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Titel0610

Mehr Demokratie wagen?  (Sergej Guk)

Eine öffentliche Tribüne für die außerparlamentarische Opposition hat der russische Präsident Dmitrij Medwedjew für dieses Jahr in Aussicht gestellt. Parteien ohne Mandate sollten die Möglichkeit erhalten, den Parlamentariern Anregungen vorzutragen. Einmal jährlich. Das Staatsoberhaupt empfahl, dieses schöne Geschenk gesetzlich zu verankern.

Der Vorsitzende der Staatsduma, Boris Gryslow, verstand es als Befehl. Sein Unterhaus werde selbstverständlich der Opposition demnächst großzügig die Tür öffnen, sagte er. 30 Minuten Redezeit würden ihr pauschal zur Verfügung stehen. Wie viele Außerparlamentarier er in der halben Stunde zu Wort kommen lassen will, blieb offen. Aber er machte gleich eine verbindliche Auflage: Extremistische Ausfälle werde er keinesfalls erlauben. Sonst, so Gryslow, »könnte man von dieser Tribüne direkt in einem Gebäude nebenan landen«. Einen Katzensprung von der Duma entfernt befindet sich nämlich die berüchtigte Zentrale des ehemaligen KGB, jetzt FSB.

Ein vorbildlicher Demokrat der ersten Generation ist dieser Oberparlamentarier Gryslow. Sein berühmter früherer Satz »Die Duma ist kein Ort für Diskussionen« gilt bereits als Sprichwort. Die Kriecher aus Gryslows Umgebung waren rasch mit Erläuterungen zur Stelle: Der Chef habe sich nur einen Scherz erlaubt. Warum einen so makabren, blieb ungeklärt.

Gryslow entgleiste nicht zufällig. Von Kaliningrad bis zum Fernen Osten finden spontane Protestaktionen statt. Als Zielscheibe gilt die Regierungspartei Einiges Rußland mit Wladimir Putin und Boris Gryslow an der Spitze. Die Demonstrationen gegen Vetternwirtschaft, Rechtlosigkeit und Armut nehmen immer größere Dimensionen an. Statt die Lage der Bevölkerung zu verbessern, versucht die Obrigkeit, die Protestierenden als Marionetten fremder Mächte darzustellen.

Gryslows neueste Entdeckung: In Rußland gebe es ein Zentrum zur Destabilisierung der politischen Lage; es versuche, die Partei der parlamentarischen Mehrheit in Mißkredit zu bringen.

Die russische Nachrichtenagentur Nowyj Region berichtete über Verhaltensregeln der Partei Einiges Rußland für Diskussionen mit politischen Opponenten. Punkt eins lautet: Substantielle Argumente der Opposition nicht beachten, einfach überhören. Punkt zwei: Sofort zum Gegenangriff »im Stil von Schirinowskij« übergehen (lautstark schreien, beschimpfen, anpöbeln, rücksichtslos lügen, jeden Unfug reden). Hauptsache: Keine sachliche Diskussion zulassen. Punkt drei: Die Opposition als nützliche Idioten des Westens, als CIA-Agenten abstempeln. Diese Vorschriften scheinen schon zu wirken.

Jewgeni Fjodorow (Einiges Rußland), der Vorsitzende des Wirtschaftsausschusses der Staatsduma, bediente sich jüngst in einer Rundfunkdiskussion folgender Argumente: Die oppositionelle Kleinpartei »Solidarnost« sei ein Sonderprojekt der USA, gegründet mit dem Ziel, Rußland zu zerstückeln. Kundgebungen und der Mißbrauch demokratischer Errungenschaften hätten zum Zerfall der Sowjetunion und zum Absturz des Lebensniveaus geführt. Nun aber stiegen die Löhne in Rußland 40 mal schneller als in jedem europäischen Land. Soweit er damit die Einkünfte der führenden Funktionäre des Einiges Rußland meinte, kann man ihm schwerlich widersprechen.

Sein Opponent Wladimir Milow, ehemaliger stellvertretender Energieminister und heute Mitglied der »Solidarnost«, reagierte fassungslos, als könnte er sich gar nicht vorstellen, daß US-Nachrichtendienste auf die Entwicklung Rußlands einzuwirken versuchten: »Man kann auf die Palme gehen – vor solcher Sturheit, unverschämter Lüge, himmelschreiender Inkompetenz.« Aber wozu regte er sich auf? Die Sache ist doch ganz einfach: Einiges Rußland folgt lediglich dem Aufruf »Mehr Demokratie wagen«. So wahr ihm der Kreml helfe.