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Titel420

Res publica amissa?  (Georg Fülberth)

Als Gaius Iulius Caesar sich zum Diktator in Permanenz aufgeschwungen hatte, sah Marcus Tullius Cicero die römische Republik verloren: »res publica amissa«. Dies ist auch der Titel eines berühmten Buches des Althistorikers Christian Meier von 1966.

Caesars Nachfolger Augustus setzte das Zerstörungswerk fort und tarnte es zugleich. Zum Beispiel sind jedes Jahr die Quästoren, die Ädile, die Prätoren und die Konsuln nach altem Brauch gewählt worden: res publica restituta, die wiederhergestellte Republik. Das war die Fassade vor dem neuen Zustand: dem Kaisertum. Mumia Abu-Jamal hat gerade – am Beispiel Trumps und der USA – an diese Transformation Roms erinnert (junge Welt, 10.2.2020).

 

In der Bundesrepublik scheint dies nach Thüringen nicht zu drohen. Es wird vorderhand keinen Faschismus und keinen Caesarismus geben. Björn Höcke steht nicht ante portas. Der von der AfD mitgewählte FDP-Politiker Thomas Kemmerich musste zurücktreten, ein anderes Arrangement, vielleicht sogar mit einem wiederhergestellten Ministerpräsidenten Ramelow (Bodo restitutus), ist denkbar. Republik gerettet?

 

Dies dürfte für deren äußere Verfasstheit gelten. Aber es gibt auch ein Sein hinter dem Schein.

 

Kemmerich log sich in die Tasche, seine Fünf-Personen-Fraktion im thüringischen Landtag habe Björn Höcke zum betrogenen Betrüger gemacht: Mit den AfD-Stimmen habe dieser die Mitte an die Macht gewählt. Sie werde ihren Steigbügelhalter und auch die Linkspartei bekämpfen.

 

In Wirklichkeit aber ist nicht ausgeschlossen, dass über längere Sicht die bisherige Mitte keine breite Fläche zwischen schmalen Rändern mehr ist, sondern nur noch ein Punkt. Die Rechte ist schon längst in die Union eingewandert.

 

Andererseits lassen Umfragen für 2021 eine Bundesregierung aus CDU/CSU und Grünen als möglich erscheinen. Auch dann würde Freude herrschen: res publica restituta. Nicht ausgeschlossen ist aber, dass enttäuschte Anhänger(innen) vor allem der CDU anschließend zur AfD überlaufen und diese dann weiter wächst. Die geschrumpfte Union ist darauf angewiesen, die Hände nicht nur für Grün-Schwarz oder Jamaika frei zu haben, sondern auch dorthin auszustrecken, wohin ein Teil ihrer Basis strebt: nach rechts. Dann wäre Thüringen die Farce gewesen, auf die eine Tragödie erst folgt – vielleicht nicht schon 2021, sondern ein paar Jahre später.

Unter diesem Aspekt ist Erfurt nur eine Nebenbühne. Die Linkspartei, dort stark, schrumpft im übrigen Osten, auf Bundesebene ist sie unverändert von geringem Belang, in den meisten westdeutschen Landtagen nicht vertreten. CDU und CSU müssen keine Abwanderung nach dort fürchten (auch in Thüringen, trotz Ramelows Resonanz in Teilen der Unternehmerschaft, kaum), wohl aber zu den Grünen einer-, der AfD andererseits. Dies geht ihr an die Substanz. So lange die Union von der Totalitarismus-Doktrin (Rot = Braun) nicht lassen kann, würde ein Zugehen auf Ramelow gemäß dieser Wahnvorstellung das Tor zur AfD öffnen. Für Teile ihrer Basis wäre das dann, anders als in Thüringen, kein One-Night-Stand, sondern eine Liebesheirat.

 

Christian Meiers Lehrer Hermann Strasburger, Ordinarius in Frankfurt am Main, erklärte im Februar 1960 den Studierenden in seiner Vorlesung, weshalb einst eine Republik durch ein imperiales Gebilde abgelöst wurde: Bislang habe Rom gleichsam eine kommunale Verfassung gehabt. (Theodor Mommsen bezeichnete die Konsuln als »Bürgermeister«.) Die sei nicht geeignet gewesen, um mit ihr ein Weltreich zu regieren.

 

Jetzt könnte sich eine Parallele zu Deutschlands und der EU Streben nach Weltgeltung ergeben – einschließlich seiner Folgen für die innere Verfasstheit der Bundesrepublik.

 

Nichts ist unausweichlich, auch dies nicht. Wer es abwenden will, darf sich nicht auf die Erfurter Groteske beschränken, sondern wird sich um die Änderung des deutschen und europäischen Gesamtzustands bemühen müssen – einschließlich der Wirtschafts-, Sozial- und – nicht vergessen! – der Außen- und Militärpolitik.

 

Richten wir zum Schluss noch den Blick auf den Thüringer Koalitionsvertrag zwischen Linkspartei, Grünen und SPD. Dort heißt es auf Seite 66: »Die Parteien verständigen sich darauf, nicht mit Organisationen, die das DDR-Unrecht relativieren, zusammenzuarbeiten. Die Koalition wird keine Personen, die direkt oder indirekt mit dem Sicherheitssystem der DDR zusammengearbeitet haben, in Positionen dieser Regierung entsenden. Ebenso sollen Menschen, die leugnen, dass die DDR kein Rechtsstaat war, keine Verantwortung in der gemeinsamen politischen Arbeit für Thüringen wahrnehmen. Mit allen, die in der DDR Schuld auf sich geladen haben, diese Schuld aber eingestehen, bekennen und ihren Beitrag zur Aufarbeitung leisten wollen, werden wir zusammenarbeiten.«

Nein, hier soll nicht noch einmal das MfS-Theater aufgeführt werden. Es ist die Folge einer anderen Tatsache: der vorangegangenen Zerstörung einer nachkapitalistischen Gesellschaft, und sei es durch die Fehler ihrer Politiker und Repressionsorgane – »socialismus amissus«. Auch keine durchgehend schöne Geschichte. Ihre andere Seite sieht so aus: Eine kapitalistische Gesellschaft ohne Alternative wird nie völlig vor dem Abmarsch nach rechts außen sicher sein: 1851 – nach der Niederschlagung der Arbeiterbewegung in der Pariser Junischlacht von 1848 – in den Bonapartismus, 1933 in Deutschland in den Faschismus, jetzt vielleicht in einen Zustand, den der britische Gesellschaftswissenschaftler Colin Crouch als Postdemokratie bezeichnet.

 

1923 gab es in Sachsen und Thüringen Arbeiterregierungen aus SPD und KPD. Der Präsident Friedrich Ebert beseitigte sie durch eine »Reichsexekution« mit Militäreinsatz. Ein konsequenter Weg nach links war dadurch blockiert, zehn Jahre später kam die äußerste Rechte an die Macht. Ähnlich in Italien: Nachdem die Fabrikbesetzungen der »zwei roten Jahre« (binario rosso) 1919/1920 niedergeschlagen waren, folgten die »zwei schwarzen Jahre« (binario nero) 1921/1922 und danach die Herrschaft Mussolinis. Das Scheitern der DDR hat – zunächst vor allem auf dem Territorium des untergegangenen Staates – eine historische Leerstelle hinterlassen, in der Regression sich einnisten kann.

 

Die Geschichte lehrt, dass eine Konterrevolution nicht unvermeidlich in irgendein gemütliches Juste milieu münden muss, sondern zur Reaktion auf der ganzen Linie führen kann.

 

Mit der Revision des Thüringer Putsches wäre eine Lektion aus der Vergangenheit gelernt worden – immerhin ein Abwehrerfolg.