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Titel615

Bemerkungen

Erwünschte Mordfolgen
Kaum war Boris Nemzow erschossen, wußten deutsche Redaktionen, von der Bild bis zur F.A.Z., wer der Schuldige ist: Wladimir Putin. Den Mordauftrag müsse er nicht gegeben haben, in jedem Fall sei er der »Verantwortliche«. Also mehr NATO-Waffen gen Osten schaffen ...


Auf eine weiterreichende, geostrategisch noch stärker ambitionierte Sicht des Ereignisses verwies, diskurstaktisch wohl etwas leichtfertig, die Welt am Sonntag: Der Mord spitze womöglich die inneren Konflikte in der russischen Gesellschaft schärfer zu, und wenn dieser Staat »in Gewalt versinkt, dann könnte auch für die Mittelschicht und die Eliten dort die Grenze des Erträglichen erreicht sein«. Auf dem Titelblatt der WamS-Druckausgabe hieß es: »Ein Mord, der Putin gefährlich wird«.


Chaos in Rußland und dann eine Revolution, nicht ohne externe Förderung, als hoffnungsvolles Kalkül? So hat, folgt man dieser Deutung des Mordes und seiner Folgen, auch eine Gewalttat ihre positiven Effekte, für den Export »westlicher Werte«.

A. K.


Der Modernisierer
Peer Steinbrück, als SPD-Kanzlerkandidat gescheitert, aber immer noch Volksvertreter im Deutschen Bundestag, hat ein neues (»vergütetes«, wie er sagt) Arbeitsfeld gefunden: die Ukraine. Er kennt sie bisher noch nicht, soll sie aber »modernisieren«, als Finanzexperte in einem westeuropäischen Team, das einige Oligarchen sich etwas kosten lassen wollen, darunter der nach Österreich übergesiedelte Vielfachunternehmer und Milliardär Dmytro Firtasch. Die Regierung in Kiew braucht Geld in ihre Kasse, die marode Armee soll saniert werden. Zu den »modernisierenden« deutschen Politikern gehört auch Karl-Georg Wellmann (CDU-MdB), dem es an forschen Einfällen nicht fehlt; einer davon: Auch ohne UN-Mandat solle doch »der Westen« Syrien den Krieg erklären.


Als Retter der Unterschichten vor dem Sozialruin wird Steinbrück in der Ukraine nicht auftreten müssen, diesmal wird ihm keine Wahlkampfrolle zugemutet.

P. S.


Westalgie
In der DDR war man der Angeschmierte, wenn man die Sowjetunion kritisierte. Heutzutage liegt man schief, sieht man die Russen positiv. Was uns zu der Erkenntnis bringt: Auch Torheit ist systembedingt.

Günter Krone


Zahlen-Bezugspunkt
»China rüstet gewaltig auf« meldet dpa laut FAZ online vom 4. März. Das Land belege hinter den USA den zweiten Rang beim Militärhaushalt, und der solle nach zwölf Prozent im Vorjahr jetzt um weitere »etwa zehn Prozent« wachsen. »Die Volksrepublik will unbedingt zu Amerika aufschließen.«


Bei der derzeitigen Steigerungsrate dürfte das allerdings noch geraume Zeit dauern. Welches der beiden Länder im Vergleich gewaltig aufgerüstet hat und das schon seit Jahren, zeigt ein Blick auf die vom Internationalen Institut für Strategische Studien veröffentlichten Zahlen: Der US-amerikanische Militäretat liegt um mehr als 400 Prozent über dem chinesischen.


Doch solche Zahlenangaben kranken daran, daß ihnen der Bezugspunkt »Mensch« fehlt. Denn gleichgültig, ob die Volksrepublik China umgerechnet über 80 Dollar und die Vereinigten Staaten mehr als 1800 Dollar pro Einwohner und Jahr fürs Militär ausgeben: Dieses Geld fehlt auf jeden Fall für soziale und andere sinnvolle Aufgaben. Dabei leben in beiden Ländern Millionen von Menschen an und unter der Armutsgrenze.

I. D.


Winkler biblisch
Heinrich August Winkler, zur Zeit in den Feuilletons hoch gelobt wegen des abschließenden Bandes seines Monumentalwerkes »Der Westen«, eifriger publizistischer Verfechter nordatlantischer Bündnistreue, hat eine ultimative Erklärung dafür gefunden, daß der Islamismus sich »westlichen Werten« verweigere: Mohammed ist einer Aufforderung von Jesus nicht gefolgt. Die hieß: »Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist.« Infolgedessen sei von den Moslems nicht begriffen worden, daß zwischen politisch-staatlichem Handeln und dem Walten von Religionen eine Trennlinie gezogen werden müsse. Also auch kein »Gotteskriegertum«? Aber was ist mit den »westlichen« Kriegszügen im Namen Gottes? Etwa dem von George W. Bush?


Nebenbei: Bibelfest ist Winkler nicht. Der Jesus zugeschriebene Satz war keine verfassungstheoretische Deklaration, sondern ein ironischer Ausweg aus einer diskursiven Falle, Antwort auf eine Fangfrage; die durchaus böswilligen Fragesteller trollten sich blamiert davon. Der Satz war auch keine Aufforderung, sich der Obrigkeit (damals der römischen) zu unterwerfen, schon gar nicht eine Verzichterklärung auf religiös begründete Opposition gegen gesellschaftlich herrschende Normen. Gewaltanbetung (auch orientalische) und Imperialismus (west-»ethischer«) waren nicht sein Ding. Und in das Winklersche »normative Projekt«, die weltweite Durchsetzung nordatlantischer Politikmuster, läßt sich der Unruhestifter aus Nazareth nicht postum einbeziehen.


M. W.

 


Humanismus Exitus

Spiegel online berichtet, daß die Hinrichtung einer zum Tode verurteilten Frau im US-Staat Georgia wenige Stunden vor dem Exekutionstermin (sie »hatte ihre letzte Mahlzeit schon zu sich genommen«) verschoben wurde – »wegen eines Wintersturms«. An gleicher Stelle steht, daß dort eine vor 70 Jahren hingerichtete Frau »posthum begnadigt« wurde. Wen das nicht überzeugt, daß auch die Todesstrafe mit menschlicher Wärme vollstreckt werden kann, der muß schon sehr vom Antiamerikanismus angefressen sein.

Günter Krone


Ein Frauentagsgeschenk
Termingerecht kurz vor dem Internationalen Frauentag hat der Deutsche Bundestag eine »Frauenquote« per Gesetz beschlossen. Vor allem SPD und Grüne sind hochzufrieden: »Ein historischer Schritt«, jubelte die Familien- und Frauenministerin Manuela Schwesig (SPD); Katrin Göring-Eckardt, grüne Fraktionsvorsitzende im Bundestag, sprach ebenfalls von einem »historischen Ereignis«. Justizminister Heiko Maas (SPD) legte noch eins drauf: Dies sei »der größte Beitrag zur weiblichen Gleichberechtigung seit dem Frauenwahlrecht«. Die beiden Parteien können nun damit Reklame machen, sie hätten den deutschen Frauen zu ihrem beruflichen Glück verholfen.


Der Faktencheck: Eine 30-Prozent-Quote soll erfüllt werden in den Aufsichtsräten von 103 börsennotierten Großunternehmen. Nicht etwa in deren Vorständen, denn da geht es ums Alltagsgeschäft, die Personal- und Lohnpolitik. Und nichts ändert sich auf den betrieblichen Ebenen darunter. Keiner Altenpflegerin, Krankenschwester, Verkäuferin und Gebäudereinigerin ist mit dieser Neuerung in der Luxusetage der deutschen Wirtschaft geholfen.


»Symbolische Politik« kann man das nennen, oder genauer, mit einem rheinischen Wort: parteipolitische Verdummdeubelung des weiblichen Publikums.

M. W.


17 Rosen
Es war eine Notiz in der spanischen Internetzeitung Público, die mir den Hinweis auf den Ort Guillena und die dort von Franquisten im spanischen Bürgerkrieg ermordeten Frauen gab. Heute führt die Autovia A 66 von Sevilla nach Mérida zu dem Ort. In den 1930er Jahren noch ein Dorf, ist Guillena heute eine der typischen spanischen Kleinstädte.


Die Leidensgeschichte des Dorfes Guillena beginnt im September 1937. Francos Soldaten kommen ins Dorf und nehmen 19 Frauen fest. Die Franquisten wollen aus den Gefangenen die Aufenthaltsorte ihrer für die Republik streitenden Männer pressen. Von der Soldateska gedemütigt verrät keine der Frauen ihren Peinigern einen Namen. Zwei Monate später, im November, werden zwei Frauen aus der Haft entlassen, die anderen 17 Frauen werden auf dem Friedhof der nahen Stadt Gerena von Francos Soldaten erschossen.


Teil zwei der Geschichte der ermordeten Frauen beginnt im Jahr 2010. Die Bürger der Gemeinde wünschen sich eine Gedenkstätte für die ermordeten Frauen von Guillena. Mühsam ist die Suche, wo die Frauen nach ihrer Ermordung verscharrt wurden. Mit Hilfe der Universitäten von Sevilla und Granada werden forensische Untersuchungen durchgeführt. Auf dem kommunalen Friedhof von Guillena finden die sterblichen Überreste ihre letzte Ruhestätte.


Im Dezember 2012 wird das Mahnmal für die 17 Rosen der Öffentlichkeit übergeben, es steht vor der Trauerhalle des Friedhofs. Unter der Trikolore der spanischen Republik – was einmalig ist – sind unter der Inschrift »Verdad – Justicia – Reparacion« (Wahrheit, Gerechtigkeit, Wiedergutmachung) die Namen der 17 Ermordeten aufgeführt. Am Ende heißt es: »Que no se olvide la vida – la memoria de mi gente« (in etwa: Damit das Leben nicht vergessen wird – zur Erinnerung an die Unsrigen). Seit 2013 wird jedes Jahr am 8. März, dem Internationalen Frauentag, an die 17 Rosen von Guillena mit einer kleinen Feier erinnert.


Das Mahnmal ist einmalig für Spa-nien. Auch 38 Jahre nach Ende der Franco-Diktatur liegen immer noch Hunderttausende ermordeter Spanier in Massengräbern. Die Zentralregierung in Madrid weigert sich, die Kosten für Suche, Exhumierung und würdevolle Beerdigung der Franco-Opfer zu übernehmen.

Karl-H. Walloch


Neue Gedenkstätte in Słońsk
Im polnischen Słońsk (früher Sonnenburg, wenige Kilometer östlich von Küstrin) ist Ende Januar, 70 Jahre nach dem Massaker, mit dem sich die SS kurz vor dem Einmarsch der Roten Armee verabschiedete, das neugestaltete »Museum des Martyriums« eröffnet worden. Innerhalb weniger Nachtstunden hatten die Mordschützen damals 819 Häftlinge verschiedener Nationalitäten getötet, darunter 91 Luxemburger. Unter den Teilnehmern der Gedenkfeier waren daher der luxemburgische Großherzog und der Ministerpräsident seines Landes. Der deutsche Bundespräsident fehlte, auch die Bundesregierung war nicht vertreten.


Das Museum ersetzt eine von dem verstorbenen polnischen Historiker und Juristen Przmysław Mnichowki initiierte Gedenkstätte, die mit einfachsten Mitteln gestaltet und in den vergangenen Jahren baufällig geworden war.


Zu den ersten Häftlingen im KZ Sonnenburg gehörten 1933 Carl von Ossietzky, Erich Mühsam, Hans Litten und Ernst Schneller, die dort grausam gequält wurden. Weil das KZ dem Berliner Polizeipräsidium unterstand, versuchte ich seit Jahren, Berliner Politiker für die Finanzierung einer würdigen Gedenkstätte in Słońsk zu gewinnen – ohne Erfolg.


Der Vorsitzende der Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes/Bund der Antifaschisten in Berlin, Hans Coppi, nahm sich der Sache an. Ein von ihm gemeinsam mit dem Słońsker Bürgermeister Krzyskow entwickeltes Konzept fand Zustimmung und Förderung bei der Europäischen Union. So entstand dann endlich das kleine Museum, das mit wissenschaftlicher Genauigkeit, anschaulich und gemeinverständlich in die Geschichte der Haftanstalt einführt. Daß den Vorplatz jetzt ein großes Kreuz beherrscht, entspricht wohl mehr den Verhältnissen im heutigen Polen als dem Geist der in Słońsk gequälten Antifaschisten.


Pünktlich zur Ausstellungseröffnung erschien im Metropol-Verlag Berlin der Sammelband »Das Konzentrationslager und Zuchthaus Sonnenburg«, herausgegeben von Hans Coppi und Kamil Majchrzak. Ihm ist auch zu entnehmen, daß keiner der Sonnenburger Täter verurteilt wurde.

Eckart Spoo

*

Der Sammelband »Das Konzentrationslager und Zuchthaus Sonnenburg« ist eine bemerkenswerte Publikation, handelt es sich doch um die erste zusammenfassende Darstellung zu dem eher marginalisierten Ort des Grauens. Fundierte und verdienstvolle Arbeit der Autoren von einundzwanzig Beiträgen rückt das Geschehen im ehemaligen Zuchthaus Sonnenburg in das Bewußtsein der Öffentlichkeit.


Einem instruktiven Vorwort von Hans Coppi folgen aufschlußreiche sachliche und faktisch unterlegte Beiträge zur Geschichte des preußischen Zuchthauses, des Konzentrationslagers und des nazistischen Zuchthauses. Berührende Einzelschicksale von Häftlingen beeindrucken emotional. Im letzten Kapitel stellt Kamil Majchrzak »Die juristische (Nicht-) Aufarbeitung der Verbrechen im KZ und Zuchthaus Sonnenburg« dar. Er geht dabei auf ein 1961 eingeleitetes Disziplinarverfahren gegen den ehemaligen Zuchthausdirektor von Sonnenburg ein, der zu dieser Zeit Leiter der Strafanstalt Aachen war. Das Verfahren wurde 1962 folgenlos eingestellt. Ebenso wird auf den skandalösen Kieler Prozeß von 1971(!) eingegangen, in dessen Ergebnis die SS-Schergen Richter und Nickel vom Verdacht der Beihilfe zum Mord freigesprochen wurden.


Das Buch ist breiter Leserschaft zu empfehlen, weil es mahnt und einen wichtigen Beitrag zu europäischer Gedenkkultur leistet.


In das solide gestaltete Buch hätte das Gedicht von Bertolt Brecht gehört, mit dem er 1933 auf die Verbrechen in Sonnenburg aufmerksam machte.


Gerhard Hoffmann

Hans Coppi und Kamil Majchrzak (Hg.): »Das Konzentrationslager und Zuchthaus Sonnenburg«, Metropol Verlag, 240 Seiten, 19,00 €


Es war einmal ein Koffer
Das Erstaunlichste an diesem Buch ist für mich, daß der in Zürich angesiedelte Verlag Dörlemann mit ihm seine neue »Edition Kattegat« eröffnet, zu deren Vorstellung er im Januar dieses Jahres an die Elbchaussee in das dem titelgebenden Meeresgebiet deutlich näher liegende Hamburg eingeladen hatte.


Erstaunlich deshalb, weil die neue Reihe laut Ankündigung des Herausgebers Nikolaus Hansen voller Geschichten vom Meer sein soll, obwohl dieses im Land des Matterhorns eher ein Sehnsuchtsort ist. Erstaunlich aber vor allem, weil das Thema des ersten Bandes kein allgemeines über die Seefahrt oder speziell schweizerisches ist, sondern ein mit deutscher Schuld beladenes.


Es geht in diesem Roman um den Schriftsteller Leonard Weinheber aus Berlin, einen Deutschen jüdischen Glaubens, der sich 1939 gezwungen sieht, sein Vaterland zu verlassen. An Bord der »Aurora« will er nach Palästina emigrieren. Doch am Ziel kommt nur sein Koffer an. Das Meer hütet fortan ein Geheimnis. Dem will nun ein Filmemacher auf die Spur kommen, nachdem er den Koffer mit den Initialen L. W. und in einer Seitentasche die angegraute Visitenkarte des vormaligen Besitzers bei einem Trödler im Berlin der Gegenwart entdeckt hat.


Von dieser Spurensuche erzählt der Journalist, Drehbuchautor und Schriftsteller Michel Bergmann, auf der Flucht seiner jüdischen Eltern 1945 in Basel geboren und heute in Berlin lebend. Es führt zwar kein Weg zurück, die Zeit ist unwiederbringlich verloren und mit ihm die Menschen, aber im Unterton darf die Trauer über den Verlust mitklingen.


Info für Landratten: Das Kattegat ist zwischen dem dänischen Jütland und der schwedischen Westküste gelegen. In dem Gedicht »Logik« aus dem Jahr 1912 von Joachim Ringelnatz trieb durch eben dieses Gebiet ein Suaheli-schnurrbarthaar. Seitdem wartet die Frage auf eine Antwort, was dieses Haar »nachts um drei« am Kattegat macht.


Klaus Nilius

Michel Bergmann: »Weinhebers Koffer«, Dörlemann, 160 Seiten, 16,90 €


Auf Dienstreise
Bücher gibt es wie Sand am Meer. Darunter tieftraurige, lebensbejahende, aufklärerische, zum Nachdenken anregende, bewegende, spannende, polemische. Das Buch von Andrej Reder weist alle diese Merkmale auf. Der Autor meint selbst, daß es »kein Roman, keine Novelle oder Erzählung, auch kein Tagebuch« sei, sondern eine »dokumentarisch belegte Skizzierung der Geschichte [seines] Vaters, in die [seine] Mutter von Anfang an direkt einbezogen war«. Das Buch trägt den nahezu harmlosen Titel »Dienstreise«, auf russisch »Kommandirowka«.


Und tatsächlich, seine Eltern, Gabo Lewin und Hertha Lewin-Reder, wurden 1935 auf Beschluß der KPD-Führung zum Schutz vor den Hitlerschergen auf »Dienstreise« in die Sowjetunion geschickt. Sie emigrierten in den aufstrebenden Vielvölkerstaat, der für Millionen und Abermillionen in aller Welt zu einem Land der Hoffnung auf Freiheit vor kapitalistischer Ausbeutung und Unterdrückung, vor faschistischer Willkür und Terror geworden war. Dort, in Moskau, wurde im November 1936 Andrej, der Buchautor, geboren.


Doch die rettende »Kommandirowka« währte nur zweieinhalb Jahre, ihr schlossen sich für den Vater unsagbar schwere 17 Jahre Verbannung und Arbeitslager an, in denen er von Frau und Sohn grausam getrennt war. So trägt denn das Buch den Untertitel: »Leben und Leiden meiner Eltern in der Sowjetunion 1935 bis 1955«. Als angeblicher Verbrecher, Spion und Volksfeind wird Gabo Lewin 1938 von der sowjetischen Geheimpolizei NKWD verhaftet und gefoltert, wird verurteilt und in Lager in Sibirien verbannt, in denen er unter entsetzlichen Bedingungen zu schwerer körperlicher Arbeit gezwungen wird. Seine Frau wird 1941 mit Andrej ins ferne Kasachstan evakuiert, wo sie ums Überleben ringen und überleben. 1948 dürfen sie nach Ostdeutschland ausreisen; dort warten sie noch weitere sieben Jahre auf die Freilassung des Ehemanns und unbekannten Vaters.


Erst 1955 kehrt dieser nach seiner Rehabilitierung in die Heimat, deren östlicher Teil längst zur DDR geworden ist, zurück, genießt Freiheit, Familienglück und arbeitet erneut für die Verwirklichung seiner kommunistischen Ideale, zuletzt als politischer Mitarbeiter in der Westabteilung des ZK der SED. Über das durch die stalinsche Repressionspolitik erlittene grausame Unrecht schweigen er und seine Frau Hertha; nicht, weil sie dazu verpflichtet wurden, wie häufig behauptet wird, sondern aus vielerlei anderen Gründen, keineswegs zuletzt, »um dem Klassengegner keine Argumente zu liefern«. Auch gegenüber dem Sohn bleiben sie in dieser Sache wortkarg. Das ist einer der Gründe dafür, daß er nach dem Ableben seiner leidgeprüften Eltern in deren Nachlaß und mehrfach in Moskau sorgfältig recherchiert. Die von ihm ausgegrabenen Briefe des Vaters und die in Moskau aufgefundenen Dokumente sind im Buch ungekürzt und eindrucksvoll wiedergegeben. Das Beeindruckendste aber ist, daß die Eltern trotz allen Leides überzeugte Kommunisten, Streiter für eine bessere Welt geblieben sind. Das gilt auch für Sohn Andrej. Eineinhalb Jahre nach der Rückkehr des Vaters nahm er in Moskau ein Studium am Staatlichen Institut für internationale Beziehungen auf und arbeitete danach erfolgreich im diplomatischen Dienst der DDR.


Häufig schreibt ein Rezensent abschließend: ein lesenswertes Buch. Ich verzichte darauf, weil die Formel nur annähernd den Wert dieser 256 Seiten wiedergibt; gestehe jedoch, daß ich es mit Mitgefühl, Zorn und Trauer, aber auch mit tiefer Hochachtung vor der Kraft ungebeugter Sozialisten und Kommunisten gelesen habe.

R. H.

Andrej Reder: »Dienstreise«, Verlag Neues Leben, 256 Seiten, 18,99 €