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Oktober im Februar  (Heinz Kersten)

Publikumsfestival und politisches Festival: Das wird immer als Unterscheidungsmerkmal der Berlinale gegenüber den großen Konkurrenten Cannes und Venedig genannt. Hinzu kommt das kalte Wetter, das die Besucher in warme Kinosäle treibt. Knapp 400 Filme sind auch seismographisch ein Spiegel des Zustands dieser Welt. Festivaldirektor Dieter Kosslick wollte darin eine Zeit des Umbruchs erkennen, im Programm reflektiert nicht nur durch Zeugnisse des »arabischen Frühlings«, der inzwischen allerdings vielfach in einen Herbst mündete. Als quasi roter Faden sollten Revolutionen das filmische Angebot prägen, wozu schon der Auftakt verstanden werden wollte. Im Eröffnungsfilm »Les Adieux á la Reine« ging es um die letzten Tage des Ancien Régime in Versailles. Im Mittelpunkt die Vorleserin (Lia Seydoux) Marie Antoinettes. Die den Hof bedrohende Revolution aus dem Blickwinkel der Bediensteten. Die Revolutionäre in Paris kommen nicht vor. Dafür erschien Diane Kruger als Darstellerin der Königin auf dem roten Teppich und verwies so auf ein Auswahlkriterium der Berlinale: Die Verfügbarkeit von Stars.

Daß es darauf nicht ankommt, bewies ein anderer Kostümfilm in höfischem Milieu: »En kongelik Affaere«. Zwei Jahrzehnte vor der französischen Revolution scheitert in Dänemark der Arzt und Aufklärer Struensee mit seinen Reformen trotz enger Freundschaft des Königs, aber auch wegen seiner Liaison mit dessen Angetrauter. Mads Mikkelsen verdiente sich als zu früh gekommener Revolutionär den Darstellerpreis. Regisseur Nikolaj Arcel und Rasmus Helsterberg erhielten den Preis für das historisch authentische Drehbuch.

Einzig die Verleihung eines Ehrenbären an Meryl Streep rechtfertigte die Sondervorführung von »The Iron Lady«, worin die dafür schon mit einem Golden Globe ausgezeichnete Schauspielerin in ihrer 68. (!) Filmrolle gewohnt perfekt Margaret Thatcher verkörpert. Hagiographisch führen Drehbuchautor Abi Morgan und Regisseurin Phyllida Lloyd die umstrittene Premierministerin von der Aushilfe im väterlichen Kolonialwarenladen bis zur demenzkranken Pensionärin völlig distanzlos vor, kämpferisch gegen Gewerkschaften und standhaft im Falkland-Krieg, während ihre Gegner und Untertanen gar nicht vorkommen.

Spannender und differenzierter ein anderer Rückblick auf ein Kapitel britischer Vergangenheit: »Shadow Dancer« (Regie: James March). Eine Familie in der letzten Phase des Nordirlandkonflikts. Colette (Andrea Riseborough) und ihr Bruder sind, obwohl die Verhandlungen über einen Waffenstillstand vor einem Abschluß stehen, weiter in die Terroraktivitäten der IRA verwickelt. Beim Versuch, ein Bombenattentat zu verüben, wird Colette festgenommen, und ein britischer Geheimdienstoffizier (Clive Owen) stellt sie vor die Alternative, entweder 25 Jahre Haft und die Trennung von ihrem kleinen Sohn oder Zusammenarbeit mit den Engländern, indem sie ihre eigene Familie ausspioniert. Das riskante Doppelspiel der jungen Frau reflektiert ihr moralisches Dilemma und die schwierige Beziehung zu ihrem »Führungsoffizier«. Das wäre einen Bären wert gewesen, wenn der Film nicht außer Konkurrenz gelaufen wäre.

Dafür gab es im Wettbewerb diesmal gleich drei deutsche Beiträge, deren Regisseure alle schon berlinale-erprobt waren. Christian Petzold setzte in »Barbara« wieder auf sein bewährtes Zusammenspiel mit Nina Hoss und konnte sich über den Regiepreis freuen. Seine Protagonistin verkörperte diesmal eine junge Ärztin, die in der DDR des Sommers 1980 aus der Hauptstadt an ein kleines Provinzkrankenhaus versetzt wird. Hier wartet sie auf die Flucht über die Ostsee, die ihr westdeutscher Geliebter vorbereitet, mit dem sie sich aber schon mal im Wald und einem Nobelhotel treffen kann. Doch am Ende überläßt sie das Fluchtboot einer jungen Patientin, die aus einem Jugendwerkhof ausgerissen ist. An der Entscheidung, im ungeliebten Land zu bleiben, ist ihr sympathischer neuer Chefarzt (Ronald Zehrfeld) nicht ganz unschuldig. So platt, wie das klingt, ist der Film aber nicht, der von der Atmosphäre zwischenmenschlichen Mißtrauens lebt. Jedenfalls die DDR mal nicht als Stasihort, sondern mit den üblichen Versatzstücken als sensibler Psychothriller.

Wie kann man mit einer großen Schuld weiterleben? Das ist Thema von Matthias Glasners Wettbewerbsfilm »Gnade«. Er hat den Schauplatz wohl der attraktiven Naturkulisse wegen ins nördlichste Norwegen verlegt. Nach Hammerfest am Polarmeer hat es eine Familie mit Sohn aus beruflichen Gründen verschlagen, und hier hat die Frau bei einer nächtlichen Heimfahrt einen Menschen überfahren. Erst am Ende bricht sie ihr Schweigen über den Vorfall und bittet die Eltern des toten Mädchens um Vergebung. In der Krise finden die Eheleute wieder zusammen – der Mann beendet eine Beziehung am Arbeitsplatz – und dank der glaubhaften Darstellung von Jürgen Vogel und Birgit Minichmayr gehörte das psychologische Kammerspiel auch ohne Preis zu den erfreulichsten Eindrücken des Wettbewerbs.

Das läßt sich von Hans-Christian Schmids »Was bleibt« nicht sagen. Von der konstruierten Demontage der brüchigen Fassade einer Intellektuellenfamilie während eines Wochenendtreffens bleibt nur Langeweile. Zwei deutsche Dokumentationen blieben da näher an der Wirklichkeit. Thomas Heises »Die Lage« in der Forum-Sektion beobachtet ganz kommentarlos die Vorbereitungen Erfurts auf den Papstbesuch. Abseits der televisionären Glamourinszenierungen von den Auftritten des »Heiligen Vaters«, der ja weder heilig noch Vater ist – es sei denn, er hätte in seiner Jugend mal das Zölibat gebrochen –, wirken Heises Schwarzweißbilder fast als Realsatire und erinnerten mich manchmal an das geisterhafte Ambiente von Helmut Schmidts Besuch in Güstrow. Leider nur erschreckend real ohne jede Satire zeigt die Dokumentation »›Blut muß fließen‹ – Undercover unter Nazis« von Peter Ohlendorf im Panorama das Ergebnis mehrjähriger Drehs in der rechtsradikalen Musikszene und wirft einmal mehr die Frage auf, wieso die Haßtiraden des rechten Rock ungestraft verbreitet werden dürfen. Ihr wachsender Einfluß auf junge Menschen ist die eigentliche Gefahr, nicht irgendwelche NPD-Aufmärsche.

Um mit Erfreulicherem diesen kurzen Berlinale-Rückblick zu beenden: Zu den Verdiensten des Festivals gehören stets Neu- oder Wiederentdeckungen vergessener Schätze der Filmgeschichte. Diesmal überraschten Erinnerungen an eine mit circa 400 Produktionen zwischen 1960 und 1975 blühende Filmindustrie in Kambodscha, die von den Roten Khmer fast ganz zerstört wurde. Wenige Überlebende kamen in Davy Chous Dokumentation »Le Sommeil d’Or« zu Wort, vier erhaltene Märchenfilme belegten die Qualität ihrer Arbeit.

Die Retrospektive unter dem Titel »Die rote Traumfabrik« präsentierte eine Auswahl von 43 Stumm- und Tonfilmen, die zwischen 1924 und 1936 in den Studios von Meschrabpom-Rus entstanden und in der Weimarer Republik von der deutschen Tochterfirma Prometheus-Film in die Kinos gebracht wurden. Zu verdanken war dies alles dem kommunistischen Medienmogul Willi Münzenberg, der unter ungeklärten Umständen in der französischen Emigration auf der Flucht vor den deutschen Invasoren ums Leben kam, und seinem russischen Partner Moisej Alejnikow. Das griffige Motto »Rote Traumfabrik« trifft nicht den Kern des Vorgeführten, denn die Filme waren ungeachtet auch propagandistischer Absichten durchaus realistisch und vermittelten damals Einblicke in russischen Alltag der zwanziger und frühen dreißiger Jahre und eröffneten ästhetisch ganz neue Perspektiven. Herausragendes Beispiel: Sergej Eisensteins »Oktober« (1927), im Friedrichstadtpalast zum ersten Mal in vollständiger Fassung und mit der Originalmusik von Edmund Meisel wiederaufgeführt. Wie bei jeder Berlinale-Retrospektive wünschte man, sie noch einmal außerhalb des Festivals zu sehen, nicht erdrückt von dem Mammutangebot des sonstigen Programms. Zumal in diesem Fall einstige Träume, wenn auch gescheitert, als Gegenentwurf zur Restauration taugen.