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Titel0411

Verrücktes Blut im Ballhaus  (Anja Röhl)

Das Theaterstück »Verrücktes Blut« im Berliner Ballhaus Naunynstraße, geschrieben von Nurkan Erpulat, dem Regisseur, und Jens Hillje nach einem Film von Jean-Paul Lilienfeld, ist ein eigenwilliger, erstaunlicher Versuch, die Sarrazin-Thesen zu kommentieren.

Der Titel ist hergeleitet vom türkischen Ausdruck für Heißsporn (»deli« = verrückt und »kan« = Blut), für heftige Reaktionen von Jugendlichen auf demütigende Verhältnisse. Die Lehrerin versucht, das zur Gewalt drängende Aufbegehren mit Friedrich Schillers Hilfe in einen vernunftgeleiteten Identitätsfindungsprozeß umzulenken. Daß das nicht einfach ist, zeigt die Pistole, mit der sie sich ausrüstet. Aber damit plädiert das Stück nicht etwa für die Notwendigkeit autoritärerer Erziehungsmethoden, wie die Rezensenten von Bild bis Spiegel kurzschlüssig folgerten, Blättern, in denen man neuerdings offen über das Verbrennen von Stofftieren zur Disziplinierung von Kindern nachdenkt. Methoden der schwarzen Pädagogik feiern da fröhliche Triumphe.

Die Bühne im Ballhaus ist eine Eislauffläche, drumherum sitzen Spieler, die sich vor den Zuschauern erst ausziehen, um sich dann langsam in das Standbild einer Kreuzköllner Jugendlichenklasse zu verwandeln, provozierend, sexualisierend, aggressiv. Das Bild löst sich in Bewegung auf, man sieht Revierkämpfe extremer Art, hört die typische Kanaksprak, die Jungen fassen sich ständig in den Schritt, beschimpfen die Mädchen als Nutten und Schlampen, ignorieren die hereinkommende Lehrerin.

Eine Waffe fällt aus einem Rucksack. Die Lehrerin nimmt sie auf, alle liegen auf dem Boden, zittern, die Angst wird nun sichtbar, die alle beherrscht. Da zitiert die Lehrerin Schiller: »Mein Geist dürstet nach Freiheit« und »Der Mensch spielt nur da, wo er ganz Mensch ist, und ist nur da ganz Mensch, wo er spielt – spielen wir also!« Nun zwingt sie die Jugendlichen in Szenen, in denen sie sich wiedererkennen können. Das Spiel bewirkt Selbsterkenntnis, Annäherung, Durchschauen der Rolle, die jeder spielt – bis zur Entmachtung des an der Spitze der Klassen-Hierarchie stehenden Jungen und zur Verwandlung seines Opfers, eines Kurden, in Franz Moor, den Kältesten. Ein symbolträchtiges Spiel von Befreiung und Wandlung mit Hilfe einer Kunst, die zur Vernunft strebt und Entfremdung aufhebt.

Auch die jungen Frauen emanzipieren sich, allerdings anders, als die Lehrerin gedacht hatte: Das abgeworfene Tuch wird zur Fesselung des Aggressiven benutzt, die Pistole wird aus der Hand gerissen, die Eskalation bleibt aus. Ein vielschichtiges Stück, besonders, als zum Schluß die Lehrerin sich selbst als türkisch-»stämmig« zu erkennen gibt, womit ihre Wut und die fehlende Scheu, die Landsleute Primaten zu nennen, besser nachfühlbar werden.

Die Nachkommen der Einwanderer in unserer Gesellschaft melden sich immer öfter zu Wort. Ihnen, nicht Sarrazin gehört die Zukunft. Wer zu diesem Thema etwas lernen will, gehe ins Ballhaus Naunynstraße. Man erlebt dort eine nahezu perfekte Aufführung (der es freilich nicht geschadet hätte, das Stück ein wenig zu straffen, einige Wiederholungen zu streichen. Herausragend die Schauspielerinnen Sesede Terziyan als Lehrerin und Nora Abdel-Maksoud als Kopftuchschülerin.