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Titel0612

Auf der Suche nach Wahrheit  (Sebastian Pflugbeil)

Wissenschaften, die mit der friedlichen und der militärischen Nutzung der Kernenergie in Zusammenhang stehen, sind in starkem Maße von Geheimhaltung, Halbinformation, Desinformation und Manipulation geprägt. Wer nukleare Katastrophen analysiert, bewegt sich auf vermintem Gebiet. Die größten Kontroversen gibt es bei der Einschätzung strahlenbedingter Gesundheitsschäden. Schon die folgenden Beispiele aus den Erfahrungen nach Tschernobyl verdeutlichen die Realitätsferne politischer Stellungnahmen und die fragwürdige Position hochrangiger Wissenschaftler und formal zuständiger internationaler Organisationen.

»Haltet die Bevölkerung im Unklaren über Kernspaltung und Kernfusion«, sagte US-Präsident Dwight D. Eisenhower zu seinen Mitarbeitern 1953. Er hatte verstanden, daß eine wahrheitsgetreue Information der Bürger über die Wirkungen von Atomwaffen und die Risiken, die mit Uranbergbau, Atomwaffenindustrie und allen anderen Formen der Kernenergienutzung verbunden sind, das Ende der Kernenergienutzung bedeuten würde. So waren von Beginn an Verschweigen und Lügen unverzichtbare Bestandteile der Kernenergienutzung. Begleitet werden sie von völlig unverständlichen Einschätzungen hochrangiger Fachleute. Ein leitender Mitarbeiter der Atomaufsicht der DDR erklärte auf einer UNO-Konferenz zur friedlichen Nutzung der Atomenergie 1988: »Die langjährigen Betriebserfahrungen und die Schlußfolgerungen aus den Kernkraftwerksunfällen und ... Tschernobyl belegen, daß Kernkraftwerke und andere Kernanlagen sicher betrieben werden können.« Im September 2011 konnte man auf der Jahrestagung der World Nuclear Association in London hören: »Der Atomunfall in Fukushima ist ein Beweis dafür, wie sicher Kernkraftwerke sind.« Diese Verweigerung einflußreicher Fachleute, die Realität wahrzunehmen, ist ebenso gefährlich wie die Nutzung der Kernenergie selbst.

Die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) hat eine internationale Tschernobyl-Studie geleitet, deren Ergebnisse 1991 veröffentlicht wurden. »Berichtete negative Gesundheitseffekte, die in Verbindung mit der Strahlung stehen, wurden nicht erhärtet.« Und: »Die Kinder, die untersucht wurden, waren völlig gesund.« Und: »Die Daten enthalten seit dem Unfall keinen deutlichen Anstieg von Leukämie oder Schilddrüsentumoren ... Es gibt nur Gerüchte über solche Tumore.« Bereits auf unserer ersten Tschernobyl-Konferenz 1990 in Berlin trug aber die weißrussische Ärztin Maria Ankudowitsch vor, daß der Schilddrüsenkrebs bei Kindern seit 1989 zugenommen hatte. Verantwortlich für die falschen Aussagen der IAEA zu Schilddrüsenkrebs war Fred Mettler (USA), er hatte damals bereits die Gewebeproben schilddrüsenerkrankter Kinder auf dem Tisch. Bis heute wird wahrheitswidrig behauptet, daß »strahleninduzierter Schilddrüsenkrebs nur bei Kindern und allenfalls jungen Erwachsenen« auftritt. Daraus wird abgeleitet, daß eine Jodblockade bei Erwachsenen, älter als 45 Jahre, nicht empfohlen wird. In Deutschland müssen Kernkraftwerksbetreiber die Jodtabletten für die Jodblockade finanzieren – die Empfehlung erspart den deutschen Kernkraftwerksbetreibern etwa 50 Prozent der sonst erforderlichen Kosten für die Jodtabletten. Die Tschernobyldaten zeigen dagegen auch bei Erwachsenen eine erhebliche Zunahme von Schilddrüsenkrebs. Solche Auswirkungen sind in Weißrußland und in der Tschechischen Republik nachgewiesen.

Bereits in der »heißen Phase«, den ersten zehn Jahren nach Tschernobyl, verschlechterte sich im Norden der Ukraine wie auch im Süden Weißrußlands der Gesundheitszustand der Bevölkerung rapide. Dies zeigte sich nicht nur bei den Liquidatoren, die direkt am havarierten Reaktor eingesetzt worden waren, sondern auch bei den Evakuierten und beunruhigenderweise sogar bei Kindern dieser Bevölkerungsgruppen, die erst nach der Tschernobyl-Katastrophe geboren wurden. Die weitaus überwiegende Zahl der Erkrankungen sind nicht Krebserkrankungen, sondern endokrinologische Erkrankungen, Ernährungs- und Stoffwechselstörungen, Störungen des Immunsystems, Erkrankungen des Blutes und der blutbildenden Gewebe, der Nerven und Sinnesorgane, des Kreislaufsystems, der Atemwege, der Verdauungsorgane, des Urogenitalsystems, der Haut und des Unterhautgewebes, des Muskel-Skelett-Systems und der Bindegewebe sowie Psychische Störungen. Die vorliegenden Untersuchungen – viele in russischer Sprache und damit für die westliche Welt nicht leicht zu lesen – und die gefundenen Unterschiede zwischen höher und weniger belasteten Bevölkerungsgruppen zeigen ein dichtes Netz von gravierenden Indizien, die es als sehr wahrscheinlich erscheinen lassen, daß die beobachteten Gesundheitsschäden überwiegend strahleninduziert sind. Man kommt im Bereich von Strahlenschäden über die Abschätzung von Wahrscheinlichkeiten nicht hinaus. Das liegt in der Natur der Sache, darf aber nicht dazu mißbraucht werden, die gefundenen Effekte grundsätzlich in Frage zu stellen.

Heute – 26 Jahre nach Tschernobyl – wird die weitaus überwiegende Zahl der Gesundheitsschäden von den internationalen Gremien (zum Beispiel IAEA, WHO, UNSCEAR) schlichtweg ignoriert oder ihr Zusammenhang mit der Strahlenbelastung bestritten. Aufschlußreich im Zusammenhang mit den Gesundheitsschäden nach Fukushima sind die zunächst für unmöglich gehaltenen Gesundheitsauswirkungen des Tschernobyl-Fallouts auf Deutschland und Westeuropa. Sie sind von Bedeutung, weil sie von den internationalen Gremien ignoriert werden, weil sie im Zusammenhang mit einer vergleichsweise moderaten Strahlenbelastung stehen und weil es sehr wahrscheinlich ist, daß eine große Population in Japan zumindest ähnlichen Strahlenbelastungen ausgesetzt wird.

Der Berliner Genetiker Karl Sperling bemerkte 1987, daß im Januar die Zahl der Neugeborenen mit Downsyndrom in Berlin steil angestiegen war. Die Kinder wurden neun Monate nach den Fallout-Spitzen über Berlin geboren. Auf Sperling wurde von der Strahlenschutzkommission Druck ausgeübt, eine Verbindung zu Tschernobyl nicht zum Thema zu machen. Er hat das nicht getan – später gab es Daten aus Weißrußland, die einen ebensolchen Peak der Downsyndrom-Kinder im Januar 1987 zeigten und – anders als in Berlin – dann auf einem erhöhten Niveau blieben. Es ist zu befürchten, daß die Downsyndrom-Kinder von Fukushima bereits geboren wurden.

Der Münchner Mathematiker Hagen Scherb hat sich mit Totgeburten und Fehlbildungen in Deutschland und Europa vor und nach Tschernobyl befaßt. Für die Totgeburten in Bayern, den neuen Bundesländern, Westberlin, Dänemark, Island, Lettland, Norwegen, Polen, Schweden und Ungarn war 1986 die Totgeburtlichkeit um 4.6 Prozent erhöht (p=0.0022) und von 1987 bis 1992 hochsignifikant um 8.8 Prozent (p=0,33E-6) gegenüber dem Trend auf der Basis der Jahre 1981 bis 1985 und 1987 bis 1992. Es ergibt sich ein Totgeburtenanstieg von mehreren Tausend Fällen. Finnland war auch vom Fallout betroffen. Die finnischen Fallout-Daten und die Daten der Totgeburten weisen eine signifikante Dosis-Wirkungsbeziehung zwischen der mittleren effektiven Äquivalenzdosis im Mai 1986 und dem relativen Totgeburtsrisiko im Zeitraum 1987 bis 1992 auf. Es ergibt sich ein relatives Risiko pro 1 Millisievert/Jahr (mSv/a) von 1.25 (95 Prozent KI=[1.10,1.42], p=0.0006). Für die deutschen Daten ergibt sich sehr ähnlich ein relatives Risiko pro 1 mSv/a von 1.33 mit KI=[1.16,1.51] und p=0.000026. Aus den für Bayern, die DDR und Westberlin kombinierten Daten leitet Scherb Angaben für das relative Risiko für Totgeburt pro 1 Kilobecquerel je Quadratmeter (kBq/m²) für die Jahre 1987 und 1988 ab. Es ergibt sich ein Wert für Mädchen und Jungen gesamt von 1.0061 (KI=[1.0032,1.0089], p=0.000026).

Die Epidemologie von angeborenen Fehlbildungen ist schwierig, weil es nur in wenigen Ausnahmefällen Register dazu gibt. In Deutschland gab es beispielsweise nur für einige Jahre und nur in Bayern ein solches Register. Scherb hat die Fehlbildungsdaten in Bezug auf Tschernobyl analysiert und für viele Fehlbildungen erschreckende Ergebnisse gefunden. Dabei hat er jeweils die durch Tschernobyl-Fallout hochbelasteten bayerischen Landkreise den niedrig belasteten gegenübergestellt. Für Vorhofseptum- und Ventrikelseptumdefekte (Herzfehlbildungen) ergibt sich ein geschätztes relatives Risiko pro 1 kBq/m2 von 1.013 (KI=[1.005,1.021], p=0.0020). Für Mikrozephalus (auch in Hiroshima und Nagasaki beobachtet) hat sich in den höher belasteten bayerischen Landkreisen die Diagnosehäufigkeit ab 1987 verdoppelt (p=0.0903), während sie in den niedrig belasteten Landkreisen konstant blieb.
 
Die jüngsten Überlegungen von Scherb betreffen das Geschlechtsverhältnis bei Neugeborenen (männlich/weiblich). Er fand heraus, daß sich nach Tschernobyl das Geschlechtsverhältnis in den vom Fallout betroffenen Ländern gravierend verändert hat. Nimmt man die europäischen Länder und die ebenfalls vom Fallout getroffenen früheren asiatischen Sowjetrepubliken zusammen, so ergeben sich 0,6 bis 1,1 Millionen verlorene Kinder, überwiegend Mädchen. Der Mechanismus der Schädigung ist noch nicht ganz klar, Scherb und Sperling haben dazu bereits erste Vorstellungen entwickelt, die in international angesehenen Fachjournalen publiziert wurden. Das veränderte Geschlechtsverhältnis scheint ein Indikator für strahleninduzierte Gesundheitsbeeinträchtigungen zu sein. Erste Erkenntnisse dazu lieferte der Nobelpreisträger Hermann Joseph Muller bereits vor Jahrzehnten. Scherb untersuchte gemeinsam mit weiteren Kollegen auch die Daten um die atmosphärischen Atomwaffentests: Mitte der 1960er Jahre gab es Veränderungen des Geschlechtsverhältnisses sowohl in den USA wie auch in Europa – hier wie dort ging der erhebliche Fallout nieder. Ebenfalls zeigte sich dieser Effekt in der Umgebung der deutschen Kernkraftwerke und des Lagers für hochradioaktive Abfälle in Gorleben. Diese sehr verschiedenen Bereiche werden durch eines verbunden – die Nutzung der Kernenergie. Das dabei anfallende Gift ist ionisierende Strahlung in verschiedensten Formen.

Es ist zu befürchten, daß solch »leise« Auswirkungen von Strahlenbelastungen in der Umgebung von Fukushima bereits jetzt und in den kommenden Jahren zu beklagen sind. Es ist auch zu befürchten, daß sich der Gesundheitszustand einer großen Population verschlechtern wird. Erkennen wird man das aber nur, wenn man Veränderungen sehr sorgfältig dokumentiert, wenn es Register gibt, die diese über viele Jahre erfassen und für die freie Forschung zugänglich sind. Eine entscheidende Rolle dabei spielen Ärzte und Wissenschaftler. Es wäre tragisch, wenn am Beispiel Fukushima wieder über Jahrzehnte geforscht wird, ohne die naheliegenden Schlußfolgerungen endlich zu ziehen.

Für die Ärzte und Wissenschaftler sei an Sätze erinnert, die in dem Drama »Leben des Galilei« von Bertolt Brecht zu finden sind. Dieses Drama entstand in einer Zeit, als Otto Hahn und Lise Meitner in Deutschland die Kernspaltung entdeckten: »Wer die Wahrheit nicht kennt ist nur ein Dummkopf. Aber wer sie kennt und sie eine Lüge nennt, der ist ein Verbrecher.«

Kurzfassung des Vortrags von Sebastian Pflugbeil am 3.3.2012 in Tokyo.