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Titel518

Keep Calm and Carry On  (Johann-Günther König)

»Keep Calm and Carry On« (Bleib ruhig und mach weiter) verkündete ein rotes Poster, das 1939 vom britischen Informationsministerium zwar in 2,5 Millionen Exemplaren gedruckt, aber nicht veröffentlicht worden war. Nachdem wohl im Jahr 2000 eines dieser Poster in einem Antiquariat auftauchte, mauserte sich der Slogan umgehend zum geflügelten Wort. Die Moral der britischen Bevölkerung ist ja seit längerem schon ebenso stärkungsbedürftig wie zu jenen Zeiten, als Hitler die Insel kriegerisch erobern wollte. Apropos »Nazi Germany«: Anfang Februar ließ Ex-Staatssekretär Andrew Turnbull lautstark wissen, die tonangebenden Brexiteers verhielten sich mit ihren Vorwürfen, der Staatsdienst sabotiere den Brexit, wie die Beamten des Dritten Reichs. Kurz zuvor hatte der Online-Dienst Buzzfeed eine bis dahin geheim gehaltene Analyse von Regierungsbeamten veröffentlicht, die in drei denkbaren Szenarien darlegt, dass der Brexit der Wirtschaft ihrer Majestät Elisabeth II. langfristig schaden wird – und zwar selbst im sehr unwahrscheinlichen Fall des Verbleibs im EU-Binnenmarkt (mit einer prognostizierten Abschwächung um zwei Prozent). Die Analyse lässt die offizielle Position der britischen Regierung, der Brexit kreiere grandiose neue Chancen für das Land, nicht gerade staatsfürsorglich und wahrhaft wirken.

 

Überhaupt geht es in Großbritannien – neuenglisch: Brexitland – täglich rund. Von wegen: Keep Calm and Carry On. Die politische Klasse macht zwar schon aus Machterhaltungsgründen weiter, von ruhig bleiben kann aber keine Rede sein. Kabinettsmitglieder wie Außenminister Boris Johnson und Brexitminister David Davis »verdienen« sich mit ihren Tiraden immer schrägere Schlagzeilen, während ihre Chefin Theresa May täglich von den Medien aufgetischt bekommt, sie sei viel zu unentschlossen und führungsschwach, riskiere heute eine Revolte der reichen Tory-Unterstützer, morgen der vielen EU-freundlichen Tory- Unterhausabgeordneten und übermorgen der nordirischen Koalitionäre … In der inzwischen wieder als potentielle Regierungspartei gehandelten Labour Party, der gegenwärtig mit Abstand stärksten sozialdemokratischen Partei in Europa, sorgt das laufende Brexitstück auch für so einiges Theater. So forderte »The Lord Kinnock« – sprich der ehemalige langjährige Labour-Chef und Vizepräsident der EU-Kommission Neil Kinnock – den heutigen Chef Jeremy Corbyn gerade auf: »Stoppt den Brexit« – und zwar mit der Begründung, sonst wäre das schwer kriselnde Nationale Gesundheitswesen (NHS) nicht zu retten. (Vor dem Referendum hatten die Brexiteers versprochen, die nicht mehr für die EU nötigen Gelder sollten vor allem in das NHS fließen.) Ex-Labour- und Ex-Regierungschef Tony Blair meldet sich auch immer häufiger zu Wort und verlangt, Labour müsse den Brexit ablehnen. Immerhin achtzig Labour-Abgeordnete um Chuka Umunna haben Corbyn mitgeteilt, das Land müsse im EU-Binnenmarkt bleiben, weil gut 43 Prozent des Handels mit EU-Partnern erfolge, wobei die Exporte in die Republik Irland größer seien als die nach Brasilien, Russland, Indien und China zusammen. Übrigens sind laut einer Umfrage des Instituts BMG Research die Briten nun knapp mehrheitlich gegen den EU-Austritt. Der Anteil der Befürworter beträgt nur mehr 41 Prozent.

 

Jeremy Corbyn hat jedenfalls seine Brexitbefürwortung inzwischen relativiert und der Labour-Opposition einen neuen Kurs auferlegt: Ziel soll nun ein sanfter Brexit, soll zwar nicht die weitere Mitgliedschaft im Binnenmarkt, aber die Fortsetzung der EU-Zollunion sein. Dafür spricht das ungelöste politische Problem der binnenirischen Grenze. Eine erneuerte Mitgliedschaft in der Zollunion würde sie nicht zur friedensgefährdend bewachten Zollgrenze mutieren lassen.

 

Theresa May beharrt nach wie vor auf dem Brexit einschließlich Austritt aus dem Binnenmarkt und der Zollunion mit den EU-27. Bezeichnenderweise kann sie sich jedoch die weitere Mitarbeit an der EU-Polizeibehörde Europol sowie einigen EU-Programmen vorstellen – an der Militärforschung, den Weltraumaktivitäten und »gemeinsamen militärischen Aktionen«. Als die EU am 28. Februar ihren ersten Entwurf eines Brexit-Vertrages vorlegte, erntete das 120-seitige Dokument umgehend heftigen Widerspruch. Die Premierministerin wies den Vorschlag der EU, auch nach dem Brexit auf Grenzkontrollen zwischen Nordirland und der Republik Irland zu verzichten (mit der Verlegung der Zollgrenze auf die See zwischen Nord-Irland und London), scharf mit dem Kommentar zurück: »Kein britischer Premierminister könnte dem je zustimmen.« Und warum nicht? – Eine solche Regelung untergrabe den gemeinsamen britischen Markt und bedrohe die verfassungsmäßige Integrität des Vereinigten Königreichs, erklärte sie.

 

»Keep Calm and Carry On« ist keine schlechte Parole für das laufende Vertragsgezerre. Zum einen haben die EU-Verhandler um Chef Michel Barnier in Brüssel immer noch kein klares Positionspapier der Briten zu Gesicht bekommen, zum anderen verlaufen auch die Verhandlungen über eine zweijährige Übergangsphase nach dem Brexit so zäh, das sich manche schon die Frage stellen, ob im Herbst dieses Jahres überhaupt ein fertig verhandelter Vertrag – ohne Rosinenpickerei – über die Ausgestaltung der künftigen Beziehungen vorliegen kann. Das müsste er aber, weil über ihn viele Parlamente – und auch das Unterhaus – vor März 2019 abstimmen müssen. Theresa May regiert übrigens mit der dünnen Mehrheit von sieben Stimmen. Wenn sich im Verhandlungsprozess nicht bald etwas entscheidend verbessert, kann es durchaus passieren, dass das Königreich die EU im Frühjahr 2019 »hart«, also ohne vertragliche Regelungen verlässt. Keep calm? Dann würde womöglich eine Situation eintreten, die ein gewisser Mohr bald darauf so beschrieben hätte:

»Die allgemeine Handelskrise, die in Europa etwa im Herbst [...] auftrat […], wurde durch eine Panik auf dem Londoner Geldmarkt eingeleitet, die in den letzten Tagen des April begann und am 4. Mai […] ihren Höhepunkt erreichte. In jenen Tagen kamen alle Geldgeschäfte völlig zum Erliegen; doch vom 4. Mai an ließ der Druck nach, und Kaufleute und Journalisten beglückwünschten sich zu dem rein zufälligen und vorübergehenden Charakter der Panik. Wenige Monate darauf brach die kommerzielle und industrielle Krise aus, für die die Geldpanik nur das Anzeichen und der Vorbote gewesen war. Auf den europäischen Geldmärkten […] breitet sich die Panik jetzt von Osten nach Westen aus; sie hatte ihren Ausgangspunkt in Deutschland […] jetzt dauert sie bereits drei Wochen. Damals gab es wenige, die in ihr den Vorboten einer generellen Krise vermuteten; heute bezweifelt das niemand außer jenen Engländern, die sich einbilden, Geschichte zu machen, wenn sie die ›Times‹ lesen.«

 

Noch Fragen? Das auf das Jahr 1847 anspielende Zitat stammt aus dem Artikel »Die Geldkrise in Europa« von Karl Marx. Er erschien in englischer Sprache am 15. Oktober 1856 in der New-York Daily Tribune (MEW, Bd. 12, Berlin 1961, S. 53-57).