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Volkswille im Eimer  (Dietrich Kittner)

Wenn meine Frau und ich unser unveräußerliches höchstes Staatsbürgerrecht, die Stimmabgabe, wahrnehmen, tun wir dieser Ehrenpflicht berufsbedingt meist über das Institut der Briefwahl Genüge. Diesmal jedoch waren wir am Tag der Landtagswahl daheim. So machten wir uns wohlversehen mit Wählerbenachrichtigung sowie Personalausweis frohgestimmt und sonntäglich gewandet trotz widriger Witterung auf den Weg zum Wahllokal.

Dort war es wie immer: Die Wahlhelfer saßen an einem langen Tisch, begrüßten uns freundlich, händigten uns die Stimmzettel aus, und wir durften, durch ein paar Pappen vor neugierigen Blicken geschützt, unsere Kreuzchen machen. Erfreulicherweise fand sich dort auch ein Bleistift. Die bereits öffentlich vorgestellten und ursprünglich erstmals zum Einsatz bei der Hamburger Bürgerschaftswahl vorgesehenen Digitalstifte mit eingebauter Minikamera gab es noch nicht. Man hat sie nach Wählerprotesten zurückgezogen. Einstweilen. Erst beim nächsten Urnengang werden sie in den Kabinen liegen. Mit aller Sicherheit: Die Behörde hat bereits dementiert.

In meiner Eigenschaft als Souverän wollte ich dann mit ordentlich gefaltetem Papier in der Hand den Hoheitsakt an der Urne selbst vollenden, suchte allerdings vergeblich nach dem vertrauten altbekannten Pappkarton. Ein Wahlhelfer, der meine verzweifelten Bemühungen verfolgt hatte, wies mich auf den großen Müllkübel hin, der da in einer Ecke stand: Dies sei die Wahlurne. Tatsächlich: In den Deckel hatte man einen Schlitz gesägt, und – wohl um Verwechslungen zu vermeiden – war die Tonne nicht grau gehalten wie für Restmüll üblich, nicht grün wie für Bio-Abfälle oder gar rot wie Problemstoffsammelbehälter, sondern gelb wie die Postkästen. (Hoffentlich hat nicht jemand versehentlich Briefe eingeworfen.) Sonst aber entsprach die Tonne exakt dem Modell, das wir alle vom Eben-mal-gerade-den-Müll-Rausbringen kennen.

Ich habe meinen Stimmzettel trotzdem dort entsorgt. Es muß jedoch ein begnadeter Amtspsychologe gewesen sein, der ausgerechnet ein solches Behältnis als Wahlurne ausgesucht hat.

Ganz unpassend war seine Wahl nun auch wieder nicht. In Frankreich beispielshalber haben die Wähler seinerzeit die ihnen vorgelegte EU-Verfassung mehrheitlich abgelehnt. Folgerichtig hat man das Werk optisch ganz leicht verändert, mit einem neuen Titel versehen und auf ein weiteres Referendum großzügig verzichtet. Wenn das verantwortungslose Volk falsch abstimmt, heißt es für die Politik eben corriger la fortune. Gespannt darf man sicher auch auf die traditionell ein wenig irritierende Stimmenauszählung bei der nächsten Präsidentschaftswahl in den USA sein, wo sich derzeit Hillary Clinton um ihre dritte Amtszeit bewirbt.

In Deutschland, das sich seit 1999 im fast ununterbrochenen Kriegszustand befindet, sind nach seriösen Umfragen über sechzig Prozent der Bevölkerung schon länger der Meinung, die Bundesregierung müsse deutsche Soldaten sofort aus Afghanistan zurückziehen. Infolgedessen schickte Berlin die ja schon im inländischen Heiligendamm erprobten »Tornados« ins afghanische Kriegsgebiet und schiebt derzeit gerade noch eine »schnelle Eingreiftruppe« zum Kampfeinsatz in vorderster Front hinterher. Damit eine Mehrheit dahintersteht – wenn auch bisher leider noch keine deutsche –, haben jetzt Wissenschaftler der »Freien Universität« (FU) in Berlin per Meinungsumfrage in Afghanistan zeitgleich flankierend herausgefunden, 99 Prozent (in Worten neunundneunzig – und da regen sich doch welche tatsächlich noch über koreanische Wahlergebnisse auf!) der Afghanen bäten flehentlich um die weitere Anwesenheit neudeutscher Landser. Ende Juli 2007 hatte der stern bereits eine sich über neun Seiten des Magazins erstreckende Massenumfrage unter genau elf Personen veröffentlicht, derzufolge sich 72,7 Prozent der Befragten für einen Verbleib deutscher Besatzungstruppen ausgesprochen hatten. Also acht Leute. Nur drei, allerdings ein wenig zwielichtige, Individuen (27,3 Prozent) waren für einen Abzug. Ein verblüffender Anstieg der Positivstimmen bei der FU-Umfrage.

Möglicherweise liegt das daran, daß die Berliner Forscher einige Afghanen nicht befragen konnten, weil diese sich gerade auf Urlaubsreisen in unzugängliche Gebirge befanden. Sonst wären es sicher hundert Prozent geworden.

Bleibt nur die Frage, wieso unsere tapferen Truppen mit der albernen einprozentigen Minderheit nicht fertig werden.

Im Prinzip ist es jedoch wohl so, daß die meisten Medienmacher hierzulande spätestens seit der nationalen Wiedererweckung zur We-Emm 2006 die unumstößliche Gewißheit verbreiten, die Welt müsse am deutschen Wesen genesen. Ich kann es mir da nicht verkneifen, ein berühmtes Hamburger Nachrichtenmagazin rückwirkend zum Spitzenreiter zu erklären. Im Sommer letzten Jahres (Der Spiegel 27/07) hatte das Blatt seine Titelgeschichte einer archäologischen Sensation gewidmet: Im seit jeher fossilienfundträchtigen schwäbischen Jura war das weltweit älteste bisher bekannte Artefakt gefunden worden, die zwei Zentimeter große, aus Knochen geschnitzte Skulptur eines Mammuts. Das Stück ist 35.000 Jahre alt. Schlußfolgerung des Spiegel: »Die Kunst wurde in Deutschland erfunden.«

Mein Gott – und da war uns doch schon die Sache mit dem Tausendjährigen Reich immer ein wenig peinlich gewesen.