erstellt mit easyCMS
Titel615

Das Femme-Syndrom  (Wolfgang Schreyer)

Mir scheint, Triumph und Fehlschlag liegen oft ganz dicht beieinander. Als Jungarzt indischer Herkunft kannte ich meinen Platz in diesem Land. Der war recht ärmlich, fast ohne Aufstiegschance. Wer Anshu Gani heißt, der ist schon dankbar, wenn ein so feines Haus wie die Jupiter-Klinik an Hamburgs Elbchaussee ihn überhaupt beschäftigt. Mehr als Erfolg am Krankenbett trug mich denn auch die Sympathie des Pflegepersonals. Von meinem Titel Dr. med. Gani leitete es den hübschen Spitznamen »Ganymed« ab – passend zum Stil der Klinik, die im Geist antiker Mythen dem bildungsbürgerlichen Anspruch ihrer Patienten folgt.


Bekanntlich ist Ganymed bei Ovid ein schöner Jüngling gewesen, der als Mundschenk diente. Und ich wirkte wohl recht liebenswürdig auf all die Nymphen hier, ohne mir viel darauf einzubilden oder ihnen etwa nachzustellen. Dank meines sanften, mitunter leicht zwitterhaften Wesens verstand ich stets Frauen so gut wie die Männer. Das zarte Geschlecht lockte und bremste mich zugleich, als wirke da ein geheimes Tabu. Im Umgang mit Frauen hielt ich manchmal inne, um meine Gefühle zu entwirren. Das spürten sie und nahmen es für Respekt, den ihnen männliche Ärzte oft versagen. Ihr Haupt aber, die Stationsschwester Bernadine, neigte sich mir erst zu, als ich ihr die CD »Gentlemen of Swing« schenkte, mit dem Titel »Bernadine«, zu einer Big Band festlich gesungen von Pat Boone, dem lonely star of jazz.


Der Tag, der soviel veränderte, fing für uns übel an: mit dem Freitod eines depressiven Patienten, den wir ambulant betreuten. Die dringend nötige stationäre Behandlung hatte er verweigert, als seinem Ruf in der Geschäftswelt abträglich. Wir nannten ihn »Neptun«, nach dem römischen Gott des Meeres, weil er im Vorstand seiner Großreederei zu den wichtigsten Wirtschaftsführern der Hansestadt zählte. Folglich trübte sein Tod die Leitungssitzung unserer Chefärzte am Tag nach dem Unglück vom dritten Advent. Um so genau zu sein, wie ihr Deutschen das mögt – es war der 15. Dezember 2014, an dem sich mein Schicksal entschied.


Anfangs folgte das Gremium der Deutung meines Vorgesetzten, des Psychiaters und Neurologen Dr. Anselm Helms. Als den behandelnden Arzt von »Neptun« nahm er mich mit ins Obergeschoß, wo der elitäre Kreis tagte. Dort führte Helms das tragische Geschehen ganz wesentlich auf den anstehenden Umzug des Konzerns zurück, dessen steuergünstige Verlegung nach Dublin. Das habe »Neptun« den Rest gegeben: Heim und Familie seien der letzte Halt des Siebzigjährigen gewesen ... Nun ging das Wort an mich, und ich versuchte, Helms‘ Darstellung taktvoll zu ergänzen. Das jedoch schlug fehl, die Dynamik des Falls riß mich hin. Denn ich wußte aus all den Gesprächen, mein Patient war mehr noch ein Opfer jener Ängste geworden, die derzeit durch viele Chefetagen geistern; nämlich der Furcht vor den Folgen der Frauenquote.


Man wandte sich mir mißbilligend zu. Es schien hier unüblich, sich derart abweichend zu äußern. Jeder der Herren hegte wohl das stolze Gefühl, Primus zu sein, der Beste seines Fachs. Eine klassische Arroganz, tief wurzelnd im Status des Klinikums als herausragendem Hort der deutschen, ja der europäischen Medizin. Der Chirurg Dr. Hartmut Beinhorn wirkte, als er mich unterbrach, so grimmig wie einst Marcel Reich-Ranicki, wenn er im Fernsehen einen Roman verriß. Doch unter dem ruhigen Blick des Klinikdirektors Professor Justus Theyssen faßte ich Mut.


Und was ich da vortrug aus meinen Notizen, das schien mir erdrückend. »Dreißig Prozent in der Leitung«, hatte der Verstorbene gestöhnt. »So steht es im Programm der Großen Koalition ... Pure Ideologie als gesellschaftliche Weichenstellung, auf die jetzt alles drängt, ohne Rücksicht auf Verluste beim Sachverstand – solch Schmuck der Statistik wird zum Desaster! Von kompetenten Spitzenfrauen gibt‘s doch viel zu wenige, wir suchen ja händeringend. Da hievt man dann welche auf Chefsessel, die von außen kommen und den Laden nicht kennen. Diese Damen müssen scheitern – und das trifft uns viel härter als die Entgeltgleichheit von Mann und Frau oder selbst der Mindestlohn. Wir werden wettbewerbsunfähig! Nein, diese elende Quote überleben wir nicht ...« Ich sah hoch von meinem Papier in all die kühlen Mienen und schloß: »Nun, auf ihn selber traf das leider zu.«


Es bezeugt die Spannung, unter der ich stand, daß mir erst jetzt aufging, es war eine reine Männerriege, die mich da stumm umgab. Die leitende Radiologin nämlich, acht Prozent des Gremiums verkörpernd, war schon im Weihnachtsurlaub. Ach, wie nur legt man den Finger in die Wunde des Quotenschocks, wenn der Finger bebt, weil all das auch einem selber gilt? Die Ärzte trommelten stumm auf den Tisch, was das Peinliche der Situation noch unterstrich, zumal im eigenen Haus.


»Unsere Kundschaft ist in Not, und zwar landesweit«, faßte Kurt Maybach dies zusammen, der kaufmännische Leiter. Er war als Diplomvolkswirt über McKinsey, Pfizer und Ratiopharm zu uns gelangt und wirkte souverän mit seiner klangvoll tiefen Stimme. »Wir sollten schon versuchen, den Bedrängten beizustehen.«


»Bloß wie?« fragte Professor Theyssen. »Mir zeigt sich da kein Weg.«


Obwohl hier bloß Randfigur, meldete ich mich zu Wort. »Vielleicht, indem wir Topmanagern, soweit sie den Hauch eines weiblichen Elements in sich spüren«, sagte ich halblaut und scheu, »die Chance eröffnen, zum anderen Geschlecht zu konvertieren.«


»Das ist ein Witz, ja?« schnappte Dr. Schneyder, unser Gynäkologe. Im Zweifel zur Abtreibung neigend, hieß er hausintern wie auch bei seiner Klientel insgeheim Damenschneider. »Und ein mieser dazu!«


»Lassen wir ihn ausreden«, bat Kurt Maybach. »Selbst wenn es verdammt nach Tabubruch klingt.«


»Nun ja, ein winziger Teil unserer Eliten könnte das womöglich in Erwägung ziehen«, räumte Dr. Scharf widerstrebend ein, der Hautarzt. »Aber ein echter Spitzenmann, hochkarätig, führungsstark? Allenfalls doch so ein Weichei ohne Durchschlagskraft.«


Man stimmte ihm zu, jemand rief »es reicht!«, auch fielen Worte wie »Voodoo-Trick« oder »Zirkusnummer«. Und wiederum sprang Maybach mir bei. »Auch in manchem Alfatyp steckt doch ein ominöser Kern«, hielt er fest. »Erinnern wir uns mal an Edgar Hoover, den Vater des durchaus effektiven amerikanischen FBI. Wie der im Amt stets den Stählernen gab und gnadenlos Feinde jagte, um nachts dann in Schwulenbars zu tanzen, in Frauenkleidern, meine Herren! Wünschen Sie weitere Beispiele? Ich kann gern damit dienen.«


Vor seiner Eloquenz wich man zurück. Ich merkte, wie er Feuer fing. Ihm tat sich da ja ein neues Geschäftsfeld auf! Der Spitzname Reibach hing ihm an, zu Unrecht, sah er sich doch seitens unserer Konzernmutter schwer bedrängt. Ständig wünschte man in Luxemburg, von wo aus der Hippokrates-Kliniktrust über 100 Häuser wacht, schwarze Zahlen von ihm, möglichst hoch. Und er gab, was blieb ihm übrig, den Druck weiter an die Stationen: optimale Auslastung der Betten, unseres medizinischen Geräts und des ärztlichen Potentials! Ein Topmanager, so hörte ich ihn jetzt sagen, werde sich prinzipiell keiner Idee entziehen, die dem Firmenwohl dient. Das sechsstellige Honorar für unser Haus, dies seien bei den heute üblichen Gagen plus Boni eher Peanuts für ihn.


Die Debatte, hoch emotional geführt, endete erst, als Professor Theyssen sie stoppte. »Wir bringen es in diesem Kreis auch nur auf acht Prozent«, bemerkte er trocken und wandte sich an mich. »Hilfreich wäre gewiß der übliche Selbstversuch des Erfinders. Würden Sie, Herr Gani, denn der Tradition folgen und für sich persönlich soweit gehen wollen?«


Alle starrten mich an; es verschlug mir die Sprache. Doch als ich den Dr. Beinhorn giftig lachen hörte – kurz wie bei einem Kasinowitz –, da entfuhr es mir: »Wenn es der Klinik nützt, durchaus, jederzeit.«


Mein jäher Trotz hatte eine Doppelwirkung, er belustigte die Runde, und er überzeugte sie. Erstmals fühlte ich mich ernstgenommen hier im Haus, fast schon als dessen Retter. Denn nun nickte man mir staunend zu!


Und Kurt Maybach besiegelte den Akt mit Aplomb. »Wie wir wissen, ist Jupiter, unser Schutzpatron, der höchste Gott im alten Rom gewesen. Er wachte über die Verträge, den Schwur und das Recht. Er konnte ein fliehendes Heer wieder zum Stehen bringen, also den bedrohten Staat schützen ... Ja, und genau das erwartet man jetzt von uns.«


Er blieb die stärkste Figur am Tisch, ein Vollgasprofi, in seiner Präsenz und Schlagkraft halt der tolle Werbemann, auf den so griffige Slogans zurückgingen wie »Schlank und schön durch Östrogen«. Gemäß seiner Neigung, ins Englische zu gleiten, fiel ihm für die neue Bedrohung das Wort female threat ein; von der Runde abgemildert zu the female factor. Mein Therapievorschlag hieß bei ihm »Tina«: ein Kürzel für There is no alternative ... Dr. Garcia, der Herzspezialist mit spanischen Wurzeln, warb für la salida (der Ausweg). Professor Theyssen lag Französisches näher; die neue depressive Störung erklärte er zum lebensbedrohlichen Femme-Syndrom. Das wurde bald auch der amtliche Ausdruck; man findet ihn heute in medizinischen Lexika dicht bei Stichworten wie Fallsucht, Fehlgeburt und Feminismus.


Im Abwärtslift raunte mein Chef mir zu: »Übrigens wundert es mich nicht, daß dies von Ihnen kam.« Er hatte die Gabe, Unangenehmes zu äußern, ohne grob zu brüskieren. Ich freilich fühlte mich von ihm durchschaut, hatte ich doch von klein auf geahnt, etwas mußte anders sein mit mir. Ein richtiger Bengel war ich nie gewesen, hing an keinem Klettertau, Fußball war mir schnurz – mit der Mutter kochen oder häkeln aber schön. Es schien ein Irrtum der Natur, aus mir einen Knaben zu machen; nur mein Glied war männlich, das Gehirn eher einfühlsam, ja weiblich. Dieses kann man nicht ändern, wohl aber den Rest.


Helms allerdings meinte es viel böser, rein beruflich, denn beim Verlassen des Lifts zischte er: »Dem Haus möchten Sie dienen, mein Lieber? Mehr doch wohl sich selbst!«


Gut, daß ich ihm nicht widersprach, damals im Dezember 2014. Denn schließlich hat er recht behalten. Heute stehe ich als Oberärztin Anja Gani an seinem Platz, zugunsten der Statistik und glücklich als Frau. Da erfreut mich der unvergessene Frank Sinatra, wenn er singt: What a difference a day makes, twenty-four little hours
... Und ich genieße es, mit Bernadine shoppen zu gehen, sie berät mich beim Einkauf, ob nun von Schuhen oder von Haarfarbe in der Drogerie. Ja, wir mögen es, uns gegenseitig herauszuputzen. Mein Gehalt hat sich verdreifacht, mit dem flinken Geschlechtswechsel hab ich überhaupt kein Problem – und vergesse nie, all das verdanke ich dem heilsamen Schock des jüngsten Kulturwandels, kurzum: der Quote.