der an sich selbst verzweifelt, so realistisch, dass diese Müdigkeit aufs Publikum überzugreifen droht. Ivanov ist bei seinem Nachbarn Lebedev (Michael Wittenborn) verschuldet. Das Geld verwaltet dessen Frau Zinaida (Eva Matthes), die keine Gnade kennt, die 9000 Rubel will, die Ivanov nicht hat. Das ständige Betteln fast aller um Geld durchzieht das Stück wie ein roter Faden. Ivanov arbeitet nicht mehr und leidet darunter. Man möchte ihn schütteln.

 

Zu dieser Geste fühlt sich Saša (Aenne Schwarz) gedrängt, die Tochter der Nachbarn. Sie ist die Einzige, die nicht alles so hinnehmen will. Ihr zwanzigster Geburtstag wird gefeiert, alle kommen zusammen, umarmen sich. Begrüßung mit den immer gleichen Standardfloskeln – komisch. Saša versucht, Ivanov aufzurütteln, reißt die Arme hoch, wälzt sich am Boden, brüllt. Er ist doch erst dreißig – er könnte noch alles ändern. Ivanov, der es zu Hause neben der kranken Anna nicht mehr aushält, verbringt die Abende bei den Nachbarn. Saša will ihn retten. Nicht nur er erscheint zu ihrem Geburtstag. In dem Augenblick, als Saša sich Ivanov an den Hals wirft und ihn küsst, erscheint Anna auf dem Fest. Ein Stück braucht Dramatik, hier ist sie. Ivanov wischt sich den Mund ab, als könne er damit alles ungeschehen machen.

 

Nach der Pause wird Wodka gesoffen, Rezepte werden ausgetauscht: Was passt zu Kaviar? Und: »Hat jemand ein bisschen Geld?« Nicht nur die Frage nach Geld, noch etwas taucht immer wieder auf, der alltägliche Antisemitismus, so nebenbei, unbewusst vielleicht. Der Graf Sabielski denkt sich nichts, wenn er Anna beim Abschied die Hand küsst und sie »meine Schöne« nennt. Und wenn er dabei Grimassen schneidet, scherzt: »Hilfe, Iberfall. Lassen Sie mich leufen.« Lachen. Er hat passende Verse parat: »Getaufter Jude, begnadeter Dieb, kuriertes Pferd – alle nichts wert.« Sašas Mutter Zinaida über Ivanov, der sein »Judenmädchen« geheiratet und gedacht habe, Vater und Mutter würden ihr goldene Berge mitgeben. Nichts davon. Nun tue es ihm leid. Saša will es nicht glauben. Zinaida: Das wissen doch alle.

 

Für Gutsverwalter Borkin ist Saša die reichste junge Frau der ganzen Gegend. Nur ihre Mutter – ein harter Besen. Erst wenn sie tot ist, erbt Saša. Ivanov schreit ihn an »Raus!« Anna erscheint, und ein Streit beginnt, er habe sie belogen die ganze Zeit. Sie wirft ihm vor, was Zinaida behauptete: »Hauptsache, die jüdische Mischpoke zahlt. So hast du gedacht.« Er schlägt sie, schreit: »Halt den Mund, du Judensau!« Er ist bei den Kirchenreliefs des Mittelalters angelangt. Er kennt keine Grenzen mehr. Sie habe nur noch ein paar Wochen zu leben – das sage auch ihr geliebter Doktor. Diese Wahrheit trifft sie mehr als das Schmähwort. Ivanov bereut, will es zurücknehmen, schluchzt. Musik, traurige Töne des Saxophons, der stumme Mitspieler Gavrila (Vlatko Kucan) wird hörbar. Ivanov hockt am Boden, eine Haltung wie zum Gebet, die Hände rechts und links am Kopf, neigt er sich vor und zurück. Glaubt er sich so dem Schmerz Sarahs, der Jüdin, anzuverwandeln? Sie geht langsam nach hinten ins Schwarze durch eine Tür, die rohe Holzkisten sichtbar macht.

 

Jemand kommt zu Ivanov, hebt ihn auf, zieht ihm das alte Hemd aus und ein frisches weißes an. Alles neu und sauber. Ist es Lebedjev? Der spricht von Hochzeit. Und wieder – im Auftrag seiner Frau – vom Geld. Ja, Hochzeit. Die Gäste sind schon versammelt mit Luftballons in den Händen. Die Braut Saša in Weiß. Aber: Der Vater ist dagegen, die Mutter auch, und der Bräutigam weiß nicht, was er will. Einen Moment lang ist das Paar – vielleicht – glücklich. Sie tanzen, Ivanov trinkt Champagner. Der Arzt ist auch auf dem Fest, nennt Ivanov einen Verbrecher, der seine Frau umgebracht hat. Plötzlich hat Ivanov einen Revolver. Ein Duell? Nein. Ivanov hat eine andere Lösung für sich: ein Schuss.