erstellt mit easyCMS
Titel0410

Berliner Theaterspaziergänge  (Jochanan Trilse-Finkelstein)

Kein schönes Märchen, dieser Winter, der die Gehsteige vereist und Tausende Berliner mit Knochenbrüchen in die Krankenhäuser verschlagen hat. Da mag ich nicht weit wandern, sondern nehme den kurzen Weg zum Berliner Ensemble am Schiffbauerdamm. Hausherr Claus Peymann hat Goldonis »Trilogie der schönen Ferienzeit« inszeniert, Karl-Ernst Herrmann eine bildhafte wie auch raumbildende weinrote Szene geschaffen, gut durchleuchtet. Man benutzte eine Übersetzung von Piero Rismondo, für das Ensemble eingerichtet von den Dramaturgen Jutta Ferbers und Hermann Beil. Eine im wesentlichen ausgeglichene Gruppe von Spielern machte einen guten und publikums-freundlichen Abend daraus. Also viele gute Voraussetzungen!

Woran lag es nun aber, daß sich der Abend zeitweilig dahinschleppte, daß kein großer Atem aufkam, manche Aktionen, besonders im ersten Teil, aktionistisch wirkten (besonders bei den jungen Männern), die Spielweisen eher kollidierten als zum Gleichklang führten? Gelacht wurde eher über Kalauer als über komödische Konstellationen. Zu bedenken ist, daß Goldoni an einem theatergeschichtlichen Wendepunkt stand, an dem die Commedia durch ein realistisches Volksdrama abgelöst wurde. Die Commedia wirkte noch nach, neue dramaturgische Formen und ausgeprägtere Fabeln kamen über die Aufklärung auf, erforderten neue Spielweisen. Daraus läßt sich die Unentschiedenheit der Aufführung herleiten. Die Regie wollte kaum die Stilmittel der Commedia einsetzen, konnte aber auch kein modernes realistisches Drama spielen. Zu Recht scheute sie die zu Tode gehetzte Aktualisierungsmacke (klassische Helden in Jeans, die auf der Bühne masturbieren), und sie scheute auch eine historische Ausstattung. Heraus kam eine Melange: Die Personen waren Zeitgenossen, doch mit historischem Bezug. Ihr Gestus sagte wenig aus, das Tempo blieb maßvoll. Und es wurde wenig Komisches geboten. Die Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft, die zu des Autors Zeit eben anfing, sich herauszubilden, war zu ahnen, hatte kaum Schlagkraft.

Wie nun Menschen verbogen werden, wie humanes Leben verhindert, verkrüppelt wird, kann letztlich nur von Schauspielern gezeigt werden; das geschah hier sehr unterschiedlich. Katharina Susewind als Giacinta sollte man sich zumindest merken. Da sind Elemente von Schauspielkunst sichtbar geworden, mit viel Arbeit kann sich Besonderes herausbilden. Getragen wurde die Aufführung von den älteren, bewährten Künstlern, allen voran Carmen-Maja Antoni als Sabina, eine bürgerliche Schablonen-Schickse besonderer Art, wirklich komödisch. Corinna Kirchhoff als Constanza beherrscht ihre Mittel, bringt einen – freilich eher spätbürgerlichen – Typus: satirische Komik! Auch Ursula Höpfner-Tabori als Brigida ist zu nennen – die Zofe jener Zeit ist stets handlungs-, damit spielmachend. Bei den Männern blieb am stärksten Manfred Karge als fördernder Intrigant Fulgenzio im Gedächtnis. Auch Martin Seifert und Gerd Kunath trafen mit Spielfreude die richtigen Stellen. Sonst: Meist nur Punkte in der Landschaft. Keine meisterhafte Regiearbeit eines sonst hochgeachteten Meisters! Schade.

Anders Gorkis »Nachtasyl« Es meint die Menschen ganz unten, die Ausgeschiedenen, Ausgestiegenen, Miß- und Verachteten, die verloren sind – es sei denn, sie geben sich selbst nicht verloren, formieren sich, kämpfen um eine andere Gesellschaft. Einige dieser Menschen von unten haben oder hätten das Zeug dazu: der Baron, der Pilger Luka, der Schauspieler und Satin, der Starke. Den Inhalt muß ich nicht erzählen, das 1902 im Moskauer Künstlertheater uraufgeführte Stück ist fast ein deutsches, ja Berliner Stück geworden: 1903 war bereits die deutsche Erstaufführung im Berliner Kleinen Theater unter den Linden, Inszenierung Richard Vallentin. Den Luka spielte kein Geringerer als Max Reinhardt, es gab bis 1906 etwa 600 Vorstellungen. 1909 brachte es die Volksbühne heraus, 1916 erneut, 1926 inszenierte es Piscator mit Heinrich George als Satin, Alexander Granach als Luka. Auch im Exiltheater wurde es gespielt, unter anderem in Zürich, inszeniert von Leopold Lindtberg, und gleich nach dem Krieg im Hebbeltheater in Berlin. 1957 wurde es im Maxim-Gorki-Theater zum Dauerbrenner, diesmal in der Regie von Richard Vallentins Sohn Maxim. 1992 kam es in einer Produktion von Andrea Breth in der Schaubühne.

Nun im BE. Auch diese Bühne war nicht ohne Gorki-Erfahrung: 1949 inszenierte Berthold Viertel die »Wassa Schelesnowa« mit Therese Giehse, 1979 Manfred Wekwerth den »Jegor Bulytschow« mit Kurt Böwe in der Titelrolle. Wieder 30 Jahre später nun also »Das Nachtasyl«. Thomas Langhoff inszenierte mit Alexander Wolf diesen nun über 100 Jahre alten Text als Krisenstück mit voller Parteinahme für die da Unten, gegen das Oben. Das Asyl sah innen so aus, wie solche Stätten christlich-sozialstaatlicher Machart auszusehen pflegen; zumindest kann man sie sich vorstellen. Hier verbinden sich Historizität und Aktualität nahtlos. Pikant: Nahezu alle wichtigen Hauptrollen waren mit herausragenden früheren Schauspielern des Deutschen Theaters erstklassig besetzt, namentlich Christian Grashof als Luka – noch nie sah ich einen so guten –, Roman Kaminski als Schauspieler – in dessen Schwäche von tragischer Größe, Alexander Lang als Satin, der allemal das letzte Wort hat.

Man vergegenwärtige sich die Schlußszene: Sechs Personen singen »Auf und nieder geht die Sonne« – ein revolutionäres Lied. Da ruft der Baron in die Szene: »Auf dem Hof hat sich der Schauspieler erhängt!« Darauf Satin: »Jetzt versaut er uns das Lied. Idiot!« Da kam etwas ins Volk: Wir lassen nicht alles mit uns machen.

Was kann Theater mehr?