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Titel0610

Über Gertrud Kolmar  (Jochanan Trilse-Finkelstein)

»Ich bin fremd.« So heißt es in dem Ende der 1920er Jahre entstandenen Gedicht »Die Jüdin« von Gertrud Kolmar. Es ist ein Rückblick auf die Geschichte des jüdischen Volkes, seine Verfolgung, seinen Widerstand, seine Leistung um die Menschheit. Und doch immer noch fremd? Noch nach Jahrtausenden?

Eigentlich hieß sie Gertrud Käthe Chodziesner, entstammte einer jüdischen Intellektuellenfamilie des Berliner Westends, fing früh zu dichten an und legte sich den Kunstnamen Kolmar zu. Sie wollte dem NS-Faschismus im Land trotzen. Darum ging sie nicht hinaus, trotz Warnungen, trotz ihres Wissens, was da kommen sollte und wirklich kam. Denn sie liebte die deutsche Kultur und Sprache, empfand sie als Heimat, obwohl sie um 1939 Vorbereitungen für ein Exil getroffen und Hebräisch gelernt hatte.

So mußte sie den Schreckensweg ihres Volkes von der Vertreibung aus dem Elternhaus über das »Judenhaus« bis in die Gaskammer mitgehen. Vater Ludwig Chodziesner, ein seinerzeit berühmter Jurist, war bereits anläßlich des Novemberpogroms 1938 einige Tage inhaftiert worden. Ihn deportierten die Nazis 1942 nach Theresienstadt und ermordeten ihn 1943, wenige Wochen vor seiner Tochter.

Sie war ein großes Talent, wenn nicht Genie. Hatte den unbedingten Willen, Kunst zu machen, zu schreiben: Gedichte, Prosa, Dramen. Hinterließ Bedeutendes, vielfach erst noch zu Erschließendes. Und setzte sich durch – doch so richtig erst im Nachruhm, und der steigt noch immer.

Sie besuchte 1911/12 sogenannte Höhere Mädchenschulen in Berlin und Leipzig, arbeitete 1914/15 in Kindergärten und -horten und danach bis 1916 in Sprach-Seminaren. Im nächsten Jahrzehnt lernte sie Sprache um Sprache, legte 1927 ihre Übersetzerprüfung im Auswärtigen Amt ab und arbeitete weiter als Sprachlehrerin (in Haushalten wie für Diplomaten). In Berlin verkehrte sie mit Georg, Hilde und Walter Benjamin, Elisabeth Langgässer, Max Rychner, Ina Seidel.

Seit 1919 entstanden ihre wichtigsten frühen Gedichte, 1921 der Zyklus »Napoleon und Marie« in Verehrung für den Heerführer und Politiker, der auch Juden neue Freiheit gebracht hatte; später bis in die dreißiger Jahre ihre wichtigsten Gedicht-Zyklen »Das preußische Wappenbuch«, »Weibliches Bildnis«, »Tierträume«, »Mein Kind« und »Bild der Rose«; und sie fand Aufnahme in Zeitschriften und Anthologien.

Auf die Machtübernahme der NS-Faschisten reagierte sie dichterisch mit besonders formstrengen Werken wie der Sammlung »Das Wort der Stummen« sowie dem Essay »Das Bildnis Robespierres«, dem 1934 der Gedicht-Zyklus »Das Bildnis Robespierres« folgte. Daß sie sich literarisch dieses härtesten Revolutionsführers annahm, kann man als Versuch betrachten, den verbrecherischen Führern der dreißiger Jahre in Deutschland und Italien, Hitler und Mussolini, positive Entwürfe entgegenzustellen. Und ihre Formenstrenge als Selbstbehauptung und Gegenentwurf zur hemmungslosen Unordnung und gewalttätigen Gesetzlosigkeit, die die Nazi über Deutschland gebracht hatten.

Als Frau wie als Jüdin engagierte sie sich für die Emanzipation. Sie verlangte nach Partner- und Mutterschaft, konnte aber keinen gleichrangigen Partner finden. Ihr Wunsch nach einem Kind durchzieht ihr Schaffen. Über ein mißhandeltes Kind und die selbstzerstörerische Rache der Mutter bis zu deren Untergang schrieb sie die Erzählung »Die jüdische Mutter« (1930/31). Zwar ist die Prosa-Autorin wie auch die Dramatikerin nicht auf der weltliterarischen Höhe der Lyrikerin, doch lesenswert ist sie in jedem Fall.

Man könnte sie in die Nähe eines Reform-Judentums stellen. Eine Gottheit wird immer wieder beschworen und immer wieder – meist in der letzten Gedichtzeile – infrage gestellt, oft mit einem trotzigen Nein. Doch das Aufkommen des NS-Faschismus, der Machtantritt Hitlers und sein Terror-Regime klärten die Fronten. Kolmar, die nun wieder den ursprünglichen, also jüdischen Namen Chodziesner tragen mußte und unter diesem veröffentlichte, solange es noch möglich war, machte sich keinerlei Illusionen über das System. Ihre Einschätzungen sind von luzider Klarheit und stellen sie in die Reihe sowohl analytischer wie anklagender politischer Schriftsteller. Da ist sie viel härter, als in bisheriger Interpretation angenommen. Vermutlich hatte der genannte Kreis um Georg, Hilde und Walter Benjamin, mit dem Kolmar entfernt verwandt war, ihren Blick auf Kapitalismus und Faschismus geschärft. Walter ging früh ins Exil, später Georg, nur Hilde Benjamin, die spätere Justizministerin der DDR, begleitete sie noch längere Zeit.

Gertrud Kolmar hätte sich mit ihren außerordentlichen Sprachkenntnissen in vielen Ländern, auch in den USA und selbst in Palästina behauptet. Aber sie wollte Vater und Sprache nicht aufgeben. Außerdem hatte sie Schwierigkeiten mit dem Affidavid, der von den US-Behörden geforderten Erklärung vor allem von Verwandten, den Einwanderer zu versorgen, ohne den Staat damit zu belasten.

Bis 1941 hatte sie in geradezu explosiver Produktivität geschrieben – und das in begrenzter wie gefährdeter Lage. Sie stand offensichtlich Kreisen des Jüdischen Kulturbundes nahe, also den Benjamins, Erna L. Feld, Erich Lichtenstein, Jacob Picard, Kurt Pinthus.

Im Juli 1941 wurde sie zur Zwangsarbeit in der deutschen Rüstungsindustrie verpflichtet, erst in Lichtenberg, später in Charlottenburg. Am 27. Februar 1943, dem ersten Tag der sogenannten Fabrikaktion, als SS-Soldaten Tausende bislang noch »geschützter« Juden aus sogenannten Mischehen verhafteten, meist aus den Fabriken heraus, wurde Kolmar inhaftiert und am 2. März mit dem 32. Osttransport deportiert. Dieser Tag gilt seit 1951 aufgrund eines Gerichtsbeschlusses als ihr Todestag.

Eine unvergleichlich schöpferische Person, eine tief empfindende Frau, eine Jüdin, eine Dichterin, die zum Besten der deutschsprachigen Literatur gehört, wurde zur Asche von Auschwitz.

Als ich vor mehr als 40 Jahren mit zwei polnischen Freunden diesen Ort des Grauens besuchte, um meine 14 dort ebenfalls vergasten Angehörigen zu ehren, standen wir zunächst vor der gefürchteten Schwarzen Wand im Stammlager, an der viele Antifaschisten vieler Länder erschossen worden waren, darunter der Vater meines polnischen Freundes Kazik: Dieser ehrte seinen Vater auf polnisch-katholische Weise, kniend betend. Wir beiden anderen, der nichtkatholische Pole Roman und der Jude, grüßten schweigend stehend.

Dann begaben wir uns nach Birkenau zu den Trümmern der Gaskammern und Krematorien und zum Ufer der Weichsel. Deren Sand war sehr weiß, sogar im Dämmer des September-Tages. Da sprach Kazik: »Nun gehst Du auf der Asche deiner Familie.« Da konnte ich nicht mehr weiter und brach zusammen. Als mich die Freunde aufgerichtet hatten und wir schweigend zurückkehrten, erzählte mir Roman, ein damals bekannter polnischer Literaturhistoriker und Theaterkritiker, von Schriftstellern und Künstlern, die in Auschwitz umgekommen waren. Darunter auch Deutsche, eine hieße Gertrud Chodziesner-Kolmar. Ob ich die kenne? Ich schämte mich, kannte sie damals noch nicht. Ich erfuhr also in Auschwitz von ihr. Später lernte ich nach und nach ihr Werk kennen, über das wir vom 18. bis 21. März auf der Gertrud-Kolmar-Konferenz in Weimar sprechen.

Ein Leitthema ihres Denkens ist Solidarität: »Nur Nacht hört zu: ich lieb dich, mein Volk im Plunderkleid. / Wie der heidnischen Erde, Gäas Sohn entkräftet zur Mutter glitt, / So wirf dich zu dem Niederen hin, sei schwach, umarme das Leid, / Bis einst dein müder Wanderschuh auf den Nacken der Starken tritt!« (»Wir Juden«)