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Titel0411

Hiddensee  (Barbara Thalheim)

Am Horizont glitzert die Insel wie in Zuckerwatte verpackt. Nur der Leuchtturm auf dem Hochland trägt in den letzten bitterkalten Tagen des Jahres noch stolz seine rote Mütze. Eine Bettdecke aus Schnee hat sich über alles Farbige gelegt. Die Insel schläft. Schwäne auf dem Eis schauen ängstlich zu dem Monster auf, das schnaufend und knirschend an ihnen vorüberzieht: einem Eisbrecher, der Wintergäste zur Insel bringt und die Fahrrinne frei hält.

Im überfüllten Passagierraum werden Schoßhunde aus Thermotaschen, Kleinkinder aus Daunenoveralls befreit, Fläschchen für Babys aufgewärmt. Handys surren, husten, singen, tröten, aufgeklappte Laptops blinken und teilen Besitzer durch Preisgabe ihrer Markennamen in Kasten ein. Gäbe es ein Unterdeck auf diesem Passagier-Dampfer, wer von diesen Menschen hier reiste unten?

Keiner?

Die Romantik der Einfachheit wird beschworen, die Insel wirbt mit dem, was sie garantiert nicht hat: Autoverkehr, Hotelketten, Hochhäuser, Nachtbars, Diskotheken, Strandpartys, Büchsenbier, Animateure.

Jeder auf diesem Schiff fährt auf seine Insel, obwohl die Wenigsten eine ernsthafte Liaison mit der Schönen hatten, mit deren Bekanntschaft man sich gern schmückt. Eine Minderheit nur, verschwindend gering, gehört zu den Zurückgeliebten. Die von der Insel Zurückgeliebten erkennen einander. Wie? Das bleibt ihr Geheimnis.

Bis in die achtziger Jahre hinein war jede Überfahrt ein Klassentreffen. Wenn man sich sonst nicht begegnete, auf dem Dampfer zur Insel traf man sich! Wer in sein Haus oder zu jemandem auf der Insel in ein Haus fuhr, wer ein FDGB-Zimmer, einen umgebauten Hühnerstall bezog oder heimlich im Wald und am Strand schlief, interessierte letztlich nicht wirklich. Das Statussymbol war die Insel selber und der Wunsch, das Einssein mit ihr mit anderen zu teilen.

Daß ich eine Schneeflocke wär, irgendwo da rings um dich her ..., schallt es am Silvestervormittag aus den Boxen von Angel-Arndt’s eigens für diesen Tag hergeschleppter Disko-Anlage am Hafen, … tanzte ich so wunderschön, bis du bliebst stehn.. Wattewolken lassen am letzten, eisigkalten Tag des Jahres passend zum Song Schneeflocken auf Urlauber rieseln, die gut gelaunt der Aufforderung zu tanzen, stehen zu bleiben, mitzusingen folgen und dabei kleine Hauchfahnen als Jahresendgrüße in den Inselhimmel schicken. Angel-Arndt schiebt die Regler hoch, die Musik wird lauter.

... und dein Weib will dich weiterziehn, laß sie tanzen, laß sie verblühn, aber dir fällt etwas ein. Geh Weib, laß sein. Fast jeder hier kennt diesen Hit aus den Achtzigern. Aber fast niemand weiß, daß die Väter des Liedes, der Texter und der Komponist, in den letzten zwei Jahren starben. Der Eine, indem er sich das Leben nahm, der Andere, indem ihm das Leben genommen wurde.

Angel-Arndt ist in Bestform, reißt die Arme hoch, dabei rutscht er wie ein Derwisch auf der spiegelglatten Eisfläche, die sich unter seinen Füßen gebildet hat, hin und her. Die meisten hier kennen den kauzigen Hobby-Angler aus ihren Insel-Sommern. Aber kaum einer kennt die Geschichte des siebzigjährigen Bauingenieurs, dessen Ausreiseantrag aus der DDR behördlich genehmigt wurde, als die Mauer bereits gefallen war. Als Pensionär ließ er sich auf seiner Insel nieder, die er in den Sommern der sechziger Jahre kennen gelernt hatte. Angel-Arndt ist ein Zurückgeliebter. Die Insel beschenkt ihn reichlich. Aber um den Preis der Einsamkeit, nicht nur in den Wintermonaten. Die Metapher für Insel ist Paradies. Die Hölle aber auch.

Der Schnee knirscht unter den Stiefeln, es ist eiskalt, Arndts Glühweinausschank kommt kurzzeitig wegen zu großer Nachfrage ins Stocken. Zwischenzeitlich ruft er in sein Mikrofon: »Wer bei diesem Song nicht mitsingt, kommt nicht von hier!« Wobei mit »hier« nicht die Insel, sondern der Osten gemeint ist. Prompt singen auch die mit, die den Song gar nicht kennen. Es ist wie beim Gottesdienst, wenn sich Ungläubige der schönen Orgelmusik wegen unter Gläubige mischen. Nichts wärmt so sehr wie ein gewisses Dazugehörigkeitsgefühl im Moment der Fremdheit.

... will sie fangen mit der Stirn. Sie erinnert mich an irgendwas. Will nicht mehr als Herz und Hirn. Soll’n mir sagen wie, wann, wo und was ...

Zwei junge Frauen mit Gepäck gesellen sich zur Eisdisko am Hafen. Sie suchen ein neues Quartier. Ihre Pension sei ab heute ausgebucht, eine Reisegruppe werde erwartet. »Stimmt nicht«, sagt ein Insulaner, »der will seine Pension nicht heizen wegen nur eines belegten Zimmers. Das rechnet sich nicht.« Die Frauen sind irritiert.

Die Pension, in der die Frauen wohnten, war vor 1989 das Ferienhaus des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Die Villa gehörte einem Schweden, der nicht enteignet wurde, weil der DDR an guten Beziehungen zum neutralen Schweden höchst gelegen war. Wie Zebras in Afrikas Savannen zur Tränke schlichen die Zentralkomitee-Mitglieder und -Angestellten in gestreiften Bademänteln bei Sonnenaufgang hinunter zum Baden ans Meer, worüber bei den »Sielen« – das waren Zusammenkünfte der Inselzurückgeliebten im Wohnzimmer des damaligen Inselpfarrers – kräftig gelästert wurde. Das ZK-Ferienhaus war weder eingezäunt noch wurde es sonst irgendwie bewacht. Zu den Privilegien gehörte auf der autofreien Insel unter anderem eine gemauerte Garage mit einem roten Wartburg darin.

Aus der äußersten Ecke dieser Garage befreite 18 Jahre nach dem Mauerfall die Schweriner Malerin Ute Laux eine Kröte, suppentellergroß und schwarz wie die Nacht, die, ans Sonnenlicht gehoben, binnen kürzester Zeit grün wie eine Meer-Jungfrau wurde. Sie öffnete ihre smaragdfarbenen Glubschaugen und sah ihre Befreierin an, als wolle sie ihr danken. Am darauf folgenden Tag war die Kröte verschwunden. Man fand sie zurückgekehrt in ihre ZK-Garagen-Gruft in ihrer Schmutzlappen-Ecke, in der man sie gefunden hatte. Selbst die kleine Freiheit auf der kleinen Insel war zu viel für sie. Vielleicht hätte ich sie küssen sollen, um sie von ihrem Bann zu erlösen, dachte die Malerin.

1995 wohnte ich einige Tage in der bescheiden eingerichteten Pension, die bis zur Rückgabe an ihren Besitzer an zwei Gastronomen von der Insel verpachtet war. Kleine Zimmer mit kleinen Waschbecken, geschmacklos eingerichtet, Toiletten auf dem Korridor, alles heruntergewohnt. Das Beste war noch die gute Küche und das Frühstück in der gemütlichen Veranda.

Eines Vormittags, als die wenigen Bewohner der Pension beim Frühstück saßen, erschien eine Reisegruppe. Zwanzig Schwaben in gedecktem Beige und Grau traten ein – erschöpft vom kurzen Fußmarsch vom Hafen herauf in das Restaurant der Pension – und setzten sich an die für sie gedeckte Tafel. Die Speisekarte wurde ausführlich ausgewertet, die Unterschiede zwischen Nord- und Ostseeküche wurden diskutiert. Als Getränke auf dem Tisch standen, der erste Durst gelöscht war, sagte eine Schwäbin mit Sternkreiszeichenkette in die kurz eingetretene Stille hinein: »Das hier war also das Ferienheim vom KZ ... Hm. Hab ich mir irgendwie luxuriöser vorgestellt, oder was meinst du, Heinz?«

In Erwartung von Zustimmung sah sie sich unter ihren Mitreisenden um. Die nicht einmal zwanzigjährige Saisonkellnerin, eine Inselzurückgeliebte, berichtigte die Dame und sagte fast gütig: »ZK, ZK«.

Die Schwäbin: »Ja, ZK, KZ, ist doch letztendlich, ich meine: war ja wohl kein großer Unterschied, oder?«

Den Urlaubern an den Frühstückstischen stockte der Atem. Man hörte sie förmlich denken, welche Reaktion jetzt wohl angemessen wäre.

Dann passierte etwas, das man sich niemals ausdenken würde. In der Stille, die der Entrüstung der berichtigten Schwäbin folgte, fiel etwas zu Boden und rollte unterm Tisch hervor. Der Pensionshund rannte hin und schnupperte an dem merkwürdigen Gegenstand: einem Gebiß. Die Kellnerin bedeckte es mit einer Serviette, bevor sie sich bückte, um es aufzuheben. Eine Frau aus der Reisegruppe streckte – rot bis in die Haarspitzen – ihre Hand danach aus. Meine vierzehnjährige Tochter fing an zu lachen und steckte alle, die Gruppe aus Schwaben, die Kellnerin und die Hausgäste an den Frühstückstischen damit an. Alle lachten. Ich nicht. Ich stand auf und ging in meine ZK-Zimmer kotzen. Nicht wegen des Gebisses. ... aber er erinnert sich nicht mehr, Kinderzeit ist lange her und das Schneehaus, das wir uns gebaut, seit zehn Jahren fortgetaut ...

Barbara Thalheims Buch »Vorm Tod ist alles Leben«, dem diese Passage entnommen ist, erscheint zur Leipziger Buchmesse in der Edition Zwiefach. Texter und Komponist des Liedes »Daß ich eine Schneeflocke wäre« waren Kurt Demmler und Franz Bartzsch.