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Titel418

Fragen eines lesenden Intellektuellen  (Matthias Biskupek)

Ich habe weder die Worte des Großen Vorsitzenden noch die Sprüche des weisen Adorno als Jugendlicher gelesen, wie meine verehrten Altersgenossen aus Hamburg und Berlin-Wilmersdorf. Hingegen genoss ich den allgemeinbildenden polytechnischen Unterricht an einer erweiterten Oberschule; die Entwicklung der Arbeiterklasse war ein Schwerpunkt, und die Geschichte der KPD in den 20ern wurde ausgiebig vermittelt. Es gab die Linksabweichler mit Ruth Fischer und Arkadi Maslow und die Rechtsabweichler Brandler und Thalheimer, schließlich aber setzte sich das Thälmannsche ZK durch, stets die richtige Linie vertretend. Anfang der 30er gab es Irritationen, weil die KPD um keinen Preis mit der SPD zusammengehen wollte, denn das war der Hauptfeind, genannt Sozialfaschisten …, ganz so vermittelten unsere Lehrer dies nicht, aber man konnte ja lesen, nachfragen, diskutieren. In meiner Heimatstadt Mittweida, im roten Chemnitzer Gürtel gelegen, war die KPD stark. So stark, dass sie bei damals üblichen Saalschlachten gelegentlich mit der SA gemeinsam gegen das Reichsbanner der SPD vorging – selbstverständlich waren das bedauerliche Einzelerscheinungen, erklärten uns die Lehrer, denen wir nicht glauben mussten. Aber schließlich wurden auch in Mittweida die Kommunisten als erste ins nahegelegene KZ Sachsenburg verbracht.

 

Ich habe später auch nicht wie die meisten meiner heute geisteswissenschaftlich publizierenden Kollegen Germanistik, Philosophie und Geschichte studiert, doch bei meinem mathematisch intendierten Ingenieurstudium gehörte Marxismus-Leninismus unabdingbar dazu. Wieder hörte ich von der unbeirrbar richtigen KPD-Linie, verschloss dies aber nicht in meinem Herzen, denn mittlerweile hatte ich andere Wahrheiten gelesen, was so schwer nicht war. Allerdings muss ich derzeit immer mal staunend lesen, was mir alles verboten war und was ich eigentlich alles nicht hätte wissen können in der Unrechtsrepublik.

 

Heute nun erfahre ich, wiederum staunend, wie viele absolut richtige Linien es gibt. Wurde einst die Junge Welt als letzter Hort des real existierenden Sozialismus verbreitet, so spalteten sich dort alsbald die Mehrheitler, also die Bolschewiki, zur Jungle World ab, die entgegen ihrem Titel in deutscher Sprache erschien und erscheint und den Hauptfeind in der jungen Welt sieht. Was im einst groß, heute klein geschriebenen neuen deutschland steht, ist revisionistisch, liebedienerisch, sozialdemokratisch, wenn ich Vertretern der reinen Linie glauben darf. Überhaupt ist die SPD gern wieder mal der Hauptfeind, wenn man nicht gerade einen Linken im Regierungslager findet, wie in Thüringen den Ministerpräsidenten oder in Berlin diverse Senatoren und Bezirksbürgermeister. Dann sind die das Grundübel der Menschheit.

 

In meine Stammkneipe kommt immer gegen elf ein Stammgast, setzt sich an seinen Stamm-Theken-Platz und liest gelegentlich die Bahamas. Dann erklärt er mir, dass die antideutsche Linie die reine, also die richtige ist.

 

Werden Namen genannt, so sind die Meinungen noch klarer: Diether Dehm ist einer, der gar nichts versteht, also ein Dummlack. Katja Kipping hat sich von der Basis entfernt. Sahra Wagenknecht dient eigentlich den äußersten Rechten. Dietmar Bartsch will – schwerer Programmfehler – mit der SPD regieren. Ken Jebsen ist Antisemit, was ohnehin alle sind, die nicht die Jungle World lesen. Nationalistisch kann nur jemand sein, der nicht antideutsch ist, und der Antiamerikanismus ist die Grundtorheit der Epoche. Denn wer nicht für Israel ist, ist für den Terror, der revolutionär ist, weil bereits die KPD in den 20ern …

 

Es gibt in diesem Staat nicht wenige fremdenfeindliche, antiemanzipatorische, nationalistische, waffenliebende Bevölkerungsgruppen. Die gab es immer, sie haben sich auch nach 1945 deutlich zu Wort gemeldet; im Westen sehr deutlich, im Osten verhuscht, weil der Antifaschismus dort eine segensreiche Staatsdoktrin war, aber leider nicht seine pazifistische Entsprechung hatte. Inzwischen gibt es eine größere Partei und eine Handvoll kleinere Parteiungen, die ihre fremdenfeindlichen, antiemanzipatorischen usw. usf. Stimmen in allen Parlamenten, den großen Medien und allerlei elektronischen boy-groups erheben. Sie haben eine Lobby und erstaunlich viele Denk-Fabriken.

 

Den linken Intellektuellen, scheint mir, sind diese Truppen (im Wortsinne) das kleinere Übel; sie dienen letztlich nur dazu, deren Denkrichtung jeweils anderen Linken anzuheften. So wie nach der Vereinigung von KPD und SPD in der sowjetisch besetzten Zone alsbald der Sozialdemokratismus das schlimmste denkbare Verbrechen war, eine Richtung, die die »Partei neuen Typus« einfach nicht akzeptieren wollte. In der (westdeutschen) SPD hingegen bezeichnete man SED-Mitglieder als »rotlackierte Faschisten«.

 

Gewiss gibt es auch einstige Linke, wie Jürgen Elsässer, die zu extremen Nationalbolschewisten geworden sind, weil der Satz von den zu weit links Stehenden, die rechts wieder ankommen, vielleicht doch eine Wahrheit ist.

 

Seit jeher aber hat die Linke die Tendenz, die eigene Meinung vehement zu verteidigen, die einstigen Parteigänger aber besonders heftig zu kritisieren, dazu auch schweres Denunziationsgeschütz aufzufahren. Die Sprache von Marx und Engels hat daran ihren Anteil, die eigenen Leute mit Worten von nichtswürdig und niederträchtig bis zum breitmäuligen Faselhans zu beschimpfen. Was einem nicht passt, was der eigenen, scharf begrenzten Linie widerspricht, ist halt immer »falsches Bewusstsein«. Zur Demokratie gehört der Kompromiss, doch wer solches sagt, ist »kompromisslerisch«, im Sinne von defätistisch, abweichend, zerstörerisch, todeswürdig.

 

Nicht der Gang der Geschichte, womöglich eine Besserung der Verhältnisse, ist entscheidend, sondern die eigene Meinung durchgesetzt zu haben: Willst du nicht mein Bruder sein, so schlag ich dir den Schädel ein, heißt der volkstümliche Spruch. Denn es kömmt nicht darauf an, die Verhältnisse zu ändern, sondern Recht gehabt zu haben.