erstellt mit easyCMS
0408

Bemerkungen

Keine Chance
Hätte die sprichwörtliche eierlegende Wollmilchsau bei einem deutschen Personalchef eine Chance? Wahrscheinlich nicht, denn da sie weder die Traglast eines Kamels noch die Schnelligkeit eines Araberpferdes besitzt, würde er sie als »unzureichend qualifiziert« abweisen.
»Deine Chance: 3 Bewerber, 1 Job« heißt die einstündige Sendung, die der private Fernsehkanal Pro7 an fast jedem Nachmittag bringt. Regelmäßig wetteifern drei junge Menschen um eine Lehrstelle oder drei erfahrene Leute mit Berufsabschluß um eine Arbeitsstelle. Unter den Argusaugen des zukünftigen Chefs tun sie alles, um sich anzudienen, Überstunden inklusive. Am Ende erhält dann jener den Zuschlag, der am besten gearbeitet hat oder dem Chef am besten gefällt. Dem aufmerksamen Zuschauer wird oft klar, daß sich beides nicht unbedingt deckt.
Genauso klar wie die Tatsache, daß noch die kleinste Kritik an den Bewerbern groß herausgestellt wird, während der Chef frei von Mängeln zu sein scheint. Jovial stellt er mit der Stoppuhr seine Prüfungsaufgaben, und die drei Kandidaten dürfen rennen.
So ist sie, die neue deutsche Arbeitswelt im Spiegel der neuen deutschen Medienwelt. Ganz und gar amerikanisiert. Zustände oder Mißstände werden nicht hinterfragt, im Beruf hängt angeblich alles nur von individuellen Fähigkeiten und vom persönlichen Aufstiegswillen ab.
Eine Lehrstelle zu finden, wird zum Treffer im Lotto: sehr unwahrscheinlich.

Stefan Hug

Glückliche Reise
Allmonatlich liegt es in allen überregionalen Zügen der Deutschen Bahn AG aus, das Magazin mobil. Immer ansprechend aufgemacht. Immer mit dem einen oder anderen Beitrag, der Interesse weckt. Eine objektiv-kritische Berichterstattung über die Bahn selbst ist freilich ausgeschlossen. Das liegt sozusagen in der Natur der Sache. mobil ist eben ein Werbeblatt der Bahn.
Doch neuerdings scheint es einem anderen Zweck zu dienen: Immer eifriger wirbt es für private Aneignung des öffentlichen Raumes und der öffentlichen Einrichtungen. Die Autoren hofieren Unternehmertum und Kapitalismus und singen das Hohelied der Entdemokratisierung von Wirtschaft und Gesellschaft.
In diesem Sinne rezensiert Arnulf Baring ein Buch des Bild-Chefredakteurs Diekmann:»gelungene Streitschrift wider den Zeitgeist«. Als würde der Zeitgeist nicht maßgeblich von der auflagenstärksten Zeitung im Lande geprägt.
Die Leistungen des Managers Hubert Kus werden gewürdigt: tonnenweise Erz, milliardenschwere Umsätze. Arbeiter kommen nicht vor, nur einmal, in einem Nebensatz: Da wird festgestellt, Kus wisse, »was die Stahlkocher (…) brauchen«. Da scheint es denn auch sinnvoll, daß er für sie entscheidet.
Ein Pharmaunternehmer nennt es »einen guten Weg«, daß »Hilfsorganisationen Privatunternehmen unterstützen mit dem Ziel, Arbeitsplätze zu schaffen«.
Wie dem Lobgesang auf eine private Hochschule zu entnehmen ist, coached die Hertie School of Governance die Kinder Besserverdienender (Studiengebühr: 20.000 Euro) für ihre spätere Karriere »in Ministerien oder Organisationen wie der UNO, WHO oder ­UNICEF«;und Hertie produziert auch den eigenen Nachwuchs.
Der »exzellente Ruf Jenas«, der »Stadt der Wissenschaft 2008«, gründet sich, wie die Bahnreisenden erfahren, »auf die enge Verzahnung von Wissenschaft und Industrie«.
Am Beispiel der Therme Bad Aibling führt mobil dem Hartz-IV-Empfänger, sofern er sich noch Bahnfahren leisten kann, vor Augen, daß Heilbäder höheren Profit abwerfen, wenn keine armen Menschen mehr behandelt werden. In zehn Jahren ist die Zahl der Patienten, denen eine Kur bewilligt und bezahlt wurde, um drei Viertel gesunken, dafür verlangt man jetzt viel höhere Eintrittspreise.
Im Interview mit dem vormaligen Landtagsabgeordneten der CDU und heutigen DFB-Präsidenten Theo Zwanziger insistiert Wolfgang Golz auf einen Börsengang des Deutschen Fußball-Bundes, der dann doch weniger Zwängen unterliegen würde.
Auch Bahn-Chef Mehdorn kommt zu Wort, der Freund der Lokführer und der Verfassung – zu einem Thema, welches ihm sonst fremd zu sein scheint: Er schwadroniert über soziale, ökologische und gesellschaftliche Verantwortung.
*
Es paßt ins Bild, wenn die Bahn AG für das Gedenken an die europäischen Deportationsopfer, an denen ihr NS-Vorgängerunternehmen, die Deutsche Reichsbahn, reichlich verdient hat, mehrere zehntausend Euro verlangt. Der »Zug der Erinnerung« mit einer Ausstellung über die deportierten Kinder und Jugendlichen fährt nämlich auf deutschem Schienennetz.Weitere Gelder fordert die Bahn AG (s. german-foreign-policy.com), »weil die Besucher auf dem Weg zur Ausstellung die Bahnsteige betreten. Auch für die Beleuchtung der Opferfotos und letzten Briefe im ›Zug der Erinnerung‹ will die BahnAG kassieren – insgesamt mehr als 50.000 Euro.«
Andreas Stahl

Irak
war in den 1970/1980er Jahren ein reiches Land. Das Öl sprudelte, die Gewinne wurden zu großen Teilen in die hoch entwickelten, unentgeltlichen Bildungs- und Gesundheitssysteme investiert. Daran zu erinnern, heißt nicht, den Diktator Saddam Hussein zu verherrlichen, der sich mit dem Nachbarland Iran bekriegte, die Kurden unterdrückte und die Kommunisten verfolgte.
Was inzwischen aus dem Irak geworden ist, sagen schon einige wenige Zeilen aus einem Brief der österreichischen Ärztin Eva-Maria Hobiger, die mit ihrer Initiative »Aladins Wunderlampe« besonders in der südirakischen Stadt Basra hilft und darüber schon wiederholt in Ossietzky berichtet hat: »Mehr als in jedem anderen Land der Erde stieg die Kindersterblichkeit an. So starben im Jahr 2005 im Irak 122.000 Kinder, bevor sie das fünfte Lebensjahr erreichten. Und das Gesundheitssystem verschlechtert sich weiter. Mehr als die Hälfte der Ärzte hat das Land verlassen; man findet kaum mehr Fachärzte im Irak. Die Unterernährung der Kinder steigt alarmierend an; das wird sich fortsetzen, denn die Lebensmittelverteilung wird drastisch gekürzt ...«
Kürzlich konnte Eva-Maria Hobiger wieder Medikamente im Wert von 150.000 Euro an das Kinderkrankenhaus in Basra schicken; schwerkranke Kinder werden in Österreich, Deutschland, der Schweiz und Frankreich behandelt. Spendenkonto: Bayerische Hypo- und Vereinsbank AG, BLZ 38020090, Konto-Nr. 0364524226 »Aladins Wunderlampe Deutschland e.V.«.
Ein umfassender Überblick über die Lage im Irak fünf Jahre nach Beginn der US-amerikanischen Okkupation ist von der Internationalen Irak-Konferenz zu erwarten, die unter dem Motto »Alternativen zu Krieg und Besatzung« vom 7. bis 9. März in der Berliner Humboldt-Universität (Fritz-Reuter-Saal) stattfinden wird (www.irakkonferenz2008.de)
Red.

Die Nabka
Nakba ist ein arabisches Wort. Das Wort steht für die systematische Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung aus ihrer Heimat, die bis heute geleugnet wird. Der israelische Historiker Ilan Pappe hat sie erforscht und in seinem Buch »Die ethnische Säuberung Palästinas« beim Namen genannt – mit der Folge, daß er in Israel bedroht und aufgefordert wurde, ins Exil zu gehen.
Pappe, bekannt als Direktor des Instituts für Konfliktforschung an der Universität Haifa, zeichnet anhand von Augenzeugenberichten, Tagebuchauszügen und Dokumenten aus Militärarchiven, die bis vor kurzem unter Verschluß gehalten worden waren, ein erschütterndes Bild der Ereignisse der Jahre 1947/48. Doch seine Forschungsergebnisse stehen in eklatantem Widerspruch zur offiziellen Geschichtsschreibung, die den bis heute anhaltenden Exodus der palästinensischen Bevölkerung als Akt systematischer Vertreibung leugnet. Damit löst er wütende Reaktionen aus – auch in Deutschland.
Die ARD-Sendung Titel, Thesen, Temperamente warnte: »Pappe hat eine Mission: Ausgewogenheit und Differenzierung sind seine Sache nicht ... Er nennt sich Historiker, seine Gegner nennen ihn einen Übertreiber und Provokateur.« Ralf Balke, Autor des Buches »Israel«, befand im Tagesspiegel: »Ilan Pappe will den Gründungsmythos Israels entlarven. Dabei entlarvt er sich selbst.« Professor Manfred Lahnstein, ehemaliger Bundesminister und langjähriger Präsident der »Deutsch-Israelischen Gesellschaft«, empörte sich: »Auf dem deutschen Büchermarkt macht ein Buch von sich reden, das der israelische Autor Ilan Pappé ... der sich wohl als ›Historiker‹ bezeichnen würde ... geschrieben hat ... Das ist der brutalste Angriff auf die historische Wahrheit, der mir seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion untergekommen ist.«
Henryk M. Broder: »Pappes exklusivste Beweise sind diejenigen, die er erfunden hat ... Beachten Sie bitte [in Pappes Website] die Abteilung Middle East Scholars mit Links zu Finkelstein, Chomsky und Shahak. Ein Irrer kommt selten allein.« Diese Verunglimpfung formulierte der Spiegel-Autor Broder in seiner Achse des Guten.
Ein Irrer habe die Beweise erfunden, lesen wir bei Henryk M. Broder. Aber das ist ein ohnmächtiger Versuch, sich gegen die eindeutige Beweislage zu stemmen. In den »Central Zionist Archives« findet sich zum Beispiel die Äußerung: »Ich bin für Zwangsumsiedlung; darin sehe ich nichts Unmoralisches.« Sie stammt von dem späteren israelischen Ministerpräsidenten David Ben Gurion und ist festgehalten im Sitzungsprotokoll der »Jewish Agency Executive« vom 12. Juni 1938, also aus einer Zeit, als sich mehr und mehr Juden in Deutschland gezwungen sahen, das Land zu verlassen und als jüdische Nationalisten daran gingen, in dem von Arabern bewohnten Land einen jüdischen Nationalstaat zu gründen. Pappe benutzte die Archive der Israel Defense Forces (IDF) und die der Untergrundmiliz Hagana, in denen der von später führenden israelischen Politikern am 10. März 1948 verabschiedete Plan D zur ethnischen Säuberung Palästinas sowie die Einsatzbefehle an die militärischen Einheiten zur Umsetzung dieses Plans zu finden sind. »Die Befehle gaben detailliert«, so schreibt Pappe im Vorwort seines Buches, »die Einsatzmethoden zur Zwangsräumung vor: groß angelegte Einschüchterungen; Belagerung und Beschuß von Dörfern und Wohngebieten; Niederbrennen der Häuser mit allem Hab und Gut; Vertreibung; Abriß und schließlich Verminung der Trümmer, um eine Rückkehr der vertriebenen Bewohner zu verhindern. Jede Einheit erhielt eine Liste mit Dörfern und Stadtvierteln, den Zielen dieses Masterplans.« Die Belege für all das sind in Ilan Pappes Buch aufgelistet.
A. Fikentscher und A. Neumann
Ilan Pappe: »Die ethnische Säuberung Palästinas«, Zweitausendeins, 413 Seiten, 22 Euro

Stolpersteine
Lizzie Dorons neuer Roman »Der Anfang von etwas Schönem« erzählt vom Nach- und Fortwirken der Vergangenheit in den Kindern von Überlebenden der Shoah. Amalia lebt in Tel Aviv, Cesi in Paris, Gadi in New York. Drei Menschen, drei Perspektiven, eine Geschichte. Ein Lied löst sie aus.
Amalia, die Rundfunkmoderatorin, läßt zum Abspann des Nachtprogramms einen »Schlager aus dem Lager« spielen: »Still, still mein Kind, schweig still, hier wachsen Gräber.« Die Redakteurin tobt, ein Hörer aus Paris ruft an, bedankt sich, bittet Amalia um Rückruf. Der Mann ist Cesi Sonnenschajn. Amalia, die Moderatorin, ist Malinka Zuckmayer. Gemeinsam erlebten sie ihre Kindheit »im Viertel« in Tel Aviv.
Jahrzehnte danach bringt dieses Lied die Geschichte von Amalia/Malinka, Cesi und Gadi in Bewegung. Cesi, der Anrufer aus Paris, Historiker und Architekt, erinnert Amalia an die Sehnsucht ihrer Mütter nach Ustryzki Dolne, dem Heimatstädtchen im Polnischen. Cesi will das polnische Judentum wiederbeleben. Er bereist mit Amalia die Stätten jüdischen Lebens und Sterbens in Polen. Sie aber trifft ihn in der Erwartung, ihn zu heiraten.
Herb, witzig, klug, voll berstender Trauer und Liebe ist dies Buch. Hand- und Herzschrift von Lizzie Doron. Was sich, auch in Rückblenden, an Geschichte und Geschichten zusammenschiebt, was sich eingelagert hat in die jungen Seelen, wie sie versuchen, bewußt und unbewußt, ihr Geworfensein in dies von der Shoah geprägte Leben auszuhalten, zu bewältigen, ihm einen Sinn zu geben, all das fasziniert. Wie sie, von den Schatten des Todes unausweichlich begleitet, auf der Flucht vor der Last des Erbes innehalten und sich der Verantwortung stellen, läßt den Leser nicht wieder los. Wie ein Archäologe legt die Autorin das Erlebte und Ererbte, in Schichten abgelagert in den Biografien ihrer Figuren, frei. Man meint, ihre Herzen in der Hand zu fühlen, das Zucken und Schlagen zu spüren. Trotz Schmerz und würgender Ohnmacht will man erfahren, was von damals nachwirkt bis in die Zukunft hinein.
Die zermalmenden Fakten sind eingebunden in eine turbulente Geschichte, in der liebenswerte Menschen ihr sehnsüchtiges, besonderes Leben versuchen. Eine Geschichte wie alter Rotwein, mit Bodensatz. »Wir werden nicht aufgeben, wir werden Hitler nicht den Sieg überlassen. Tief im Herzen eines Juden liegt noch die alte Sehnsucht, und irgendwann werden in Polen wieder Jankeles und Mojscheles herumlaufen, man wird hier Jiddisch hören, und von hier wird das ›Schma Israel‹ zum Himmel aufsteigen.« Cesi sagt das und will künftig mit Amalia in Ustryzki Dolne leben, es auferstehen lassen. Amalia friert. Sie erbricht bei dem Gedanken. Sie kehrt zurück, unverheiratet, mit einem Haufen Grabsteinstücke, die von nun an in ihrem Leben liegen. Stolpersteine.
Anne Dessau
Lizzie Doron: »Der Anfang von etwas Schönem«, Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, 258 Seiten, 18,80 €

Im Schatten
Schriftstellerbriefe enthalten meist eine schöne Mischung aus biographischen Details, persönlichen Bekenntnissen, Beziehungskonflikten und Rückschlüssen auf das Werk des Schreibers, deshalb liebe ich Briefausgaben. Daß der Herausgeber einen großen Anteil daran hat, ist mir klar, und es kann einer Edition durchaus dienlich sein, wenn er über intime Kenntnisse verfügt. Vielleicht.
Nun also der Briefwechsel des vor sechzig Jahren gestorbenen Hans Fallada mit seiner Frau Anna, dem Vorbild des »Lämmchen« aus »Kleiner Mann, was nun«. Eine der liebenswertesten Frauengestalten in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Fallada nennt Anna »Liebes Mädchen«, »min Söte«, »liebste Suse«, »Suserisch« und schließlich »Olle Musch«. Zärtlich begann es, als er nach einem Gefängnisaufenthalt der jungen Hamburgerin begegnete und hoffte, endlich Halt, Mutterersatz und einen guten Kameraden auf Lebenszeit zu finden. Anna Ditzen wollte all das gern sein, doch die späteren Affären, Lügen, Alkohol- und Drogenprobleme vergifteten die Gemeinschaft. 1944 konnte sie nicht mehr und kündigte den Lebensbund.
Das hatten Falladas Biographen schon mehr oder weniger genau beschrieben. Leider enthalten die nun veröffentlichten Briefe – nur ein Viertel des tatsächlichen Bestands – nicht viel mehr. Herausgeber ist der Sohn Uli Ditzen, der nicht über den eigenen, den Sohnes-Schatten springen konnte. Das Elternbild sollte nicht mehr »beschädigt« werden, was immer er damit meint. Außerdem nahm er sich als Laie das Recht heraus, notwendige Recherchen und sachkundige Anmerkungen zu unterlassen. Schade für die Fallada-Literatur, denn nun wird es vielleicht wieder sechzig Jahre dauern, bis die notwendige Ergänzung folgt.
Christel Berger
Hans Fallada/Anna Ditzen: »Wenn Du fort bist, ist alles nur halb. Briefe einer Ehe«, hg. von Ulrich Ditzen. Aufbau Verlag, 518 Seiten, 24,95 €

Upton Sinclair
war in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts der in Deutschland meistverkaufte und meistgelesene amerikanische Autor. Sein Debüt als Schriftsteller gab er im Jahre 1906 mit einem Roman, der zuvor in Fortsetzungen in einer Zeitschrift erschienen war: »The Jungle« – in Deutschland noch im selben Jahr unter dem Titel »Der Sumpf« herausgegeben. Sinclair deckte darin schonungslos die skandalösen sozialen und hygienischen Zustände in Chicagos Fleischindustrie auf. Nichts in dem Roman ist Fiktion. Die Tatsachen waren bis ins kleinste Detail überprüfbar. Die Unternehmen kochten vor Wut, denn Sinclair brachte sie um ihre Profite, und so manche Konservenfabrik war bald bankrott. Die Verbraucher rebellierten, als sie erfuhren, wie ihr geliebtes Cornedbeef hergestellt wurde. Die Wirkung des Buches war so nachhaltig, daß sich Präsident Roosevelt einschaltete und Upton Sinclar eine Audienz gewährte. Der Kongreß verabschiedete schließlich ein vom Präsidenten initiiertes Bundesgesetz zur Hygiene in den Fleischfabriken. »The Jungle« wurde noch im selben Jahr in siebzehn Sprachen übersetzt – und Upton Sinclair weltberühmt. Spätere Arbeiten – 60 von insgesamt 90 wurden ins Deutsche übersetzt – fanden ebenfalls begeisterte Leser: »König Kohle«, der bedeutendste Roman nach dem Erstling; »Der Sündenlohn«, eine vernichtende Studie über den Journalismus; »Jimmie Higgins«, einer der großen Romane über den Ersten Weltkrieg; der Sacco-Vanzetti-Roman »Boston« ...
Jetzt ist ein Buch erschienen, das den Autodidakten, der sich das Lesen und das Schreiben selbst beigebracht hatte, sowie dessen umfangreiches Werk auf eine besondere Art in Erinnerung ruft. Der Leipziger Journalistikwissenschaftler Edmund Schulz hat eine immense Arbeit geleistet, um das gesamte in deutscher Sprache vorliegende Werk Sinclairs zu erschließen. Da werden nicht nur die deutschsprachigen Buchausgaben penibel aufgelistet und mit diversen Informationen zur verlegerischen Arbeit versehen, sondern Schulz liefert auch eine umfassende Aufzählung der Sinclair-Texte in der Presse, in Anthologien, Sammelbänden, Briefbänden, nennt sämtliche Verlage, die Sinclair ediert haben, die Übersetzerinnen und Übersetzer, die deutschsprachige Literatur über Sinclair einschließlich ungedruckter Hochschulschriften. Eine Kurzbiographie sowie ein Abriß der Editionsgeschichte in Deutschland werden ergänzt durch Reproduktionen von Dokumenten und Erstausgaben sowie zwei publizistische Leckerbissen: Upton Sinclairs Offener Brief »Ist der Sumpf wahr?« nebst der Botschaft des Präsidenten Roosevelt an den Senat und das Repräsentantenhaus und eine Abhandlung von Wieland Herzfelde (Malik-Verlag) zum 50. Geburtstag von Upton Sinclair. Alles in allem ein Glanzstück. Neben dem wissenschaftlichen Wert eine Inspiration zum Griff in den Bücherschrank: Upton Sinclair ist noch immer spannend.
Klaus Haupt
Edmund Schulz: »Upton Sinclair. Bibliografie seiner Werke in deutscher Sprache«, Schöneworth Verlag, 141 Seiten, 15 €, Bestellungen bei: Dr. Edmund Schulz, Hans-Marchwitza-Straße 2/513, 04279 Leipzig

Die Initiatorin des Frauentags
Immer, wenn ich den kleinen brandenburgischen Ort Bergfelde passiere, freue ich mich, daß es dort eine Straße gibt, die den Namen Clara Zetkin trägt. Im Straßenbild zwischen Ostsee und Erzgebirge ist dieser Name seit den massenhaften Umbenennungen nach 1989 nicht mehr selbstverständlich.
Doch halt: Da ist dieser 8. März, dieser »Internationale Frauentag«, der heute selbst im Jahreskalender des Verlages Aenne Burda in Großbuchstaben verzeichnet ist. Daß er aber von der Sozialdemokratin Clara Zetkin 1910 ins Leben gerufen wurde, verschweigen unsere Medien beharrlich. Schließlich gehörte Clara Zetkin seit 1919 zur KPD.
An dieser Stelle deshalb eine kleine Erinnerung. Damals, 1910, fand in der dänischen Hauptstadt Kopenhagen die zweite internationale Konferenz sozialistischer Frauen statt. Delegierte aus 17 Ländern beschlossen auf dieser Zusammenkunft, in allen Ländern jedes Jahr einen »Frauentag« (nicht etwa »Muttertag«) zu veranstalten, »der in erster Linie der Agitation für das Frauenwahlrecht dient. Die Forderung muß in ihrem Zusammenhang mit der ganzen Frauenfrage der sozialistischen Auffassung gemäß beleuchtet werden. Der Frauentag muß einen internationalen Charakter tragen und ist sorgfältig vorzubereiten.« Der Antrag war unterschrieben von Clara Zetkin, Käthe Duncker und Genossinnen.
Wird Clara Zetkin am 20. Juni 2008, ihrem 75. Todestag, offiziell gewürdigt werden? Möglich wäre das beispielsweise in Birkenwerder bei Berlin, wo ein kleiner Verein sich bemüht, die im Zug der »friedlichen Revolution« abgewickelte Clara-Zetkin-Gedenkstätte in bescheidenem Rahmen weiterbestehen zu lassen.
Dieter Götze

Zum Thema Geheimdienste
Eine dem deutschen Medienpublikum bis dahin unbekannte, soeben in den niedersächsischen Landtag gewählte Kommunistin namens Wegner wolle die Stasi wiederhaben, wurde bundesweit kolportiert, und sofort distanzierte sich auch die ganze Linkspartei von ihr, wie man es von braven Sozialdemokraten so kennt, wenn sie unter Druck gesetzt werden. Als sich herausstellte, daß sie das Unwort Stasi gar nicht gebraucht, sondern auf eine übelwollende Reporterfrage die einfache Antwort gegeben hatte, die Reaktion werde einen künftigen sozialistischen Staat sicher nicht in Ruhe lassen und er werde zu deren Abwehr wohl auch einen Geheimdienst benötigen, gab es dennoch kein Zurück mehr. Politiker, die in den alljährlichen Haushaltsberatungen des Bundestags und der Landtage immer zuverlässig – trotz aller Skandale – für die Finanzierung der Geheimdienste sorgen, wollen einem sozialistischen Staat das Recht auf solchen Schutz keinesfalls zubilligen. Soweit sie Antisozialisten sind, kann mich das nicht verwundern. Ich dagegen plädiere seit und je für die Abschaffung aller Geheimdienste, denn sie nutzen der Demokratie nicht, sondern schaden ihr. Von Organisationen, die von solchen Repräsentanten des Nazi-Staats wie Schrübbers und Gehlen aufgebaut wurden, war ohnehin nie etwas Besseres zu erwarten.
Zu fragen ist, wie sich Demokraten vor ihnen schützen können. Ich denke: durch möglichst viel Öffentlichkeit.
E. S.

Auf jede Frage eine Antwort
Hat die Temperatur der Speise-Margarine Einfluß auf deren Bekömmlichkeit?
Gewiß. Bei hohen Temperaturen neigt die Speise-Margarine zur Verflüssigung und bleibt demzufolge nicht auf den Frühstücksbroten kleben, was in Schulheften und -büchern zu Fettverfleckungen und diesbezüglichen Tadeln führt. Es empfiehlt sich daher, den Kindern das Scheiben-Frühstück schon vor Schulbeginn im trauten Heim als kombiniertes Teller-Löffel-Gericht anzubieten. Sehr stark gekühlte Speise-Margarine ist wegen ihrer Vereisung aus technischen Gründen nicht mehr verzehrbar. Sie dient manchen Bildhauern als Material für heroische Denkmäler. Diese lösen sich bei Tauwetter von selbst auf, und der verbleibende Ölfilm kann ohne größere Kosten aufgewischt werden. So schnell konnte man säbelschwingende Kriegshelden noch nie von der Bildfläche verschwinden lassen.
*
Die Gewänder mancher politischen Würdenträgerinnen und -Träger, die wir nicht eben selten auf den Fernsehschirmen ganz aus der Nähe sehen, sind – so will es scheinen – einem rätselhaften Schrumpfungsprozeß unterworfen. Droht diese Garderobe aus den Nähten zu platzen, weil sie so oft gereinigt werden muß und dabei jedesmal etwas einläuft?

Die Sache hat einen anderen Grund. Die von Ihnen beobachteten Persönlichkeiten wachsen nämlich wegen ihrer speziellen historischen Genialität ständig über sich selbst hinaus. Jacken wie Hosen, die ständig über ihre Träger hinauswachsen, müssen aber erst noch erfunden werden.
*
Wer hat eigentlich Herrn Professor Hademar Bankhofer, der seit eh und je das Publikum in Zeitungen, Zeitschriften, Fernsehsendungen, Vorträgen beispielsweise darüber aufklärt, daß warme Kleidung im Winter der Gesundheit dienlich sei, den Professoren-Titel verliehen? Oder ist »Professor« der zweite Vorname des Herrn Bankhofer?

Wenn die Menschheit einem Menschen glauben soll, es diene der Gesundheit, sich im Winter warm anzuziehen, glaubt sie das gern nicht irgendeinem anderen Menschen, sondern lieber einem Professor. Das ist nun mal so. Manche Leute werden sogar als Professoren geboren. In Österreich sind viele Kinder schon als Hofräte auf die Welt gekommen. Ihnen aber, werter Leser, wünsche ich Gesundheit; querulierende Fragen machen auch krank!
Felix Professor Mantel

Press-Kohl
Die Berliner Zeitung erschreckt uns Altphilologen mit der Eröffnung, daß Homer überhaupt nicht der blinde Sänger war, für den wir alle – mit Professor Wolfgang Schadewaldt sozusagen an der geistigen Spitze – ihn immer gehalten haben. Überschrieben ist der Enthüllungsartikel von Wolfgang Will mit der donnernden Pauken-Schlagzeile: »Homer war nicht blind, sondern kastriert«. Schadewaldt konnte das leider nicht mehr lesen, weil er schon 1974 sterben mußte. Wie hat der Verfasser der »Iliasstudien« und des Buches »Von Homers Welt und Werk«, frage ich mich, ohne die regelmäßige Lektüre der Berliner Zeitung überhaupt existiert? Deren Mitarbeiter Will hat aber nicht selbst den alten Homer neu entdeckt und dessen Leben auf andere, noch nie dagewesene Art durchforscht. Will läßt uns wissen: »Die Weihnachtsausgabe der Frankfurter Allgemeinen Zeitung überraschte alle klugen Köpfe… Ein Komparatist und Schriftsteller hat dort das Geheimnis Homers gelüftet.« Ein Komparatist ist ein »vergleichender Literaturwissenschaftler«. Was es alles gibt!
»Der neue Homer ist nicht blind, sondern nur kastriert.« Dies schließe der FAZ-Komparatist »aus den meist bartlosen Darstellungen nichtassyrischer Schreiber und findet es in den sexualfreien Versen des Epos bestätigt, in denen der Dichter seinen Triebrest durch den ›Voyeurismus seiner Kampfbeschreibungen‹ sublimiere«.
Voyeurismus ist dem Lexikon der Psychologie zufolge eine »Gewinnung sexueller Befriedigung durch bloßes Beobachten sexueller Handlungen anderer« oder, wie beim FAZ-Homer, durch bloßes Beschreiben kämpferischer Handlungen anderer – falls es stimmt, was der Gewährsmann den Frankfurter Lesern erzählt, dessen Name allein mir wie Schlachtenlärm klingt.
Er heißt Schrott.
*
Wie sah Johann Sebastian Bach aus? Wie Ulrich Thein († 1995) als Bach im DDR-Fernsehfilm (1984)? »Im schottischen Dundee rekonstruiert Caroline Wilkinson streng wissenschaftlich Gesichter, braucht dazu nur den Schädel, viel Erfahrung und ein spezielles Computerprogramm… Zurzeit verarztet Dr. Wilkinson einen der berühmtesten Menschen überhaupt.« (Der Spiegel, 18. 2. 08)
Ihre Nachschöpfung des Bach-Kopfes mag gelungen sein, erinnert nur fatalerweise etwas an Herbert Grönemeyer. Singt aber nicht. Erfreulicherweise.
Felix Mantel