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Titel518

Mehrheit Minderheit  (Harald Kretzschmar)

Als bekennender Demokrat habe ich mitunter Schwierigkeiten mit dem der Demokratie zugrunde liegenden Mehrheitsprinzip. Ich weiß, Mehrzahl ist mehr als Einzahl. Und mit einem quantitativen Prinzip kann man ein qualitatives jederzeit relativieren. Leute stellen sich zur Wahl. Prima, primissima. Was und wer begünstigt sie? Merkwürdig genug: Diejenigen schwören besonders scheinheilig auf das Mehrheitsprinzip als alleiniges Merkmal wahrer Demokratie, die eine ihnen zufallende Zustimmung einer Mehrheit besonders skrupellos zum eigenen Vorteil ausnutzen. Wer kontrolliert, ob ihre Machtausübung der Wählerschaft dienlich ist oder nicht? Was tun, wenn diktatorische Gelüste obsiegen? Die Erfahrung zeigt leider: Dummerweise klappt es nicht immer mit der Abwahl derer, die das Wählervotum mit Füßen treten und ihr eigenes Ding daraus drehen.

 

Was noch schlimmer ist – es sind doch weiß Gott durchaus prominente Fälle bekannt, da konnten sich absolute Machthaber auf Mehrheiten berufen. Vox populi vox Dei, so riefen die Lateiner des Altertums, und die Stimmen krakeelten mitunter so laut, dass der schweigende Gott sich nur wundern konnte. Um beim Altertum zu bleiben: Die Bibel bezeugt, dass der Heiland bei der Kreuzigung mit dem Votum der Mehrheit hingerichtet wurde, die »Kreuziget ihn!« rief. Der Beweise, dass es nie einen Automatismus eines Massen-Rechthabens gegeben hat, sind viele. Der gravierendste der letzten Vergangenheit war der massenhaft sanktionierte Aufstieg von Hitlers Mörderbande. Was heute mit dem selbstgewählten Kosewort »National-Sozialismus« benannt wird, war doch wohl die Masseninfektion von größter Tragweite. Was sich so Masse nennt – sie leugnete hinterher, etwas damit zu tun gehabt zu haben.

 

Immer habe ich Wilhelm Buschs Bemerkung im Ohr, dass eben oft genug nicht geschehen sein konnte, was nicht sein durfte. Sie tröstet mich nicht. Im Namen grenzenloser Freiheit darf immerhin eine Menge sein. Ich bemerke stirnrunzelnd, welche Triumphe Werbestrategien für bestimmte Produkte und Praktiken feiern, die an Massenmanipulation grenzen. Was als neue pseudowissenschaftliche Erkenntnis gepriesen wird, verfolgt in vielen Fällen so durchsichtige Geschäftsinteressen, dass es mir die Schuhe auszieht. Eigentlich müsste ich danach nur noch barfuß herumlaufen. Fressen Sie Billigfleisch! Von industriell gezüchtetem Vieh besonders bekömmlich. Agrarindustrie schafft Großraum fürs Großwild Mensch. Die winzig kleine Biene nimmt die vorläufig immer noch florierende Maschinerie als unentbehrlichen Zulieferer gar nicht mehr wahr. Masse geht vor Güte.

 

Man möge mir verzeihen, wenn ich fuchsteufelswild werde, sobald ich höre, dass es im Namen der Masse den Künsten an den Kragen geht. Massenhaft ignorieren Parlamente die Forderung nach Kultur. Keine Pflichtaufgabe, eher ein Luxus, heißt es. Überfluss an Waren macht das Menschliche überflüssig. Schnarrende Stimmen halten Vorträge, wie entbehrlich das Singen von Liedern sei. Musikunterricht? Wo bleibt da das Pflegen von Smartphone? Sprachkultur? Umgangssprache verstehe man gefälligst so, wie man miteinander umgeht! Feinheiten sind zu umgehen. Wie im Netz sprachlich gegrölt und gefurzt, gerotzt und gepöbelt wird, darauf hilft nur noch ein grober Keil. Amtlich bestellte Reinigungstrupps rennen hilflos mit dem Kanal-Löscher hinterher. Kaum gelöscht, glimmen schon x-mal wieder gespenstisch die Funken von Hass und Zwietracht. Die Künste ergeben sich zunehmend dem Kult der Gewalt.

 

Doch wir Künstler waren immer eine hoffnungslos hoffende Minderheit. Da gibt es viel maßgeblichere Minderheiten: Ganze Volksstämme wehren sich gegen Mehrheitsdiktate – oder resignieren bis in apathische Ratlosigkeit. Was mal als sogenanntes DDR-Volk in einem ungleichen Wettbewerb mit einem übermächtigen Gegenpart Jahrzehnte standhielt, wohin ist es im Mehrheitsparadies gekommen? Seine Ahnung, in der Verleugnung aller eigenständigen Wahrnehmung willenlos angepasst worden zu sein, ist längst zur schmerzlichen Gewissheit geworden. Wenn es schon so weit gekommen ist, dass selbst Wahlergebnisse nicht mehr zählen, warum wird nicht wenigstens dann zum Alarm geblasen? Eine nicht mehr spürbare öffentliche Meinung hat Folgen: Da wird monatelang über eine dem Wahlergebnis minimal Rechnung tragende Regierungsbildung hin und her palavert. Doch dass Leute aus dem Bereich, der zur lästigen »Region« geschrumpft ist, dabei eine angemessene Rolle spielen müssten, das ist schon ein Tabu. Überwältigend – diese Mehrheit von Einfluss.

 

Tja, wer nicht mehr die Kraft hat, selbst zu bestimmen, über den wird bestimmt. Selbst die falschen Randalierer von der unnennbaren Protestpartei sind nicht mal die eigenen Leute. Idiotischer kann Fremdbestimmung nicht laufen. Die Freiheit des Einzelnen und die Freiheit der Anderen: Da liegt der Knackpunkt. Freiheit gegen Gleichheit oder gar Brüderlichkeit auszuspielen, führt in die Irre. Wir sind so frei, fortgesetzt Klagelieder über von Einzelnen verursachte Missstände hören zu dürfen, und superreiche Einzelgänger die Welt ruinieren zu sehen. Ein hübsches Gefühl, mit einer überdimensional gewaltigen Mehrheit der Bevölkerung dagegen zu sein, aber nichts dagegen zu tun. »Glotzt nicht so romantisch«. Brecht I. »Erst kommt das Fressen, dann die Moral«. Brecht II. »Wer die Wahrheit nicht weiß, der ist bloß ein Dummkopf. Aber wer sie eine Lüge nennt, der ist ein Verbrecher.« Brecht III. Wenn eine Masse von Menschen Lügen als Wahrheiten anbetet, so ist das Selbstmord. Und der ist kein strafbares Verbrechen.