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Titel616

Reminiszenz an Alex Wedding  (Manfred Orlick)

Jede Generation wächst mit ihren eigenen Kinderbüchern auf. Meine Enkel begeisterten sich vor Jahren für »Harry Potter« oder die »Wilden Kerle«. Ich dagegen schmökerte vor Jahrzehnten in den »Lederstrumpf-Erzählungen« von James Fenimore Cooper, las »Die rote Zora und ihre Bande« von Kurt Held oder »Ede und Unku« von Alex Wedding. So ändern sich die Zeiten und die Geschmäcker.


Alex Wedding war das Pseudonym der Kinderbuchautorin Grete Weiskopf, deren Todestag sich am 15. März zum fünfzigsten Mal jährt. Als Margarete Bernheim wurde sie am 11. Mai 1905 als Tochter eines kaufmännischen Angestellten in Salzburg in eine kleinbürgerliche jüdische Familie hineingeboren. In der Mozartstadt besuchte sie die Schule und musste als Kind schon Bekanntschaft mit Antisemitismus und sozialer Ungerechtigkeit machen.


Mit 17 Jahren verließ Margarete das Elternhaus in Richtung Innsbruck, wo sie in einem Warenhaus arbeitete und bei einer politisch aktiven Eisenbahnerfamilie Unterschlupf fand. Hier entstanden die ersten literarischen Schreibversuche, ohne sie aber zu veröffentlichen. 1925 folgte Margarete Bernheim ihrer Schwester Gertrud nach Berlin. Hier verdiente sie ihren Lebensunterhalt zunächst als Buchhändlerin, später als Sekretärin in der sowjetischen Handelsvertretung. Bernheim trat der KPD bei und veröffentlichte erste Texte als Journalistin. 1928 heiratete sie den aus Prag stammenden Schriftsteller Franz Carl Weiskopf, der Feuilletonredakteur bei Berlin am Morgen war. Grete Weiskopf wurde nun Mitglied des Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller und des Bertolt-Brecht-Clubs.


Im Berliner Malik-Verlag erschien 1931 ihr erstes Kinderbuch »Ede und Unku« unter dem Pseudonym Alex Wedding – eine Zusammensetzung von »Alexanderplatz« und dem Arbeiterviertel »Roter Wedding«. Es ist die Geschichte des zwölfjährigen pfiffigen Arbeiterjungen Ede, der das Sintimädchen Unku kennenlernt und sich mit dem Mädchen anfreundet. Die beiden gehen durch dick und dünn. In dem Buch verarbeitete Wedding die authentischen Jugenderlebnisse ihrer Freundin Erna Lauenburger, die später, 1943, im Konzentrationslager Auschwitz starb. 1933 gehörte das Buch zu den Werken, die im Zuge der Bücherverbrennung auf dem Index standen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde es 1954 erstmals wieder herausgegeben und gehörte bald zur Pflichtlektüre in den Schulen der DDR. 1980 verfilmte Helmut Dziuba den Stoff unter dem Titel »Als Unku Edes Freundin war« für die DEFA.


1932 unternahm das Ehepaar Weiskopf eine ausgedehnte Reise durch die Sowjetunion. Ein geplantes Kinderbuch darüber kam jedoch nicht zustande. Ein Jahr später verließen die Weiskopfs Deutschland und emigrierten zunächst nach Prag, wo Alex Wedding Mitarbeiterin bei der Arbeiter-Illustrierte-Zeitung (AIZ) wurde. 1936 erschien im Londoner Malik-Verlag mit »Das Eismeer ruft« ihr zweites Kinderbuch, in dem sie wieder eine wahre Begebenheit verarbeitete: den Untergang eines sowjetischen Forschungsschiffes und die dramatische Rettung der Passagiere. Auch fünf Arbeiterkinder aus Prag brechen auf, um Hilfe zu leisten. Natürlich scheitern sie, aber die Autorin wollte damit die internationale Hilfsbereitschaft zeigen.


Als im März 1939 die deutsche Wehrmacht in Prag einmarschierte, flohen Alex Wedding und ihr Mann nach Paris und kurze Zeit später nach New York. Hier schrieben sie für mehrere Exil- und amerikanische Zeitschriften und unterstützten viele in Europa zurückgebliebene Freunde. Im amerikanischen Exil entstanden Weddings Jugendbücher »Die Fahne des Pfeiferhänsleins« und »Söldner ohne Sold«, die beide 1948 im Berliner Dietz Verlag erschienen. 1949 kehrte das Ehepaar Weiskopf schließlich nach Europa, in die Tschechoslowakei, zurück, wo Franz Carl Weiskopf in den diplomatischen Dienst eintrat. Seine Frau begleitete ihn auf seinen zahlreichen Reisen. Bei einem zweijährigen China-Aufenthalt entstanden der Jugendroman »Das eiserne Büffelchen« und die Sammlung »Die Drachenbraut« mit chinesischen Volksmärchen. 1953 verlegten die Weiskopfs ihren Wohnsitz in die DDR. Jetzt war Alex Wedding freie Schriftstellerin, und als ihr Ehemann 1955 starb, widmete sie sich nicht nur den eigenen literarischen Arbeiten, sondern betreute auch eine zehnbändige Ausgabe der Werke von F. C. Weiskopf. In den Folgejahren entstanden weitere Kinderbücher wie »Schatz der Erde und weißer Schnee« (1961), »Die Geschichte von der kleinen Schildkröte und den Goldfinken« (1963), »Hubert, das Flusspferd« (1963) und »Im Schatten des Baobab« (1965). Mit 60 Jahren verstarb Alex Wedding am 15. März 1966 und wurde auf dem Zentralfriedhof Berlin-Friedrichsfelde neben ihrem Mann beerdigt.


Alex Wedding gilt heute als die wichtigste Wegbereiterin einer deutschsprachigen sozialistischen Kinder- und Jugendliteratur. Ihre Kinderbücher zeichnen sich durch Gegenwartsbezogenheit, durch eine lebendige Darstellung der Figuren und deren charakterliche Entwicklung aus. Sie schuf keine Heldentypen, aber Kinder waren für sie stets gleichberechtigte Partner und Leser. Da ihre literaturpädagogischen Positionen der sozialistischen Idee dienten, gerieten ihre Bücher nach der Wende immer mehr in Vergessenheit. Dabei wären sie auch heute noch Lektürebeispiele zur kindlichen Selbstverwirklichung. Im Bewusstsein der älteren Leserschaft ist ihr Erstling »Ede und Unku«. Es würde jedoch Alex Wedding nicht gerecht werden, sie auf dieses Buch zu reduzieren, denn ihr Grundsatz »Wir wollen Bücher schreiben, die gute und edle Gefühle im Leser wecken« findet sich in all ihren Werken.


Seit 1968 wird alle zwei bis drei Jahre von der Berliner Akademie der Künste der Alex-Wedding-Preis für Kinder- und Jugendbücher verliehen. Allerdings letztmalig 2008 an die Schriftstellerin Karla Schneider. Nach dieser langen Pause ist nun geplant, den Alex-Wedding-Preis und den F.C.-Weiskopf-Preis zum »Weiskopf-Wedding-Preis« zusammenzulegen, um damit im Sinne der Stifterin »sprachkritische und sprachreflektierende Werke« zu würdigen.