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Titel062013

Berlinale-Nachlese  (Heinz Kersten)

Minutenlang ruht anfänglich der Blick auf einem Gitter, das eine Villa von der Außenwelt am Kaspischen Meer abschirmt. Schließlich taucht ein grauhaariger Mann mit einer schwarzen Tasche auf, aus der er einen verspielten kleinen Hund befreit. Der Ankömmling schließt, wie noch mehrfach im Film, alle Vorhänge, aus einem Minifernseher verkündet eine Stimme, daß Hunde nicht mehr frei herumlaufen dürfen, da sie für den Islam als unrein gelten – ­auf dem Bildschirm sieht man aufgereihte Hundekadaver. Ein junges Paar verschafft sich Zugang, sucht Zuflucht vor Verfolgern. Der Bruder läßt seine Schwester zurück, warnt, sie sei selbstmordgefährdet. Der »Hausherr« fühlt sich von ihr gestört: Er habe sich ins Haus eines Freundes zurückgezogen, um hier zu arbeiten. Seine Identität wird gelüftet, als ein Nachbar nach »Herrn Panahi« ruft. Aber der im Iran wegen »Propaganda gegen das System« zu sechs Jahren verurteilte Regisseur Jafar Panahi, der wohl aufgrund der breiten internationalen Solidarität seine Haft bisher nicht antreten mußte und trotzig kühn den Film »Pardé« (Geschlossener Vorhang) drehen konnte, taucht darin nur gelegentlich selbst auf und wird sonst von seinem Freund und Koregisseur Kamboziya Partovi in der Rolle des Schriftstellers vertreten. Aber so genau wird einem das nicht klar, ist doch in dem Film die Realität mehrfach gebrochen. Sieht nicht die geflohene junge Frau genauso aus wie die Schöne auf dem im Haus hängenden Plakat zum Film »Le Cercle«, für den Panahi 2000 in Venedig einen Goldenen Löwen bekam? »Melancholie geistert durch die Geschichte«, schreibt der 52jährige Regisseur über »Pardé«. Am Ende schließt der Protagonist das Gitter, das wir am Anfang sahen, hinter sich und steigt in ein entfernt wartendes Auto. Hoffnung auf ersehnte Befreiung?

Wie im vergangenen Jahr als Jurymitglied der Berlinale konnte Panahi auch diesmal nicht anreisen und den Drehbuch-Preis persönlich entgegennehmen. Als aussagekräftige Metapher seiner eigenen Situation war der Film ein Höhepunkt des sonst schwachen Festival-Wettbewerbs. Aufführung und Auszeichnung hatten noch ein Nachspiel: Die Regierung in Teheran protestierte dagegen und wertete das Drehbuch des Films als Straftat. Regisseur und Schauspielerin wurden bei der Rückkehr aus Berlin die Pässe abgenommen, und sie erhielten Ausreiseverbot.

Auffallend zum ersten Mal eine starke Präsenz osteuropäischer Kinematografien, die bisher ihrer Qualität zum Trotz weitgehend ignoriert wurden. Diesmal schafften es viele Produktionen auch gleich unter die Preisträger. Čalin Peter Netzer erhielt sogar mit »Pozitia copilului« (Child’s Pose) den Goldenen Bären für Rumänien. Im Mittelpunkt steht eine Repräsentantin der Oberschicht des Landes, die alle Mittel der Bestechung einsetzt, um ihrem Sohn, der ein Kind überfahren hat, eine Gefängnishaft zu ersparen. Schlaglichter auf die moralische Verfassung der Bourgeoisie des Landes und die Korruption bei Polizei und Justiz.

So hätte »Child’s Pose« heute nicht mehr gemacht werden könne, betonte die Produzentin nach Entgegennahme des Preises. Gerade habe Rumäniens Regierung die Filmförderung gekürzt. Viel werde über politische Zensur gesprochen, aber »auch die kommerzielle Zensur gegen das Art-house-Kino« sei »gefährlich«.

Im Mainstream-Kino-Alltag ist diese Gefahr längst Wirklichkeit. Zehn Tage Berlinale lassen es fast vergessen, aber danach bedarf es engagierter Verleiher und Kinomacher, durch den Einsatz auch politisch wichtiger Festivalbeiträge diese nicht in Vergessenheit geraten zu lassen und sie auch jenseits des »Event«-Ausnahmezustandes einem breiten Publikum zu vermitteln.

Aktualität und soziale Sprengkraft besitzt die Geschichte einer Roma-Familie mit zwei kleinen Töchtern über Bosnien hinaus. Der Vater verdient das Geld, indem er alte Autos ausschlachtet und die Metallteile an einen Schrotthändler verkauft. Als seine Frau schreckliche Bauchschmerzen bekommt, fährt er mit ihr in ein Krankenhaus, wo sie erfährt, daß das Baby tot ist und die Mutter wegen drohender Sepsis operiert werden muß. Aber das Personal verlangt erst 500 Euro, da sie nicht krankenversichert ist, zu viel Geld für eine arme Roma-Familie. (Man konnte an den Kölner katholischen Klinik-Skandal denken.) Die beiden fahren zurück nach Hause, sie überlebt.

Der renommierte Regisseur Danis Tanović, Oscar- und Golden-Globe-Preisträger, erfuhr von dieser Geschichte aus der Zeitung, fuhr voller Wut in das Dorf und bewegte das Paar, ihre eigene Geschichte noch einmal für einen Film nachzuspielen. Er organisierte 17.000 Euro staatliche Filmförderung, die für den bewegenden Festivalbeitrag reichte mit einem (leider roma-untypischen) Happy End: Regisseur und Familie mit neuem Baby standen in Berlin auf dem roten Teppich. »Epizoda u Životu Berača Željeza« (An Episode in the Life of an Iron Picker) erhielt auf der Berlinale den Großen Preis der Jury, der Laienspieler-Held Nazif Mujic den Darsteller-Preis.

Aus Polen kam ein für das katholische Land sicher provokanter Film über Priestertum und Homosexualität: »W Imie ...« (In the Name of), gedreht von einer Frau, Malgośka Szumowska. Adam hat es in einem Dorf mit schwererziehbaren Jungen zu tun und erlebt, als ein schweigsamer Neuer hinzukommt, Anfechtungen, die er mit Alkohol zu betäuben sucht, bis er ihnen nachgibt und, ein übliches Verfahren, versetzt wird. Symbolhaltige Bilder aus der Passionsgeschichte überhöhen den Konflikt des von Andrzej Chyra eindrucksvoll verkörperten jungen Paters. Der zum 27. Mal verliehene Teddy Award würdigte den Film als besten einer zahlreichen Auswahl schwul/lesbischer Thematik, die traditionell zu den Charakteristiken der Berlinale gehört.

Eine Vorlage für Kardinal Meisner, der Berlinale »Katholikenphobie« vorzuwerfen, hätte der Wettbewerbsfilm »La Religieuse« liefern können. Schließlich war 1966 Jacques Rivettes Leinwand-Adaption von Diderots gleichnamigem Roman (dt. Die Nonne) mit Anna Karina und Liselotte Pulver zeitweise von der französischen Zensur verboten worden. Guillaume Nicloux' Neuverfilmung konzentriert sich ganz auf die Unbeugsamkeit der Titelheldin (Pauline Etienne), die von ihrer Familie in ein Kloster abgeschoben wurde, wo sie dem Sadismus einer Äbtissin und der lesbischen Zudringlichkeit deren Nachfolgerin ausgesetzt ist, sich aber bis zu ihrer Flucht weigert, das Gelübde abzulegen.

Als Kostümfilm hat »La Religieuse« bereits einen deutschen Verleih, während es Bruno Dumonts stilistisch strenger, fast dokumentarischer Stil, mit dem er einige Tage im Leben einer Schicksalsverwandten schildert, beim Publikum schwerer haben dürfte. Auch die Protagonistin von »Camille Claudel 1915« ist von ihrer Familie in eine katholische Anstalt für geistig Behinderte, die sich selbst spielen, verbannt: eine Hölle. Als Bildhauerin bleibt ihr die Anerkennung in der männerdominierten Kunstwelt versagt, der ehemalige Liebhaber Auguste Rodin empfand sie wohl als Konkurrenz, ein typisches Künstlerinnenschicksal. Der einzige Besuch hinter den dicken Mauern, die sie umschließen, der 24 Jahre ältere, frömmelnde Bruder Paul Claudel, Diplomat und katholischer Dramatiker, tut nichts, um die Schwester herauszuholen. Bis ihrem Tode 1943 verbrachte Camille ihre letzten dreißig Lebensjahre in psychiatrischen Anstalten.

Hauptdarstellerin Juliette Binoche gehörte zum Staraufgebot des Festivals neben Isabelle Huppert und Catharine Deneuve. Um die Diven auf dem roten Teppich glänzen zu lassen, nimmt Berlinale-Chef Dieter Kosslick, wie nicht nur bei Letzterer, auch mit den Einladungen verbundene schlechte Filme in Kauf. Menschentrauben vor dem Hinterausgang vom Hotel Hyatt, um vielleicht den Blick eines Stars zu erhaschen oder gar ein Autogramm, tragen dann ebenso zum Ruf der Berlinale bei, ein Publikumsfestival zu sein, wie hundert Meter lange Schlangen vor dem Ticketschalter in den Arkaden am Potsdamer Platz.

Dem Anspruch, ein politisches Festival zu sein, wurden mehr als der Wettbewerb die Nebenreihen gerecht. Weitaus interessanter als der russische Wettbewerbsbeitrag »Dolgaya Schastlivaya Zhizn« (A Long and Happy Liefe) von Boris Khlebnikov war aus Rußland im Forum, »Za Marksa …« von Svetlana Baskova. »Für Marx ...«: Der Titel erinnert an das gleichnamige Buch von Louis Althusser und verweist auch auf die »Aktualität der Ideen von Marx angesichts des Aufkommens kapitalistischer Verhältnisse im heutigen Rußland« (Svetlana Baskova). »Empörung über aktuelle Zustände in Rußland« nannte die Regisseurin vom Jahrgang 1965 auch als Motiv, diesen Film zu machen, nachdem sie Arbeiterdemonstrationen in verschiedenen russischen Städten erlebt hatte. Sie kommt wie ihre Produzenten aus der alternativen Kunstszene, wurde durch radikale Videofilme bekannt. »Za Marksa ...« ist ihr erster Langspielfilm, für ein breiteres Publikum konzipiert, und will »die entstehende Gewerkschaftsbewegung in unserem Land unterstützen«. Die Formierung solch unabhängiger Gewerkschaften in einem Stahlwerk stößt auf den erbitterten Widerstand des Fabrikdirektors, die Karikatur eines Oligarchen, der auch nicht vor Mord zurückschreckt. Trotzdem sind mit ihm Elemente der Farce und Groteske in den Film integriert, während Mitglieder des werkeigenen Filmklubs ernsthaft über Brecht und Godard diskutieren.

Eine Traditionsliste führt auch zum russischen »parallelen Kino« der achtziger Jahre. Einer dessen führender Vertreter, Igor Aljenikov –­ er starb 1994 bei einem Flugzeugunglück –, gründete damals die Filmzeitschrift Cine Fantom, heute Name des Studios, das »Za Marksa ...« produzierte. Igors Bruder Gleb als einer der Produzenten bekennt sich zum Aufbau eines »Neo-Sowjetischen Films«, unter welcher Bezeichnung bereits Svetlana Baskovas Langspielfilmdebüt firmiert. Zu seinen Produzenten gehört auch Anatolij Osmolovskij, dessen Wertung der vergangenen zwanzig Jahre in Rußland auch für 25 Jahre Nach-»Wende«-DDR-Erfahrung gelten könnte: »Die Tragik liegt nicht darin, daß hier der Kapitalismus restauriert wurde, sondern darin, daß extrem viele positive Errungenschaften des Sozialismus auf den Müll geworfen wurden und weiterhin werden.«