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Alltäglicher Faschismus  (Dietrich Kittner)

Seit bald zwei Jahrzehnten kommen Wochenblätter und sogenannte Nachrichtenmagazine immer penetranter stolzdeutsch daher. »Die Erfindung der Deutschen«, »Die Geschichte des Deutschen Reichs«, »Die Germanen« – so hageln die Serien auf uns nieder. Den bisher skurrilsten Beitrag lieferte der Spiegel, der sich nach dem Fund eines kleinen 35.000 Jahre alten, offenbar von Menschenhand aus Mammutknochen geschnitzten Artefakts im schwäbischen Jura zu der ernstgemeinten Behauptung verstieg: »Die Kunst wurde in Deutschland erfunden« (s. Ossietzky 4/08).

Jetzt schlagen von links bis zur bayerischen Staatsregierung die Wellen der Empörung über das Projekt Zeitungszeugen hoch. Man könne »jetzt Nazi-Zeitungen am Kiosk kaufen«; als ob die auflagenstarke Nazi-anal-Zeitung nicht schon seit Jahrzehnten auf jedem Bahnhof anstandslos angeboten würde.

Mir ist die Erregung unverständlich, zumindest halte ich sie für voreilig. Im Gegensatz zu den meisten Bundesbürgern kenne ich nämlich das österreichische Pendant zu Zeitungszeugen, das in 52 Ausgaben mit Faksimiles die Geschichte Österreichs beziehungsweise »der Ostmark« von März 1938, dem Datum des »Anschlusses«, bis Mai 1945 dokumentiert. Im Dezember 2008 wurde die Serie abgeschlossen (übrigens mit dem Nachdruck eines Plakats, das die zutreffende Feststellung traf, Österreichs Kommunisten hätten den höchsten Blutzoll des Widerstands erbracht).

Zufällig hatte ich im Zeitungsständer unserer Trafik ein Magazin mit der Kopfzeile Nach-Richten entdeckt. Das interessierte mich auf Anhieb, einfach weil dies in den ersten Ossietzky-Jahren der Titel meiner ständigen Kolumne gewesen war. Als ich das Blatt hervorzog, fiel mir als erstes ein Plakat entgegen, das zur Solidarität mit den Verteidigern der spanischen Republik aufrief. Weiters fanden sich die Faksimile-Nachdrucke der bereits im Kopf mit Reichsadler und Hakenkreuz verunzierten Innsbrucker Nachrichten und der in Paris erscheinenden Emigranten-Zeitung Österreichische Post. Von da an habe ich alle Ausgaben regelmäßig erstanden und studiert.

Es gibt sehr gute dickleibige Bücher über den Wahnwitz und die Verbrechen des Faschismus. Wer jedoch dem braunen Alltag hautnah nachspüren will, sollte in die, wie ich finde, verdienstvolle Publikation Zeitungszeugen schauen. Da finden sich neben der brutal menschenverachtenden Goebbels-Rede nach Stalingrad und dem Protokoll der Wannsee-Konferenz auch ein paar Seiten des Drehbuchs einer unsäglichen filmischen Blut- und Bodenschmonzette namens »Heimkehr«. Die Schlagzeile »Reichskriegsflagge auf 5630 Meter«, nämlich auf dem Elbrus im Kaukasus, und folgerichtig später Berichte über »Frontbegradigungen« an der Oder. Selbstentlarvend das NS-Plakat aus der »deutschen Untersteiermark« mit dem Text: »Du gehörst dazu. Lerne deutsch!« Oder ein unsäglich dummer Leitartikel in irgendeinem hakenkreuzgeschmückten Heimatboten über den »Judenlümmel Albert Einstein« gleich neben dem Bericht über den »begeisterten Empfang des Gauleiters beim BDM« in Völkermarkt. Dazu die Schlagzeile vom 23. Juni 1941: »Das deutsche Schwert schlägt zu. Die Antwort auf Moskaus Verrat. Seit Sonntag früh Kampf vom Nordkap bis zum Schwarzen Meer.« Man kann die auf rund tausend Zeitungsseiten ausgebreiteten Ungeheuerlichkeiten nicht alle zitieren.

Bemerkenswert sind die Anzeigen. Da preisen Autohersteller von Daimler-Benz bis Steyr ihre Beiträge zum deutschen Endsieg, da wird ein Buchhalter »nur Pg.« gesucht, da firmieren Opernhäuser unterm Hakenkreuz. Großformatig wirbt 1938 das »Arische Kleiderhaus Pöschl« neben dem »größten arischen Warenhaus Dichter«, und der Simplicissimus annonciert »Arisches Kabarett«. Später: »Mach mit bei der Altspinnstoffsammlung für unsere heldenhaften Kämpfer an der Ostfront« oder »Tausche künstlerisches Porzellanservice gegen ein paar Filzstiefel«. Beeindruckend die stetig steigende Zahl der mit dem Eisernen Kreuz gekennzeichneten Todesanzeigen: »Für Führer, Volk und Vaterland gefallen an der Ostfront ...« Oder auch in Norwegen, in Afrika, an der Westfront. »In stolzer Trauer.« Ab 1943 gibt es bereits Sammelanzeigen.

Die kleingedruckten »amtlichen Bekanntmachungen«. Spaltenweise: »Ich bestelle Herrn Karl Kusel, Wien, 6. Bez. zum Abwickler für nachbezeichnete jüdische Firma ... Der Reichsstatthalter in Niederdonau«. Eine ellenlange Kolonne »Veräußerungsaufträge«. Der Text gleichbleibend: »Ich gebe Oskar Israel und Margarethe Sara Fischer, früher in Frauenkirchen, derzeit unbekannten Aufenthaltes, auf, ihre Liegenschaft innerhalb von 14 Tagen vom Tage dieser Bekanntmachung an gerechnet zu veräußern. Eine Verlängerung der Frist ist ausgeschlossen. Ich bestelle gleichzeitig Herrn Viktor Metzl, Bahnassistent, zum Treuhänder.« Terror ganz bürokratisch.

Dann gibt es gleich über dem Rundfunkprogramm die Rubrik »Vollstreckte Todesurteile« der Sondergerichte gegen »Volksschädlinge«. Oder im Vermischten: »Das Sondergericht Graz hat die in Deutschfeistritz geborene 28jährige Gelegenheitsarbeiterin Berta Eberhart zum Tode verurteilt. Sie hat zahlreiche Einschleichdiebstäle begangen und einen Kinderwagen zum Wegschaffen der Beute benutzt.« Daneben die Ankündigung des Kochkurses der NS-Frauenschaft. Eben der Alltag im Faschismus. Wem die Herrschaftsmaschinerie der Nazis eher nur in der Theorie bekannt war, der spürt sie hier in ihrer brutalen Banalität.

Mich hat ein merkwürdiges Gefühl des Erinnerns beschlichen, als ich den Nachdruck der nur noch aus einem Blatt bestehenden Oberdonau-Zeitung vom 2. Mai 1945 sah, deren Original ich als Neunjähriger in der Hand gehalten hatte. Zu lesen ist da, daß »unser Führer Adolf Hitler im Kampf gegen den Bolschewismus, dem sein ganzes Leben galt, als Soldat in vorderster Front gefallen« sei. Im Kino läuft »Das sündige Dorf«, dann »Der Meineidbauer«, zwei SS-Kriegsberichter schildern nahezu poetisch »das rege Leben in der Frontstadt Passau« und die »zähe Gegenwehr der deutschen Grenadiere im Kampfraum Wienerwald«. Bekanntmachungen über die 76. Lebensmittelkartenperiode »mit Ausnahme des Fleisches« und die hämische Nachricht, daß »die Fleischrationen in Australien um 12 Prozent gesenkt worden« seien. Der Gauleiter rät der Bevölkerung, bei den Kampfhandlungen Ruhe zu bewahren. Es gibt jetzt nicht mehr nur das Sirenensignal »Fliegeralarm«, sondern auch »Feindalarm«. Man vergleiche mit den Jubelpublikationen zum »Anschluß« sieben Jahre früher.

Soweit die eine Seite der Dokumentation Nach-Richten. Dazu aber: Flugblätter des Widerstandes, sowjetische Anti-Hitler-Plakate und vor allem eine Vielzahl von Exil-Zeitungen aus Argentinien, Großbritannien, Brasilien und den USA. Da schreiben Lion Feuchtwanger, Alfred Polgar, Joseph Roth, Egon Erwin Kisch, Hermann Kesten, Oskar Maria Graf ... Das legendäre, mit 32 Seiten wohl umfangreichste deutschsprachige Emigrantenblatt Aufbau (New York) vom 17. Juni 1942 trägt die Schlagzeile »Heraus zum Massenprotest« im Madison Square Garden. Rednerin: Mrs. Eleanor Roosevelt. Man erfährt auch von Auseinandersetzungen mit den Nazi-Organisationen der »Auslandsdeutschen«.

Alles in allem: Zeitdokumente, wie man sie authentischer nur selten bekommt. Sollte das Projekt Zeitungszeugen ähnlich den Nach-Richten gestaltet werden – und dafür scheint mir der nahezu identische Redaktionsstab zu bürgen –, wäre es, entgegen den Befürchtungen von Martin Petersen (Ossietzky 2/09), empfehlenswert. Ich kenne leider nur die Ausgabe 1; was da zusammengetragen ist, finde ich erhellend: Goebbels‘ Angriff jubelt am 31. Januar 1933 und plaudert ungeniert aus, was kommen soll. Die – bis dahin – bürgerliche Allgemeine Deutsche Zeitung schildert wohlwollend-objektiv »die erste Sitzung des Kabinetts Hitler« (»vorläufig kein Verbot der KPD«) und den Fackelzug der SA. Auf Seite 2 ist zu lesen, daß die Polizei »kommunistische Demonstrationsversuche« unter Knüppeleinsatz »mühelos zerstreut« habe. Die SPD wirbt mit dem bekannten eindrucksvollen Plakat »Der Arbeiter im Reich des Hakenkreuzes«. Das KPD-Organ Der Kämpfer ruft zur Aktionseinheit und zum Massenstreik »gegen die Papen-Hitler-Diktatur« auf. So war es.

Jede Dokumentation hat ein Problem: Sie muß auch die Texte der Verbrecher selbst bringen. Ich glaube jedoch nicht, daß irgendwer durch diese Ungeheuerlichkeiten zum Nazi wird. Eher umgekehrt. Andernfalls müßte man doch auch Michail Romms grandioses Dokumentarwerk »Der Gewöhnliche Faschismus« verbieten. Es enthält ausschließlich Filmaufnahmen von Hitlers Kameraleuten.

Wenn die bayerische CSU/FDP-Staatsregierung sich plötzlich besorgt zeigt, kann das durchaus auch andere Gründe haben. Wäre es nicht denkbar, daß sich in den Blättern des dutzendjährigen Reiches lobende Erwähnungen auch heute noch prominenter Wirtschaftsbosse, Aufsätze des Pg Kiesinger aus dem Reichspropagandaministerium oder Globkes Ausführung zu den Nürnberger Rassegesetzen fänden? Oder gar ein blumiger Bericht über den Besuch des NS-Führungsoffiziers Franz-Josef Strauß in der Flakhelferschule Schongau …