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Titel0510

Kreuz und quer gedacht  (Harald Kretzschmar)

Schuldeingeständnisse sind nur kurze Zeit ehrenwert. Wenn die Medien sie dann prompt ausschlachten, mobilisieren sie mühelos wochenlang mieseste Vermutungen einer sensationsgeilen Öffentlichkeit.

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Unsere Detailanalyse ist stets stimmig. Nur über die notwendigen Schlußfolgerungen stolpern wir regelmäßig. Ein Trost: Wir liegen dann in schönster Einmütigkeit alle zusammen auf der Schnauze.
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Alle Achtung vor den jungen Leuten, welche aus all den verschiedenen Einzelteilen einer Ikea-Lieferung notfalls auch ohne Montageanleitung im Handumdrehen etwas Brauchbares zusammensetzen. Wenn sie jedoch meinen, aus beliebigen Details einer Anschauung der Welt jeweils einen brauchbaren Denkansatz fürs persönliche Leben basteln zu können, so irren sie leider.
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Lehrstühle für moderne Geschichtswissenschaft und Anklagebänke für vermeintlich geschichtsnotorische Vergehen sind neuerdings aus dem selben Holz gefertigt wie die Bretter vor den Köpfen, in denen die Vorurteile wohnen.
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Da sind die Ostmenschen leicht verwundert dafür bewundert worden, wie sie ganz leger der Freikörperkultur gehuldigt haben. Jetzt haben sie den Salat: Zwanzig Jahre nach dem ganzen Schlamassel müssen sie immer noch ihre Biografien entblößen – ob vielleicht doch noch irgendwo ein Hinweis auf geheimdienstliche Aktivitäten versteckt ist. Tageslosung: Voyeure aller Couleur, delektiert euch!
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Keine Wiese im Urzustand belassen, keinen Baum ohne Ausästen, kein Gebüsch ohne Beschneidung. Es lebe das Rasenmäherprinzip. Haare runter vom Männerschädel und von der Frauenscham, Kahlschlag ist angesagt. Begradigung von Nasenrücken und Brustumfang auf germanisches Edel-Format wird gesellschaftliche Pflichtaufgabe. Besserverdienende zeigen sich beispielgebend im Reformwillen.
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Was ist schon die kleine Courage im zivilen Leben gegen den großen Auftritt, in dem man einem imaginären Feind die Stirn bietet? Gefragt ist eine öffentliche Verurteilung von Steuersündern und Falschparkern, Fans islamischer Lebensweise und Kinderschändern, Leugnern des Unrechtsstaates und Zweiflern am Friedenswillen der israelischen Regierung. Was ist dagegen schon Zivilcourage?
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Wir haben es gar nicht gemerkt, wie allmählich die Lüge zur läßlichen Sünde avanciert ist. Wie sie im öffentlichen Leben bei Beantwortung peinlicher Anfragen durch Behörden grassiert. Politische Aussagen sind bewußt manipuliert. Wissenschaftliche Verlautbarungen werden mit Falschaussagen gespickt. Literarische Werke leben von Anleihen am geistigen Eigentum anderer. Wer bei persönlichen Bekenntnissen flunkert und im Geschäftsleben betrügt, darf wohlwollender Nachsicht sicher sein. Das Übel wird halt üblich.
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Welcher Aufwand um den Begriff Vertreibung. Inzwischen kommt er in der Wertung gleich hinter Mord und Totschlag. Wer hat wen vertrieben? Und dagegen: Weshalb wechselt jemand Wohnort und Arbeitsplatz? Ortsveränderung unter politischem Zwang, wegen Änderung gesellschaftlicher Bedingungen oder aus wirtschaftlicher Notlage – alle davon Betroffenen können sich vertrieben fühlen. Bis heute.