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Ein Zettel auf der Treppe  (Sigurd Schulze)

Im Bühneneingang der Berliner Philharmonie hängt auf halber Treppe ein Plakat DIN A4. Es kündigt eine Ausstellung an: im Carl-Maria-von-Weber-Museum Dresden-Hosterwitz bis zum 31. März 2010 über Szymon Goldberg.

Geboren wurde Goldberg am 1. Juli 1909 in Wlozlawek/Polen als Sohn jüdischer Eltern. Als er acht war, schickten sie ihn wegen seiner früh erkannten Begabung zu dem Violinpädagogen Carl Flesch nach Berlin. Mit zwölf debütierte er in Warschau und mit 15 beim Berliner Philharmonischen Orchester unter Furtwängler mit dem 1.Violinkonzert von Paganini. Als er 16 war, engagierte ihn das Dresdner Philharmonische Orchester, das Flesch-Schüler schätzte, als Ersten Konzertmeister. 1930 rief Furtwängler ihn als Ersten Konzertmeister nach Berlin. Das blieb er bis zum 30. Juni 1934. Furtwängler nannte ihn den besten Konzertmeister Europas. Goldberg war begehrt auch als Solist und Kammermusiker, in Rundfunk- und Schallplattenaufnahmen. Das Streichtrio Paul Hindemith, Emanuel Feuermann und Szymon Goldberg wurde legendär. Wie vielen jüdischen Künstlern machten die Nazis auch ihm seine künstlerische Existenz in Deutschland unmöglich. Mit Hindemith und Feuermann reiste er 1934 zu Schallplattenaufnahmen nach London und kehrte nicht zurück. Mit der Pianistin Lilly Kraus unternahm er in den folgenden Jahren Tourneen rund um die Welt. Während eines Aufenthalts in Java wurden sie 1942 samt ihren Familien von den Japanern, treuen Bundesgenossen der Nazis, interniert.

Nach der Befreiung war Goldberg Professor in den USA und leitete von 1955 bis 1977 das Niederländische Kammerorchester. Mit der Pianistin Miyoko Yamane ging er später nach Japan, wo er 1990 die Leitung des New Japan Philharmonic Orchestra übernahm. Am 19. Juli 1993 verstarb Goldberg in Oyama-Machi.

Am 1. Juli 2009 wäre Goldberg 100 Jahre alt geworden. Das war dem Geiger Volker Karp, Mitglied der Dresdner Philharmonie, Anlaß, über Goldberg eine Ausstellung zu gestalten, wie er sie auch David Oistrach zu dessen 100. Geburtstag gewidmet hatte. Karp sammelt seit Jahren Zeugnisse aus dem Leben des berühmten Konzertmeisters. Nicht allein die Bewunderung für große Kollegen und Vorbilder, sondern auch ihr Schicksal als Verfemte und Verfolgte bewog den Kammervirtuosen zu seinen Recherchen. Die regelmäßigen Konzertreisen seines Orchesters nach Japan führten zu einer unerwarteten Begegnung mit Goldbergs Witwe, die ihm bereitwillig mit Photos, Aufzeichnungen und Einspielungen ihres Mannes half. Ihrer Reise nach Dresden kam der Tod zuvor.

Volker Karp konnte die Museen der Stadt Dresden überzeugen, daß die Würdigung des weltbekannten Musikers im öffentlichen Interesse liegt. Sie stellten einen Raum im Carl-Maria-von-Weber-Museum sowie einige Vitrinen bereit. Der Aufwand war relativ gering, da Karp honorarfrei die Konzeption lieferte und die Exponate samt einigen Leihgaben des Archivs der Dresdner Philharmonie zur Verfügung stellte. Eine kleine, aber feine Exposition. Die Schattenseiten: Die Lage des Museums weit außerhalb der Stadt erfordert Werbung im Zentrum, aber dafür ist kein Geld da. Für einen Katalog reicht das Geld ebenfalls nicht.

Es gibt noch andere Probleme als die finanziellen. Karp spricht in seinen Erläuterungen zu den Exponaten eine deutliche Sprache über die Schuld der Nazis. Daß die Verfolgung der jüdischen Künstler System hatte, belegt das Buch »Lexikon der Juden in der Musik« von Theo Stengel und Herbert Gerigk – praktisch eine Fahndungsliste für jüdische Künstler in Deutschland. Der Titel ist indifferent und sagt nicht nur jungen Besuchern kaum etwas. Karps Schrifttafel aber, die das Buch als »unwissenschaftliches, hetzerisches Machwerk« charakterisierte, wurde vom Oberkurator der Museen gestrichen. Karp: »Das zeigt mir die Temperatur, die bei jüngeren Museumsmitarbeitern herrscht.«

Goldberg war ein Großer in der Musikwelt, oft verglichen mit Yehudi Menuhin. Und doch umgibt ihn ein Mantel des Schweigens. Die Berliner Philharmonie war der Ort, von dem die Nazis ihn vertrieben. Vor ihrem 125. Jubiläum entschlossen sich die Berliner Philharmoniker endlich, ihre Nazi-Vergangenheit, genauer: die ihrer Vorgängergeneration, aufzuarbeiten. Im Jahre 2008 erschienen das Buch »Das Reichsorchester« von Micha Aster und ein gleichnamiger Film (s. Ossietzky 21/07). Goldbergs Fähigkeiten wurden gewürdigt. Der Film verfolgt einige Spuren wie in Goldbergs japanische KZ-Haft. In den Ausstellungen der Philharmonie zu ihrer Geschichte 1933 – 1945 und zu David Friedmanns Pressezeichnungen fand Goldberg ebenfalls noch Erwähnung. Dann wurde es still. Im Programm 2009 des Orchesters suchte man vergeblich ein Konzert zu seinem 100. Geburtstag. Hingegen widmete der Philharmonische Salon ein Programm einer Adligen, Elisabeth Prinzessin zu Wied, die 1881 an der Seite Karls von Hohenzollern-Sigmaringen auf den rumänischen Königsthron gehievt wurde und sich als Dichterin Carmen Sylva in schlichten Versen versuchte. Die Idee, Goldberg und den anderen vertriebenen Philharmonikern, Gilbert Back, Nicolai Graudan und Josef Schuster, einen Abend zu widmen, kam niemandem. Im Magazin der Philharmoniker: keine Silbe.

Für die Übernahme in die Berliner Philharmonie hält deren Chefdramaturg Helge Grünewald die Dresdner Ausstellung für nicht geeignet. Sie sei zu stark auf das Dresdener Schaffen des Musikers focussiert und nicht auf die Berliner Philharmonie bezogen. Auch seien andere Ausstellungen geplant. Aber wäre die Anpassung an die Berliner Gegebenheiten ein Problem? Wo Platz ist für die rumänische Königin, können Grünewalds Bedenken nicht überzeugen. Aber auch die Dresdner Philharmonie und die Dresdener Jüdische Gemeinde zeigten bisher kein Interesse.

In der Carl-Flesch-Biographie, verfaßt von dessen Sohn, fand Karp einen Brief Furtwänglers vom 25. Juni 1934 an Flesch. Er könne »es auch bei aller Würdigung für Goldbergs Gründe nicht für richtig finden, daß er die Sache verläßt, der ich meine Kraft widme, nämlich, dem deutschen Musikleben hochwertige Leistungen und Qualität zu erhalten.« Wenn man sich erinnert, daß Furtwängler Bruno Walter und Otto Klemperer nicht vor den Drohungen der Nazis schützte, die 1933 deren Konzerte mit den Philharmonikern verhindert hatten, stellt sich die Frage: War Furtwängler so naiv, oder wollte er nur sein Image bei Künstlerkollegen aufpolieren?

Szymon Goldberg kehrte nie nach Deutschland zurück. »Es hat ihn auch keiner gerufen«, stellt Karp fest. »Der Fall Goldberg ist der Fall Furtwängler.« Im Klima des Leugnens und Verdrängens war es möglich, daß das Berliner Philharmonische Orchester in den fünfziger Jahren Fragen von Goldbergs Anwalt nach seinem Haus in Berlin mit Nichtwissen beantwortete.

Der 100. Geburtstag Goldbergs ist vorbei. Im Jahre 2013 ist sein 20. Todestag. Bis dahin haben die Berliner Philharmoniker Bedenkzeit, ob sie ihren einstigen Ersten Konzertmeister würdigen wollen. Vorerst hängt ein Zettel auf halber Treppe.