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Titel0510

Juden und Muslime  (Thomas Rothschild)

Daß Juden dazu neigen, sich mit ihren eigenen Problemen zu beschäftigen, sie vielleicht auch in ihrer Bedeutung zu überschätzen, haben sie mit anderen Kollektiven gemein, zumal mit solchen, die lange innerhalb der Gesellschaft diskriminiert wurden oder nach wie vor ausgegrenzt werden. Mit welchem Recht aber dürfen sie erwarten, daß sich Andere für sie interessieren? Was legitimiert den Anspruch, daß junge Deutsche, die mit dem Nazi-Regime und dem Holocaust nichts zu tun hatten, für Juden größere Empathie empfinden als für Sinti, Armenier, Homosexuelle oder auch Franzosen und Engländer?

Juden haben nur dann das moralische Recht, besonderes Interesse für ihre Geschichte und ihr kollektives Leid zu erhoffen, wenn sie ihrerseits Interesse zeigen für das Leid, das andere Juden anderen Menschen, konkret: den Palästinensern, angetan haben und weiterhin antun. Man kann kollektive oder gar geschichtliche Verantwortung redlicherweise nicht nur dann einfordern, wenn man von ihr profitiert. Wer sie befürwortet, muß sie seinerseits erfüllen, auch und gerade wo es mit Unannehmlichkeiten verbunden ist. Wer als Jude Israels Politik verteidigt und das Schicksal der Palästinenser ignoriert, als ginge es ihn nichts an, hat das Anrecht auf emotionale und intellektuelle Zuwendung seitens junger Deutscher verspielt, die mit den Verbrechen ihrer Großeltern so viel zu tun haben wie die heutigen Amerikaner irischer oder russischer Herkunft mit dem Völkermord an den Indianern.

Wer argumentierte, der über Jahrhunderte anhaltende Antisemitismus müsse seine Ursachen doch auch im Verhalten der Juden selbst haben, würde auf lautstarke Empörung stoßen. Nicht einmal ein Anteil an Schuld darf erwogen werden, selbst wenn er historisch erklärbar wäre und Antisemiten als Entlastung kaum diente. Wenn aber vom Islam die Rede ist, gilt es als zulässig, den Muslimen eine Teilschuld, wenn nicht gar die ganze Schuld für die Feindseligkeiten zuzuschreiben, die ihnen immer massiver entgegenschlagen. Muß man nicht auch hier auf gleichen Maßstäben beharren? Muß man nicht darauf bestehen, daß es unzulässig ist, Verfolgten nachzurufen, sie seien »selbst schuld« an ihrer Verfolgung – egal ob es sich um Juden oder um Muslime handelt?

Eigentlich sollte es evident sein, daß es zwischen dem Gebaren gegenüber den Muslimen – auch von vielen Juden – und dem Antisemitismus, der in seiner schlimmsten Ausprägung zu Auschwitz führte, strukturelle Parallelen gibt. Wenn, wer das ausspricht, diffamiert wird, dann ist genau diese Reaktion ein Beleg für die Richtigkeit der These.

Die Kinder der Opfer wollen nicht erwachsen werden. Sie wollen nicht, wo ihresgleichen in die Täterrolle geschlüpft sind, jene Haltung einnehmen, die sie von den Kindern der Täter verlangen. Sie haben nicht begriffen, daß auch eine Verurteilung jüdischen Unrechts gegenüber Palästinensern die Verbrechen der Nazis keineswegs relativiert oder gar entschuldigt, sondern erst den Anspruch begründet, sie weiterhin und stets aufs Neue zu thematisieren. Sie ist die unverzichtbare Bedingung von Glaubwürdigkeit.