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Die Welt im Berlinale-Spiegel  (Heinz Kersten)

Eine jämmerliche Behausung, in der eine Familie mit drei kleinen Kindern vegetiert. Die Mutter sah wohl einmal besser aus. Ob sie noch Sex habe, fragt die Frau in einer sozialen Einrichtung, die einmal in der Woche Lebensmittel verteilt, und mahnt zur Benutzung von Kondomen. Wer setzt schon noch Kinder in eine Welt, die so aussieht wie diese in brasilianischen Favelas? Der Mann hat keine Arbeit, säuft und schimpft die Frau eine Hure. »Ein beschissenes Leben«, sagt er immer wieder dem Dokumentaristen José Padilha, der mit seinem Beitrag »Garapa« vorführen möchte, was Hunger bedeutet. Garapa ist eine Mischung aus Wasser und Zucker und für viele Familien ein Grundnahrungsmittel. Angesichts steigender Lebensmittelpreise erwartet die UNO, daß 2010 mehr als eine Milliarde Menschen hungern werden.

Die kreischenden Fans hinter den Absperrgittern beim Starauftrieb am roten Teppich der Berlinale wissen nicht, was das heißt. Das Festival hat zwei Gesichter. Neben Glanz und Glamour auf der Leinwand auch das Elend dieser Welt. Ein politisches Festival zu sein, rühmt sich die Berlinale, und wer will, kann in den zehn Tagen abseits allen Rummels auch manches an Aufklärung mitbekommen. Dabei werden sogar 160 Minuten redender Köpfe zu einer spannenden Lektion über den Neoliberalismus. In seinem Film »L’encirclement« läßt der Frankokanadier Richard Brouilette Wissenschaftler und Intellektuelle, Protagonisten und Kritiker die Entwicklung des Begriffs von einer Wirtschaftstheorie zur dominanten globalisierten Ideologie analysieren. Deutlich wird, welche Rolle der Internationale Währungsfond, die Weltbank, die Welthandelsorganisation, Banken, Thinktanks, Parteien und Medien bei der Gleichschaltung spielen.

Das ist erhellender als der bereits im Kino angelaufene Eröffnungsfilm der Berlinale: »The International«, in dem Tom Tykwer das aktuelle Bankenthema als Vorwand für einen Thriller nahm und sich den Traum verwirklichte, einmal im Guggenheim-Museum zu drehen. Das wurde aufwendig in Babelsberg nachgebaut als Kulisse für eine unrealistische minutenlange Schießorgie.

Nicht selten lädt man Filme nur ein, um Stars und Regisseure auf dem roten Teppich vorführen zu können, sich mit bekannten Namen zu schmücken oder Fördergremien zu befriedigen. Im Fall des einst renommierten griechischen Regisseurs Theo Angelopoulos führte das mit »The Dust of Time« zu einem künstlerischen Debakel. Die über Orte und Zeiten von Stalins Tod bis zum Nach-Mauer-Berlin springende Geschichte einiger griechischer Emigranten konnte auch durch die Besetzung mit prominenten Schauspielern wie Bruno Ganz, Michel Piccoli, Willem Dafoe und Irene Jacob nicht gerettet werden. Der chinesische Regisseur Chen Kaige erreichte mit »Forever Enthralled« nicht die künstlerische
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Keine Diskussion
Am Ende der Berlinale wurde zum 24. Mal der Friedensfilmpreis vergeben. In den vergangenen 23 Jahren konnte nachher das Publikum mit dem Preisträger diskutieren. Aus einem persönlichen Gespräch mit dem diesjährigen Preisträger Lawrence Inglee, dem Produzenten des US-amerikanischen Spielfilms »The Messenger«, weiß ich, wie ergiebig eine Diskussion mit ihm hätte werden können. In Diskussionen mit Zuschauern in den USA, so berichtete er, gehe es häufig um solche im Film nicht behandelte Themen wie die Kosten des Krieges, seine Völkerrechtswidrigkeit, die Traumatisierung nicht nur der Täter (der Film begleitet Kriegsveteranen als Überbringer der Botschaft vom Tod eines Angehörigen), sondern der Opfer.

Diesmal gewährte Moderator Christoph Heubner keine Diskussion. Lag es daran, daß vorher im Publikum Proteste laut geworden waren? Sie richteten sich gegen das Jury-Mitglied Ralf Fücks, den Vertreter der Heinrich-Böll-Stiftung (die das Preisgeld von 5000 Euro stiftet). Fücks wollte auf dem Podium klargestellt haben, daß er den Angriffskrieg, den die NATO vor zehn Jahren gegen Jugoslawien geführt hat, für gerechtfertigt hält. Um so notwendiger wäre eine Diskussion gewesen. Und ein Gedankenaustausch über den preisgekrönten Film hätte alle Anwesenden bereichern können. Solcher Austausch hatte bisher immer dazu beigetragen, die Veranstaltung zum Ereignis zu machen. Vorbei?

Elke Zwinge-Makamizile
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Stärke seiner früheren Arbeiten, obwohl er sich ein interessantes Thema gestellt hatte: die Biographie des bedeutendsten Darstellers der Peking-Oper, Mei Lanfeng, zu dessen Bewunderern Bertolt Brecht, Charlie Chaplin und Sergej Eisenstein zählten.

Auch mit 82 noch auf der Höhe seiner Regiekunst erwies sich Andrzej Wajda. »Tatarak« ist ein sehr persönlicher Film, der sich auf zwei Ebenen mit dem Tod beschäftigt. Krysyna Janda spielt nach einer Erzählung von Jaroslaw Iwaszkiewicz eine Frau in mittleren Jahren, der ihr Mann, ein Arzt, verheimlicht, daß sie nur noch einen Sommer zu leben hat. Ihre beiden Söhne sind beim Warschauer Aufstand umgekommen, und sie erlebt noch eine scheue Zuneigung zu einem wesentlich Jüngeren, der beim Baden im Fluß ertrinkt. Parallel hierzu spricht die Schauspielerin über die letzten Tage ihres Mannes, des bekannten Kameramanns Edward Klosinski, der genau wie sie mehrfach mit Wajda zusammengearbeitet hat. Der nach dem Berlinale-Gründer benannte Alfred-Bauer-Preis würdigt dieses Alterswerk des polnischen Regisseurs, wohl auch so etwas wie eine Wiedergutmachung für die unverständliche Entscheidung des Vorjahres, seinen wichtigen Film »Katyn« nur außerhalb des Wettbewerbs zu zeigen.

Ein anderer Großer des Kinos, Costa-Gavras, setzte mit »Eden al l’ouest« den Schlußpunkt der Berlinale und brachte noch einmal ein aktuelles politisches Thema auf die Leinwand: die Odyssee eines Immigranten, der sich von einem Schlepperschiff retten kann, ausgerechnet in einem FKK-Camp für reiche Touristen an Land kommt und sich dann, immer auf der Flucht vor der Polizei, nach Paris durchschlägt. Das hat märchenhafte Züge und damit verdiente Kinochancen.

Die wünscht man auch »London River« von Rachid Bouchareb. Ausgangspunkt sind hier die Bombenattentate des 7. Juli 2005 in der britischen Hauptstadt mit 56 Toten und 700 Verletzten. Die Suche nach ihren vermißten Kindern bringt zwei ganz gegensätzliche Personen zusammen: eine Christin von der englischen Kanalinsel Guernsay und einen in Frankreich lebenden Muslim. Sein Sohn und ihre Tochter haben in London gemeinsam studiert und, wie sich herausstellt, auch zusammengelebt. Ein Schock für die Mutter, die auch dem schwarzen Vater anfangs mit Ablehnung begegnet. Die allmähliche Annäherung der Schicksalsgefährten ist so behutsam wie überzeugend inszeniert. Sotigui Kouyate, der mit seiner hochaufragenden Gestalt und ebenholzfarbenem Gesicht mit Rastalocken wie eine mythische Verkörperung afrikanischer Würde durch London geht, erhielt zu Recht den Darstellerpreis der Jury. Mit einem Silbernen Bären für das beste Drehbuch und dem Friedensfilmpreis wurde Oren Movermans »The Messenger« ausgezeichnet, ein fast kammerspielartiger Antikriegsfilm. Ein im Irak-Einsatz mehrfach verwundeter GI erhält vor Ablauf seiner Dienstzeit noch die Aufgabe, Angehörigen gefallener Soldaten die Todesnachricht zu überbringen, ein makaber bürokratisch regulierter Auftrag, der die Opfer noch im Tod zu entpersönlichtem »Menschenmaterial« degradiert.

Bei Berlinale-Auszeichnungen gibt es schon eine Tradition, für wenig bekannte Filmländer als Überraschungssieger so etwas wie Entwicklungshilfe zu leisten. Diesmal geschah das mit gleich drei Preisen für das uruguayische Debut »Gigante« von Adrián Binicz und dem Goldenen Bären für »La Teta Asustada« von Claudia Llosa aus Peru, das zum ersten Mal am Festival teilnahm. Im zweiten Film der jungen Regisseurin geht es um Opfer der terroristischer Vergangenheit des Landes.

Kein Außenseiter mehr ist das iranische Kino. Schon auf vielen internationalen Festivals verdiente es sich Auszeichnungen. Der Regiepreis für »Darbareye Elly« von Asghar Farhadi, der eine Mittelschicht zwischen Moderne und tradierten Konventionen zeigt, bestätigt nur einmal mehr die Qualität der persischen Filmproduktion.

Fast 400 Filme in zehn Tagen – da kann auch manch Gutes in der Masse untergehen. Allein 98 Beiträge (einschließlich Koproduktionen) kamen aus Deutschland, ein Rekord. Zwei, die gegensätzlicher nicht sein konnten, konkurrierten im Wettbewerb. Ganz privat: »Alle Anderen« von Maren Ade ermüdete mit dem Urlaubsbeziehungsstreß eines gut betuchten Paares in den Dreißigern, polarisierte die Kritik und erhielt zwei Silberne Bären, einen als Großen Preis für die Regisseurin, einen für Birgit Minichmayr als Beste Darstellerin. Sehr politisch: »Storm« von Hans-Christian Schmid läßt eine unbeugsame Anklägerin und ihre Zeugin vor dem Kriegsverbrechertribunal in Den Haag an dessen diplomatischen Rücksichtnahmen scheitern. Die Preise von Amnesty International, der Gilde deutscher Filmkunsttheater und der Leserjury der Berliner Morgenpost würdigten diesen Film über die Ohnmacht des Einzelnen vor dem Räderwerk der Politik.

Ganz komprimiert konnte man die Befindlichkeit deutscher Regisseure an »Deutschland ’09 – 13 kurze Filme zur Lage der Nation« ablesen. Inspiriert wurde das Projekt von der Erinnerung an den Episodenfilm »Deutschland im Herbst« aus dem Jahr 1977. Den naheliegenden Vergleich brachte Initiator Tom Tykwer schon mit den Bemerkungen auf den Punkt, daß jene Reaktion auf RAF, Stammheim und die gespaltene Republik »eine klar fokussierte Thematik hatte«, während »der gegenwartsbezogene Aspekt des (neuen) Films gerade darin liegt, daß es diesen einen eindeutig identitätsstiftenden und spezifizierbaren Reibungspunkt nicht mehr gibt«. Bezeichnend vielleicht, daß die beiden gelungensten Beiträge, Dani Levys »Joshua« und Hans Steinbüchlers »Fraktur«, satirisch-humorvolle Miniaturen waren. Klar politisch positionierten sich Fatih Akin mit »Der Name Murat Kurnaz«, der Rekonstruktion eines Interviews, das der von Außenminister Steinmeier im Stich gelassene unschuldige Guantanamo-Häftling der Süddeutschen Zeitung gegeben hatte, und Hans Weingartner mit »Gefährder« über den Fall des willkürlich überwachten und verhafteten Soziologiedozenten Andrej Holm. Experimentell zugreifend faßt Wolfgang Becker die Lage der Nation in »Krankes Haus« zusammen, repräsentiert durch vielfach leidende Patienten ohne Therapie in einer »Deutschlandklinik«.

Die Berlinale selbst krankt an ihrer Überfülle, zweifelhaften Auswahlkriterien (zum Beispiel waren osteuropäische Kinematografien wieder total unterrepräsentiert) und viel künstlerischem Mittelmaß. Erfolgreich ist sie als Publikumsfestival. Mit rund 270.000 verkauften Tickets registrierte man 30.000 Besucher mehr als im Vorjahr.