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Titel0612

Bemerkungen

Nachtrag Wulff
Einen Lobliedleitartikel schrieb Heike Göbel, verantwortliche Wirtschaftsredakteurin der Frankfurter Allgemeinen, auf den Kapitalismus, an dem zur Zeit ja selbst in dieser Zeitung herumgemäkelt wird, allerdings im Feuilleton. Die Vorwürfe, die diesem großartigen gesellschaftlichen System gemacht werden, seien ganz und gar unberechtigt. So etwa der, daß Kapitalisten die Neigung hätten, sich die Gunst von Politikern zu erkaufen. Unsinnige Aufbauscherei, meint Göbel, denn: »Die kläglichen Summen, die in der Wulff-Affäre ans Licht kommen, zeigen, daß dieses Bild die Wirklichkeit hierzulande grob verzerrt.« Nun müßte man nur noch wissen: Erstens ob vielleicht weitere Beträge in diesem Fall aus dem Dunkel herauskommen, zweitens ob möglicherweise dieser Politiker besonders billig zu haben war, drittens ob Kapitalisten denn, um für sich Dienstbereitschaft von Politikern anzubahnen, sich unbedingt der etwas altmodischen Methode des Schotterrüberschiebens bedienen. Es gibt da höher entwickelte Verfahrensweisen. Auch Wulff hätte daraus seinen Nutzen ziehen können, dann wäre er immer noch ein angesehener Mann.

M. W.


Rüstungswahn
Rechtzeitig vor der Präsidentschaftswahl kündigte Wladimir Putin an, er werde für »nationale Sicherheit« sorgen und deshalb das russische Militär modernisieren, die Rüstung im großen Stil ausbauen. Das belastet den Staatshaushalt, erfreut aber die Profiteure in der halb öffentlichen, halb privaten Militärbranche. Unwahrscheinlich ist, daß sich auf diese Weise ein Kollateralnutzen für die darniederliegende zivile Industrie Rußlands herstellt. Der Erlös aus dem Gasexport wird so verpulvert, produziert werden neue Großverdiener. Der Rüstungswahn ist allerdings keine russische Spezialität, ansteckend wirkt da die expansive Militärpolitik von NATO-Staaten, insbesondere der USA. Die Erwartung einer »Friedensdividende« nach dem Ende der west-östlichen Systemkonkurrenz ist längst Vergangenheit, ungehemmt setzt die globale staatliche und wirtschaftliche Konkurrenz auf Mittel der Gewalt. Als stupide Propaganda ist angesichts dessen die hierzulande übliche Kritik anzusehen, die allein der russischen Politik Rüstungstreiberei vorwirft. Personalisierend gesagt: Der alt-neue russische Präsident hat den Friedensnobelpreisträger in Washington ja als Vorbild.
A. K.


Spanien ohne linke Tageszeitung
Die Krise im Tageszeitungsgeschäft hat in Spanien ihr erstes Opfer gefordert. Nach nur viereinhalb Jahren hat die spanische Tageszeitung Público Ende Februar das Erscheinen eingestellt. Das Blatt, die kritische Stimme spanischer Zeitungen, ist pleite. Bereits in den letzten Dezembertagen hatte der Medienkonzern Mediapro das Konkursverfahren eingeleitet. Neue Investoren für die Fortführung der Zeitung wurden gesucht, aber nicht gefunden.

Die Zeitung mit dem Motto progressiv und volksnah und einem Verkaufspreis von 50 Cent (später 1,20 Euro) angetreten, hatte publizistischen Erfolg. Sie mauserte sich zum Stammblatt der Linken im Lande. Das reichte aber nicht, um Público, die kleinste spanische Zeitung, in die Gewinnzone zu bringen. In einer Mitteilung des Verlages zum endgültigen Aus heißt es: »Die Intensivierung der Werbekrise, der tiefgehende Wandel, unter dem die gedruckte Presse leidet, und die Schwierigkeiten, eine neue Finanzierung zu finden, haben den Verlag gezwungen, Konkurs anzumelden.« Der Chefredakteur Jesús Maraña bekannte: »Es war keine perfekte Zeitung, aber eine ehrliche.«

Das Blatt
war der inzwischen behäbigen El País mit seinem frischen Layout und kompromißlosen Beiträgen immer eine Nasenlänge voraus. Mit kurzen Texten und spitzen Karikaturen bezog Público Position gegen die immer noch in Spanien vorhandene franquistische Rechte, gegen den Klerus und das Finanzkapital. Die überregionale Zeitung verzichtete auf Stierkampf wie Kleinanzeigen von Prostituierten und Rotlichtszene. Bis zur letzten Printausgabe stand Público auf der Seite der sozial Schwachen und politisch Unterprivilegierten. Die Zeitung war auch das Sprachrohr der jugendlichen Empörten des »15. Mai« und ein Fürsprecher des mit Berufsverbot belegten Ermittlungsrichters Baltasar Garzón. Betroffen vom Konkurs der Zeitung sind 160 Mitarbeiter aus Redaktion und Produktion. Als Internetzeitung unter www.publico.es besteht die Zeitung weiter. Aber genügt das?
K.-H. W.


Iberischer Arbeitskampf
Den Auftakt mit einer Demonstration gegen die Veränderungen am Arbeitsmarkt machten die portugiesischen Werktätigen am 11. Februar. Dreihunderttausend Frauen und Männer versammelten sich nach Angaben der größten portugiesischen Gewerkschaft Confederação Geral dos Trabalhadores Portugueses (CGTP) in Lissabon. Die Demonstranten kamen aus allen Landesteilen. Bei ihrem Protest geht es um die Strukturreformen und Konsolidierungsmaßnahmen sowie die Bedingungen für den 78-Milliarden-Euro-Kredit. Alle im Parlament vertretenen Parteien, mit Ausnahme der zwei linken Parteien, Partido Comunista Portugês (PCP) und der Bloco de Esquarda (BE), haben den Bedingungen für den EU-Kredit zugestimmt. Der Generalsekretär der CGTP Arménio Carlos forderte die Erhöhung des portugiesischen Mindestlohns von 485 Euro. Nur so könne verhindert werden, daß 400.000 Arbeitnehmer im Land unter die Armutsgrenze fallen. Scharf kritisierte Carlos die ungleiche Verteilung der Kosten zur Finanzierung der Kredite; die Lasten tragen hauptsächlich die Werktätigen. Was Portugal derzeit benötigt, sind neue staatliche Wachstumsimpulse. Dringend überdacht werden müssen die Fristen, die Beträge und Zinsen für die Kredite. Carlos bezeichnete sie als nationale Schuld.

Ein neues Gesetz gegen die Werktätigen bereitet die Koalitionsregierung des Ministerpräsidenten und Vorsitzenden der Partido Social Democrata (PSD), Pedro Passos Coelho, vor. Danach sollen vier Feiertage, zwei weltliche und zwei christliche, gestrichen werden.

Kein Unterschied besteht zum Nachbarn Spanien. Am 19. Februar demonstrierten in 57 Städten des Landes mehrere Hunderttausend Arbeiter und Angestellte. In der Hauptstadt Madrid wurden eine halbe Million Demonstranten gezählt. Auf der Hauptverkehrsader und den zentralen Plätzen Madrids standen die Menschen dichtgedrängt. Ein ähnliches Bild boten die Demonstrationen in Sevilla, Valencia, Barcelona und Bilbao. Die geplanten Arbeitsmarktreformen in Spanien sind drastischer als bislang angenommen. In Zukunft sollen Unternehmen sogar Löhne und Gehälter kürzen können, um an Wettbewerbsfähigkeit zu gewinnen. Wird nicht so auf Kosten der Arbeiter und Angestellten der Gewinn gesteigert? Mit diesem Vorschlag hat die konservative Regierung des steifen und trockenen Ministerpräsidenten Mariano Rajoy der Partido Popular den Gewerkschaften den Fehdehandschuh hingeworfen. Die konservative Regierung beschloß nach Aussagen der Arbeitsministerin Fátima Bañez, daß bei »normalen« Kündigungen die Abfindung für den Arbeitnehmer von bisher 45 Tagesgehältern pro Arbeitsjahr auf 30 gekürzt wird. Bei betriebsbedingten Kündigungen sind es nur noch 20 Tageslöhne. Neue Unternehmer brauchen, um Neueinstellungen zu erleichtern, im ersten Jahr überhaupt keine Abfindung zu zahlen.

In Spanien sind mehr als 5,3 Millionen Menschen, das sind über 23 Prozent aller Spanier im erwerbsfähigen Alter, ohne Beschäftigung, bei den 16- bis 24jährigen sind es sogar 50 Prozent. Die Gewerkschaften gehen davon aus, daß die neuen Arbeitsgesetze die Arbeitslosenzahlen in Spanien auf über sechs Millionen ansteigen lassen.
K.-H. W.


Korrelation
»Putzfrauen haben in Deutschland die meisten Kinder« – berichtet Welt online aus neuesten statistischen Erhebungen. Da wird sich Thilo Sarrazin freuen: Schon wieder ein Beleg für seine These, daß in diesem Land die falschen Leute den Nachwuchs hervorbringen. Nun fehlt ihm noch eine statistische Angabe darüber, wie hoch der Anteil von Kopftuchträgerinnen in dieser Branche ist. Aber wie verhält es sich mit der Bundesministerin von der Leyen? Sie hat doch sieben Kinder. Aber auch Putzfrauen. Hängt möglicherweise das eine mit dem anderen zusammen? Die zitierte Meldung betrifft eine statistische Korrelation. Diese sagt noch nichts darüber aus, was Ursache und was Wirkung ist. Derselbe statistische Sachverhalt läßt sich auch so ausdrücken: Bei Kindern mit mehreren Geschwistern kommt es relativ häufig vor, daß ihre Mütter einen Teilzeitjob im Reinigungsgewerbe ausüben. Über die Gründe dafür gibt diese Zahl keine Auskunft.
M. W.


Frauentagseindrücke
Konsens allenthalben: Der Internationale Frauentag am 8. März ist inzwischen hierzulande »überparteilich« eingemeindet, auch geschlechterpolitisch, Konflikte werden da nicht mehr ausgetragen, Festakte sind üblich. »Heiter und musikalisch« sollte es bei der offiziellen Veranstaltung unserer Provinzstadt zu diesem Termin zugehen. »Sing me a love song« hieß das Programm, das Grußwort sprach der Bürgermeister – ein Mann, aber das ist er nun mal. Außerdem wurde er beim Begrüßen amtlich-fraulich begleitet, von der städtischen Gleichstellungsbeauftragten. In dieser Hinsicht ist diese Stadt nicht altertümlich, es gibt ja Kommunen, in denen ein Mann behördlich für die Gleichstellung der Frauen zuständig ist. Als weiteres hiesiges Angebot anläßlich des Frauentages ist eine »Reise ins Blaue« mit den Ladybirds zu erwähnen, acht Euro kostete der Eintritt. »Keine Ermäßigung« war dabei vermerkt, schade drum, denn vielleicht hätte doch auch eine ALG-Empfängerin Spaß daran gehabt, sich von der alltäglichen Misere ablenken zu lassen. Auf der städtischen Internetseite zum Frauentag ist erwähnt, daß dieser einst entstanden ist, um öffentlich gegen weibliches soziales Elend zu protestieren. Nur Geschichte? Nachdenklich könnte auch der Titel machen: »Internationaler« Frauentag. Da ließe sich manches berichten – zum Beispiel über europäische, auch deutsche Unternehmen, die Profit ziehen aus der Billigstarbeit von Frauen in fernen Ländern. Nicht erwähnt ist auf der besagten Website, daß es Clara Zetkin war, die vor dem Ersten Weltkrieg den Internationalen Frauentag auf den Weg brachte. Reden wir nicht von ihr – sie ist später prominente Kommunistin geworden. Seit den 1970er Jahren wird der Internationale Frauentag auch von der UNO proklamiert, und zwar als Termin des Engagements für die Rechte der Frauen und für den Weltfrieden. Daran denkt man besser nicht, sonst könnte die Frage auftreten, wie es denn gegenwärtig mit dem Protest gegen die permanente Kriegmacherei aussieht.

Übrigens hat die damals noch weithin geschmähte, inzwischen als gesellschaftsfähig angesehene Alice Schwar-zer vor Jahren schon geäußert, besser als ein Frauentag im Jahr seien doch 365 Tage, an denen alle Frauen ohne Unterdrückung ihr Leben führen könnten – und alle Männer auch. Das leuchtet ein. Allerdings zeichnet sich nicht ab, daß diese Idee realisiert würde, auch wenn Alice Schwarzer jetzt in die Bundesversammlung delegiert wurde, um dort Joachim Gauck zum Staatsoberhaupt zu wählen. Eine Hoffnung bleibt uns: Daß Deutschlands derzeit beliebtester Prediger nicht die Gelegenheit ergreift, zum Frauentag 2013 seines rhetorischen Amtes zu walten. Da könnte er doch, der Gleichstellung wegen, Beate Klarsfeld um einen Gastvortrag bitten.

Und noch eine Information: In diesen Tagen wurde gemeldet, daß nach einer Erhebung der OECD das Lohngefälle zwischen ganztags beschäftigten Männern und Frauen in der Bundesrepublik größer ist als in allen anderen europäischen Ländern.
Franziska Kniesburges


Wirkliche Wunder
Das rege besuchte Dokumentationszentrum »Alltagskultur der DDR« in Eisenhüttenstadt wurde neu konzipiert. Plasteeierbecher gibt es zu bestaunen. Und, das Herz schlägt höher: ein Pioniertuch! Ist dem Herzen auch näher als so ein Plasteeierbecher. Ulrike Poppe, erste Brandenburger Landesbeauftragte zur Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur, hatte bereits das Ver-gnügen, die genannten DDR-Reliquien zu bewundern. Wenn man das Pioniertuch zeigt, sagt Frau Poppe, müsse auch gesagt werden, »was denen geschehen ist, die nicht mit dem Pioniertuch in die Schule kamen«. Haben sich die Säumigen beim Fegen im Schulhof bewähren müssen? Wurden sie im Jugendwerkhof eingeliefert? Was ist, möglicherweise, dem Pionier Ulrike Poppe Schreckliches passiert? Immer brav das Pioniertuch um den Hals gewürgt? Oder gar, nicht Pionier gewesen? Oder, im Pionieralter, schon im Widerstand gegen die DDR? Bewundernswert! Oder ein Wunder?
Bernd Heimberger


Walter Kaufmanns Lektüre
Dieses – dieses im Besonderen! – läßt einen nicht los: Der schwer krebskranke Erich Honecker, von Jelzin an die Justiz der Bundesrepublik ausgeliefert, Gefangener in Moabit, wo er unter den Nazis schon einmal eingekerkert war, muß erfahren, daß der Stern ihm unterstellt, bei Verhören durch die Gestapo die eigenen Genossen verraten zu haben. Besonders verhängnisvoll, so wird behauptet, hätte sich sein Verhalten für die Jüdin Sarah Fodorova erwiesen ... Daß die Beschuldigung Erich Honecker schwer mitgenommen haben wird, ist sicher – schwer mitgenommen, bis endlich ein Brief aus Tel Aviv den Anwalt Friedrich Wolff erreicht. Darin schreibt eine Sarah Wiener (früher Sarah Fodorova), daß sie als kommunistischer Kurier mit Erich Honecker vor Gericht gestellt, doch von ihm nie belastet worden war. Im Gegenteil, sie habe ihren Freispruch seiner Standhaftigkeit zu verdanken – demnach hatte es nach dem Gericht keine Schutzhaft gegeben, kein KZ, keinen Tod durch Gas ... Nachdrücklich bittet Sarah Wiener um eine Gegendarstellung in der Presse. Nichts geschieht: Der Stern bleibt stumm.

Erich Honecker wurde getreten, als er schon am Boden lag. Jahrzehnte später jedoch erweisen sich seine Moabiter Aufzeichnungen, die Niederschriften des Getretenen als brisant, besonders sein hinter Gittern verfaßtes, seitenlanges Plädoyer, das er dem Gericht vortragen wird. Darin heißt es, daß der Rechtsstaat BRD kein Staat des Rechts sei, sondern ein Staat der Rechten. Der Kapitalismus habe sich ökonomisch genauso todgesiegt wie sich Hitler einst militärisch. In der BRD, schreibt er, wurde nicht nur der Kalte Krieg fortgesetzt, hier sollte ein Grundstein für ein Europa der Reichen gelegt werden. So wahr es sei, daß der Bau der Mauer auf einer Sitzung der Staaten des Warschauer Vertrages in Moskau beschlossen wurde, also nicht durch ihn, Erich Honecker, so wahr sei auch, daß nach 1961 bedeutende Politiker erkannt hätten, daß der Bau der Mauer die Weltlage entspannt habe. Nach Berührung mit dem Recht der BRD würden viele Menschen mit Frau Bohley konform gehen, die sagte: »Gerechtigkeit haben wir gewollt. Den Rechtsstaat haben wir bekommen.« Gaben auch etliche Pfarrer aus der DDR ihren Namen für eine moderne, Tausende von DDR-Bürgern ausgrenzende Hexenjagd her, unbestritten blieb, daß wegen des Eintretens der DDR für den Frieden in vierzig Jahren von deutschem Boden kein Krieg ausgegangen war und der Staat dafür hohes internationales Ansehen genossen hatte ...

»Im Saal«, schreibt Rechtsanwalt Friedrich Wolff in seinen Anmerkungen zum Plädoyer, das 70 Minuten währte, »herrschte gespannte Aufmerksamkeit. Auch das Gericht und die Staatsanwälte waren gebannt.« Und in der taz urteilte anderntags Götz Aly: »Mit dieser Rede gewann Erich Honecker seine persönliche Ehre zurück.«
W. K.

Erich Honecker: »Letzte Aufzeichnungen«, edition ost, 190 Seiten, 14,95 €


Alleingelassen
Nein, das Buch hat mich nicht so wie andere Kritiker überzeugt. Zu flott, zu oberflächlich. Ein Konglomerat von Beobachtungen, Erlebnissen. Man weiß nicht, wie alt das sich gerade erinnernde Mädchen ist – fünf, siebzehn oder zwölf Jahre? Ein gutes Buch muß gearbeitet, ja erarbeitet sein, doch so viel Zeit hatte die flotte siebenundzwanzigjährige Journalistin wohl nicht.

Andrea Hanna Hünniger wuchs als Kind in und bei Weimar auf. Als die Mauer fiel, war sie fünf. Dennoch blieb sie in den Augen beispielsweise ihrer Göttinger Kommilitonen »die aus der DDR«. Und als sie dann gar ein paar Kindheits- und Jugenderlebnisse erzählte, staunten die anderen: Eltern und Nachbarn, die nach dem Mauerfall wie gelähmt und tatsächlich krank geworden waren. Das viele Fremde ringsum. »Supermärkte« mit Probierständen, an denen man sich satt aß. ABM-Trupps, die Stiefmütterchen pflanzten. Im ehemaligen Kindergarten versammelten sich junge Neonazis. Trauer, Schweigen. Existenzangst. Zerfall von Gemeinschaften, Ehen, Freundschaften. Und niemand sagte dem Mädchen etwas. Alleingelassen. Frei. Umzug von der Platte ins Dorf. Der nette, hilfsbereite Wessi. Drogen. Therapien. Und immer: Niemand erklärt etwas wirklich. Das Kind weiß nicht wirklich, was war. Was ist, reimt es sich altersgemäß zusammen.

Viele Beobachtungen und Erlebnisse werden stimmen, sind so erzählt, als wäre die Wirkung oft erprobt. »Kurios!« »Kraß!« Schon wird damit ein neues »Generationserlebnis« kreiert. Und wenn die Eltern ganz andere gewesen wären? Und anstelle Weimar – nur wenige Kilometer entfernt – Jena, wo es anders boomte? So bleibt es eins von vielen Erlebnissen, wirr erzählt, leicht, ohne viel oder tief darüber nachgedacht zu haben. Weder ein Roman noch eine gute Erzählung in der Tradition von Kindheitsnovellen, derer es in der deutschen Literatur wunderbare gibt. Da lese ich plötzlich auf dem Titel: »Sachbuch«. Und bin platt.
Christel Berger

Andrea Hanna Hünniger: »Das Paradies. Meine Jugend nach der Mauer«, Klett-Cotta-Verlag, 217 Seiten, 17,95 €


Verstreutes von Biskupek
Der Schriftsteller Matthias Biskupek – so fleißig und vielseitig, daß man nur immer wieder staunen kann – hat auch oft mit bildenden Künstlern wie Andreas Berner und Karl-Georg Hirsch zusammengearbeitet. So entstanden kleine Kostbarkeiten, gedruckt in Auflagen von 130 oder 99 oder sogar nur zwölf Exemplaren. Eine jetzt erschienene Sammlung der kaum bekannten Texte wird sicher viele Biskupek-Freunde erfreuen. Zum Beispiel so: »Irgendwas mußten wir vorher noch gestreift haben, bevor wir aus der Kurve flogen ... Ein Rad drehte sich noch lange. Dabei hatte es nur zwei von uns sofort mit Genickbruch erwischt. Die anderen kamen erst auf dem Weg ins Krankenhaus dran. Richie schaffte es bis fast in den OP.«

Neben schwarzem Humor findet sich in dem Band allerlei Frivoles und auch Politisches von gleicher Farbe, darunter die Geschichte »Rot angeschwärzt«: »Es war die Zeit angekommen, die brachte Schönheit und Grüße von einem neuen Geist. Also machten sich auf in allen Städten, Dörfern und gemeinen Plätzen die frischen Menschen mit den glatten Köpfen, den festlichen Farben und den blühenden Hautporen. Und sie traten in die Hintern der Trägen und Faulen und sie traten in die Seiten der Weichteile und sie betraten stiefelgeschwind das Leben jener Menschen, die da hießen Zurückgebliebene und Zurückgezogene und Nichtzurechtgerückte ...«

Und in der Titelgeschichte »Rose Schwartz und die Folgen« erzählt Biskupek satirisch zuspitzend von einer Studentin aus Gera, die, wie irgendeiner Akte zu entnehmen ist, von Staatssicherheitsmitarbeitern einen Tarnnamen erhalten hat, deswegen nun als enttarnte Spitzelin gilt und mitsamt ihrer ganzen Familie beruflich und sozial ausgegrenzt wird, obwohl sie niemanden je bespitzelt hat. Vor allem aber erleben wir den Autor als Meister des intelligenten Juxes, als Künstler des freien Assoziierens in alle Richtungen, als einen Sprachsprudler, der nur zu einem unfähig ist: uns zu langweilen.
E. S.

Matthias Biskupek: »Rose Schwartz und die Folgen«, Nora Verlag, 167 S., 15 €



Von der Braunkohle vernichtet
Fast direkt vor den Toren Kölns befinden sich die Braunkohle-Tagebaue Garzweiler und Hambach: Jahrhundertealte Dörfer werden hier mit ihren Kirchen und anderen wertvollen Kulturdenkmälern, Zeugnissen einer jahrtausendealten Siedlungstradition gnadenlos weggebaggert. Die Heimat Tausender Menschen wird den Gewinninteressen eines Großkonzerns geopfert. Mitten im Frieden werden hier »blühende Landschaften« zerstört wie sonst nur im Krieg, weil RWE Power Geschäfte machen will – auf Kosten der Bürger und ihrer Gesundheit.

Über diese Barbarei hat Ingrid Bachér ihren Roman »Die Grube« geschrieben. Sie besuchte die sterbenden Dörfer, sprach mit den Vertriebenen und schildert, wie die Opfer von RWE Power die Vernichtung ihrer Heimat erleben. Selbstverständlich versuchen die Bürger, Widerstand zu leisten, schöpfen alle Mittel aus, die ihnen in einer Demokratie gegeben sind, und müssen doch erleben, wie sie einer breiten Koalition aus Lobbyisten und Politikern schutzlos ausgeliefert sind. Viele verzweifeln angesichts dieser Ohnmacht. Ihre Gefühle und Erfahrungen läßt Ingrid Bachér uns miterleben. Sie hat ein Buch mit poetischen Formulierungen vorgelegt, getragen vom Respekt für die Bewohner dieser fruchtbaren Landschaft, die hilflos erleben, wie ein Konzern seine menschenverachtende Politik mit allen Mitteln durchsetzt: »Kein Krieg, keine Besatzung, keine Naturkatastrophe in all den Jahrtausenden hat unser Land so gründlich vernichtet wie diese Braunkohle-Connection. Und ihre Herrschaft breitet sich immer mehr aus. Was für ein schönes Land und was für korrupte Politiker!« In ihrem Roman läßt Ingrid Bachér eine junge Frau zu Wort kommen, deren Bruder Simon die nahende Zerstörung des seit Generationen im Besitz der Familie befindlichen Hofes nicht verkraftet; er stirbt an einem Herzinfarkt. Beeindruckend gelingt es Ingrid Bachér, die Geschäftspraxis von RWE mit all ihren zerstörerischen Konsequenzen in einer fast lyrischen Sprache zu gestalten. Für die Anwohner ist es schwer erträglich und kaum auszuhalten, diesen Kahlschlag zu erleben. Ingrid Bachér vermag es jedoch, die Entwicklung ohne jede Verharmlosung auf eine Weise darzustellen, die es dem Leser ermöglicht, ihr Buch vielleicht nicht gerade zu »genießen« – aber doch auf eine Art zur Kenntnis zu nehmen, die die Lektüre nicht zu einer Verdoppelung des schmerzhaften Erlebens werden läßt, sondern zu einer distanzierten Auseinandersetzung. Ganz offensichtlich hat Ingrid Bachér Sympathie und Verständnis für die Opfer von RWE.

Und dieses Verstehen macht es leichter, hilft, die eigene Ohnmacht hinzunehmen.
Andreas Rumler

Ingrid Bachér: »Die Grube«. Dittrich Verlag, 173 Seiten, 17,80 €



Pankower Kultur auf der Kippe
Die Galerie Parterre darf ebensowenig parterre gehen wie die anderen vom Pankower Kulturkahlschlag bedrohten Einrichtungen – egal, ob sie wie die Galerie im Parterre, die Tucholsky-Bibliothek in der 1. Etage, das »Theater unterm Dach« im Dachgeschoß oder die Gartenarbeitsschule zu ebener Erde beheimatet sind.

»Auch über die Tucholsky-Bibliothek«, so schloß ich meinen Beitrag in Ossietzky 4/12, »ist das letzte Wort noch nicht gesprochen«. Jeden Montag trifft sich der »Ratschlag«, eine Initiative von Pro Kiez Bötzowviertel, mit Widerspenstigen aller Kultur-Coleur in der Tucholsky-Bibliothek. Mit einer solchen genre- und bezirksübergreifenden Gegenwehr hatten die »Stadtväter« von Bezirk und Senat wohl nicht gerechnet. Die Kahlschlag-Gegner demonstrierten vor und während der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) am 15. Februar, und sie mischten sich in die Debatte um den geplanten gigantischen Bibliotheksstandort auf dem Tempelhofer Feld ein. In der »Wabe« im Thälmann-Park veranstalten solidarisierende Musiker »Notstandskonzerte«, und am 6. März trafen sich Künstler und Kulturfreunde zur Eröffnung der Ausstellung »Zwischenspiel« in der Galerie Parterre. Die über 20 Jahre weit über die Hauptstadt hinaus bekannte Einrichtung bietet zeitgenössischen Künstlern ein Podium. 150 Maler, die in der Galerie bereits ausstellten oder ausstellen wollen, setzen mit je einem Exponat ihre persönliche Widerstandsmarke gegen den Kulturabbau. 100 weitere, die aus Platzgründen nicht berücksichtigt werden konnten, waren zwar an den Wänden nicht vertreten, engagieren sich jedoch ebenfalls. Die Ausstellung »Zwischenspiel« wurde in nur einer reichlichen Woche konzipiert und realisiert. Nicht weniger symbolisch als der Titel der Präsentation war, daß die Vernissage vom Posaunisten Johannes Bauer mit lauten und schrägen Tönen angeblasen wurde. Sie hallten noch nach, als das gewichtige Instrument seine Funktion längst erfüllt hatte. Bundestagsvizepräsident und Prenzlauer-Berg-Bewohner Wolfgang Thierse erhob seine Stimme und warnte vor der Schließung von Bibliotheken. Er betonte, daß der finanzielle Ertrag der Aktionen minimal, der angerichtete Schaden dagegen maximal sei. Jens Becker, Sprecher des Aktionsbündnisses der Künstler, appellierte – wie bereits im Forum der BVV – an die Vernunft und an das Gewissen der Kultursachwalter. Die gedrängt stehenden Künstler und Kulturinteressierten applaudierten ihm ebenso wie der amtierende Kulturbezirksrat Torsten Kühne (CDU), dem die Streichliste zugeschrieben wird, sein Vorgänger Michail Nelken (Die Linke), dem Versäumnisse der Vergangenheit angelastet werden, und Ex-Kultursenator Thomas Flierl (Die Linke). Die eintretende Luftknappheit resultierte nicht nur aus dem für einen derartigen Massenandrang ungeeigneten Raum.

Der konzertierte Protest gegen den Kulturkahlschlag verstärkte den Druck auf die Politik und verfehlte seine Wirkung nicht. Zum Erstaunen der Öffentlichkeit verkündeten die Medien am zweiten Märzwochenende, die Pankower Kultur sei gerettet. Das rief bei den bedrohten Einrichtungen in Kenntnis des bisherigen Verlaufs und der Argumentation der Bezirksväter eher den Eindruck einer Wunderheilung hervor. Und die Skepsis scheint angesichts der Tatsache, daß die Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen einen »Entwurf zur Beschlußempfehlung zum Doppelhaushaltsplanentwurf« vorlegten, der bestenfalls als Absichtserklärung zu bewerten ist, mehr als berechtigt

Zur Streichliste gibt es täglich neue, modifizierte Informationen.

Am 14. März werden die Bezirksverordneten nach der zweiten Lesung des Haushalts ihre Entscheidung treffen. Der Pankower Ratschlag, das Aktionsbündnis Berliner Künstler und Pro Kiez Bötzowviertel e.V. sind gut beraten, den Prozeß weiterhin prüfend zu begleiten und auf einer Teilnahme und einer Anhörung im Abgeordnetenhaus zu bestehen. Das umso mehr, als Bezirk und Abgeordnete Lösungen anstreben, die Kultur aus der kommunalen Verantwortung zu entlassen und an Dritte abgeben.

Wie gesagt: Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen. Aber die Zeit drängt!
Wolfgang Helfritsch