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Titel619

Bemerkungen

Briefe aus dem Gefängnis

Das schmale Bändchen, gebunden in blutrotes, feines Leinen, hat den golden ausgelegten Titel ROSA LUXEMBURG BRIEFE, dazu eine subtile, die Fantasie anregende Grafik, ebenfalls golden ausgelegt. Der Verlag der Jugendinternationale, Berlin, verantwortete diese Ausgabe mit einer Auflage von 41 bis 50 Tausend 1927. In jenen Jahren kam das Buch in Familienbesitz. Es gab Veranlassung, es zu behüten. Leicht hätte es bei Hausdurchsuchungen unter SA-Stiefel geraten können. An ein Wunder grenzte es, dass das Buch ausgeliehen war, als am 3. Februar 1945 bei Bombenangriffen auf Berlin unsere Wohnung restlos vernichtet wurde. Das Buch hatte überlebt und kam an den Besitzer zurück. Als ich lesen gelernt hatte, durfte ich in den Briefen lesen. Behutsam und geduldig erklärte der Vater die Pein, eingesperrt zu sein. Er hatte die Erfahrung machen müssen, etwas später als Karl Liebknecht, ebenfalls im Zuchthaus Luckau. Immer wieder las ich als Jugendlicher die poetischen Briefe mit ihrer Zuversicht, ihrem Sehnen nach Freiheit und Natur, mit überzeugender menschlicher Nähe und grenzenloser Anteilnahme. Jahrzehnte dauerte es, bis mich jetzt wieder dieses liebevolle »Meine kleine Sonja« anstrahlte. Eine Neuausgabe des Karl Dietz Verlages Berlin, die 19. ergänzte Auflage aus 2019, machte es möglich. Sorgfältig gebunden, wohltuend sauber gesetzt ist das Buch. Ich tauchte wieder ein in die Lebenswelt der geschundenen, geknechteten Frau, hundert Jahre nach dem feigen Mord an ihr. Wieder las ich fast atemlos von der Misshandlung der Breslauer Büffel und welche Tränen sie darum weinte. Ein feines, immer wieder empfehlenswertes Buch, dessen Einbandgestaltung mir jedoch verschlossen bleibt.

Clara Tempel ist eine der Aktivistinnen, die im September 2016 die Start- und Landebahn des Fliegerhorstes Büchel in der Eifel besetzten. Jetzt wird sie vom 21. bis 28. März in die JVA Hildesheim gehen, um ihre Aktion zivilen Ungehorsams noch einmal zu bekräftigen (s. auch Seite 219). Wäre es ein Solidaritätsbeweis mit erheblicher Symbolkraft, schickte ihr der Dietz Verlag ein Exemplar der neuen Ausgabe von Rosa Luxemburg: »Briefe aus dem Gefängnis«?

Gerhard Hoffmann

 

Rosa Luxemburg: »Briefe aus dem Gefängnis«, Karl Dietz Verlag, 131 Seiten; 12 €

 

 

Goldstück Mariola

Robin Szuttor hat gut recherchiert. Mit penibler Genauigkeit erzählt er auf einer ganzen Seite der Stuttgarter Zeitung vom 13. März die Geschichte der Polin Mariola Sadkowska, die Bernd Rall aus Ölbronn pflegt. »Er nennt sie ›Mariola‹, sie ihn ›Herr Rall‹.« Eine eigene Meinung lässt Szuttor nicht erkennen. Stattdessen zitiert er: »›Meine Cousine meint, dass ich mit Mariola ein Goldstück habe‹, sagt Bernd Rall.« Andere haben eine elektrische Eisenbahn. Er hat ein Goldstück.

 

Und wo bleibt die Geschichte von einem Bernd Rall aus Ölbronn (oder aus Kiel oder aus Frankfurt am Main), der eine Mariola Sadkowska in Wasilków, »unweit der Grenze zu Weißrussland«, pflegt, den sie »Bernd« und der sie »Frau Sadkowska« nennt? So lange es solche Geschichten nicht gibt, so lange das nicht auffällt und der Gedanke absurd erschiene, dass eine Deutsche oder gar ein Deutscher sein Leben als Goldstück verbringt, das eine Polin oder einen Polen, eine Bulgarin oder einen Bulgaren, »so einen rumänischen Zigeuner« (O-Ton Bernd Rall in Robin Szuttors Reportage) pflegt, muss in aller Deutlichkeit gesagt werden: Deutsche verhalten sich immer noch oder wieder wie Sklavenhalter. Für sie sind die »Mariolas«, was die »Mammys« für die Plantagenbesitzer in den amerikanischen Südstaaten waren (siehe »Vom Winde verweht«), was der »Boy« für die Kolonialherren (und -frauen) war. Zwischen den Sadkowskas und den Ralls herrscht kein reziprokes Verhältnis. Das juckt niemanden, weil genau dies, die Bedingung demokratischer, also herrschaftsfreier und unhierarchischer Wechselbeziehungen, in denen es keinen Unterschied macht, ob der Besitzer eines Goldstücks dieses einen Esel oder das Goldstück seinen Besitzer einen Esel nennt, zur Normalität in unserer Gesellschaft gehört: in der Schule, am Arbeitsplatz, im Militär sowieso. Warum sollte, was daheim zulässig ist, nicht zwischen den Völkern gelten? Eine Polin ist nun einmal weniger wert als ein Deutscher, der ihre Pflege benötigt. Und am Sonntag verkünden die kirchlichen und weltlichen Prediger die Vorzüge der Völkergemeinschaft. Nicht wahr, Mariola?

Thomas Rothschild

 

 

Dracula: Vor- und andere Urteile

Ist Ihnen schon mal aufgefallen, wie streng unsere veröffentlichte Meinung mit nahen und fernen Nachbarn verfährt? Über Russland wollen wir gleich schweigen – aber auch die EU-Nachbarn werden eingeteilt: Vor allem unser südlicher Hinterhof – der beginnt in der Slowakei – ist bestechlich, korrumpiert, hat eine grauenvolle (kommunistische) Geschichte hinter sich und eine Zukunft vor sich, die nur dank deutscher Finanzen garantiert sein könnte.

Rumänien ist ein Paradebeispiel für germanische Unkenntnis – die sich bereits im biederen Krimi zeigt. Da werden in Jutta Mehlers »Mord mit Nusskrokant«, einer sich zäh hinziehenden Geschichte mit älteren Damen, gleich zu Beginn alle üblichen Klischees bedient. Rumänien war unter Ceauşescu ein schlimmeres Gefängnis als jede afrikanische Diktatur. Die Schullektüre braver westdeutscher Mädels – Orwells 1984 – sei ein Nichts gewesen gegen die Verfolgung der dort seit Jahrhunderten ansässigen Deutschen. Erst die demokratischen Pflänzchen ab 1990 erlauben wieder deutsche Schulen … Dass Ceauşescu in den 1960ern gehudelt und gelobt wurde vom guten Westen, weiß man nicht mehr. Auch dass man in Teilen Rumäniens während der kommunistischen Nacht vom Kindergarten bis zur Universität alle Bildung in deutscher Muttersprache absolvieren konnte – darf eigentlich nicht gewesen sein.

Dabei war gerade die rumäniendeutsche Literatur von einer so erstaunlichen Blüte ab den 1970ern, dass die bundesdeutsche Literatur bis heute davon zehren kann. Ein Beispiel, wie widersprüchlich in diesem Balkan-Kommunismus die Kunst lebte und auflebte, hat Horst Samson (*1954) mit seinem Band »Heimat als Versuchung – Das nackte Leben« geliefert. Samson, geboren in der Bărăgan-Steppe wegen Deportation der Eltern, nach Studium Redakteur der (deutschsprachigen) Neuen Banater Zeitung und der Neuen Literatur, war unter anderem Sekretär des »Adam-Müller-Guttenbrunn-Kreises«, erhielt auch Literaturpreise in Rumänien. Seine Ausreise 1987 nach Deutschland war erzwungen; seine bereits in Rumänien geschriebenen Texte sind gültig bis heute. Nichts wird beschönigt von Securitate-Gräueln bis Zensur – aber das rumäniendeutsche Kulturleben bestand eben nicht nur aus jenen Klischees, die für das deutsche Volk im Krimi, in der Tageszeitung und im allgemeinen Bewusstsein reserviert sind: Keine Kultur da unten, nur Bestechung, Korruption und natürlich traditionelle Blutsaugerei.     

Matthias Biskupek

 

Jutta Mehler: »Mord mit Nusskrokant«, Emons Verlag, 272 Seiten, 11,90 €; Horst Samson: »Heimat als Versuchung – Das nackte Leben: literarisches Lesebuch – Gedichte, Prosa, Kritiken, Interviews«, Pop-Verlag, 486 Seiten, 24,50 €

 

 

Walter Kaufmanns Lektüre

Gegen Ende von Regina Scheers sehr anderem, sehr bemerkenswertem Berlin-Roman, einem durchkomponierten, in sorgfältigem Deutsch geschriebenen, flüssig zu lesenden Buch, findet sich eine Analogie, die einen nicht loslässt: Eine Horde junger Kerle steinigt in einem Hinterhof eine schwangere Katze, bricht ihr ein Bein, dass sie nicht entkommen kann, die Katze kauert im Staub, und im Staub gebärt sie ein Junges. Einer der Kerle packt die Katze am Schwanz und schwingt sie im Kreis, und wie er sie da schwingt, gebärt sie weitere Kätzchen. Der Kerl wirft die Katze zu ihren Kätzchen, sie kriecht unter den Füßen ihrer Peiniger weg und bringt ihre Schützlinge in Sicherheit. »Wie zäh sie sind, diese Zigeuner«, johlen die Kerle, »sie haben sieben Leben!« Wer dem Roman bis hierher gefolgt ist, braucht keine weitere Schilderung des Vorfalls – längst ist sein Mitgefühl für die Geschundenen dieser Welt geweckt, für Sinti und Roma, für Juden unter Hitler, lesend hat er vom Schicksal zweier junger Juden erfahren, die einst unterm Dach dieses Hauses im Berliner Wedding der Verschleppung durch die Nazis zu entrinnen suchten; und auch vom Schicksal der Roma weiß er, die hier und heute just in diesem Weddinger Haus Zuflucht suchen und zeitweilig finden. Verdichtung! Regina Scheer beherrscht die Kunst der Verdichtung: ein altes Haus im Wedding, versprengte Roma im Weddinger Haus und, hierher zurückgekehrt, ein alternder Jude aus Israel – zurückgekehrt, wo er sich einst bei einer deutschen Frau versteckt hatte … Nur wenige Personen sind es, kaum mehr als zwölf, um die es im Wesentlichen in dem vierhundert Seiten starken Roman geht – und doch: Eine Welt tut sich auf, eine Welt der Roma, eine Welt der Juden und eine deutsche, sehr genau geschilderte Berliner Welt. Regina Scheer ist ein bedeutender, aus Vergangenem schöpfender Gegenwartsroman gelungen und – so sei zu hoffen! – ein Roman, der in eine hellere Zukunft weist.                                  

W. K.

 

Regina Scheer: »Gott wohnt im Wedding«, Roman, Penguin Verlag, 415 Seiten, 24 €

 

 

Don Juan, sehr frei nach Molière

Im Berliner RambaZamba Theater wird Klassik oft reizvoll umgeformt, verstehbar gemacht und ins Heute transportiert. Zudem weben die Spieler dieses Theaters ihre Erfahrungen als Menschen einer diskriminierten Minderheit in das Darzustellende ein. Alle Stücke, die hier aufgeführt werden, sind auf seltsame Weise gebrochen. Man kann sich wiedererkennen in dieser Gebrochenheit. Man kann lernen: Solidarität und Wut und Mitfühlen. Ein Theater der Unterdrückten, der Entrechteten, die sich Ausdruck verschaffen – lustvoll-revolutionär. Am 18. Januar hatte unter der Regie von Konrad Wolf (Mozarteum Salzburg) »Don Juan« Premiere, sehr frei nach Molière, wird betont, Wolfs Diplominszenierung. Sein Stück »Objektiviert uns!« bekam 2018 in Hamburg den Publikumspreis.

 

Worum geht es in der aktuellen Inszenierung? In einem angedachten Schlafzimmer-Kaufhaus mit neun Doppelbetten liegt Don Juan (Christian Behrend) und schläft. Der Diener (Sebastian Urbanski) beginnt zu erzählen, kommentiert: Es sei heutzutage schon verdächtig, wenn man in einem Laden nach einem Einzelbett fragt, man macht sich zu einem, der wohl niemand hat, mit dem oder der er das Bett teilt. Zum komischen Kauz, zum ewig masturbierenden Außenseiter.

Don Juan, genussvoll lasziv sich halbnackt auf dem Doppelbett lümmelnd, prahlt genau wie der molièrsche mit seinen Eroberungen, wird von einer herrlich wütenden Elvira (Franziska Kleinert) mit roten Boxhandschuhen bedroht, während der Diener ihn Moral lehren will, dass Liebe nur dann Spaß macht, wenn man bei einer geliebten Freundin bleibt. Don Juan ist ein wenig Baal nachempfunden, ausschweifend, sich auflehnend, frivol-unkonventionell, verschmitzt. Sein Kostüm (Beatrix Brandler) feminin – mit freiem Oberkörper, die Brust ein wenig hochgebunden, damit sie zur Geltung kommt, sehr geschickt gemacht. Darüber ein Negligee im Leopardenlook.

 

Das Ganze wird zu Rolling-Stones-Musik getanzt, gespielt, getobt, der Diener kommentiert, es herrsche heutzutage ein don-juanscher Zwang zur Sexualität, alle sollen wie Don Juan leben, es mit unzähligen Partnern täglich auf Doppelbetten treiben.

 

In der Angst vor Elvira stellt sich heraus, dass Don Juan vor allem eines ist, ein Ungeliebter, und eines hat, nämlich das unersättliche Bedürfnis, geliebt zu werden. Es geht ihm nicht darum zu lieben, er ist auf der Jagd nach Frauen, die ihn lieben sollen. Er wütend, aufstampfend wie ein kleines Kind: »Ich will, dass du mich liebst, wie es sich gehört!« Doch Liebe lässt sich nicht erzwingen. Seine schöne Freundin (Nele Winkler) hochprofessionell, mit herrlicher Stimmmodulation, ironisierend, karikierend, kontert geschickt: »Ich will alles tun, was ich kann, aber es muss von selber kommen, es muss von selber kommen!«

 

Später schmust und knuddelt sie köstlich lachend »freiwillig« mit dem Diener, der das Zärteln offenbar weitaus besser versteht als Don Juan; der will nur noch, dass man ihn bedient.

 

Auch gehört, wie man jetzt begreift, wohl Don Juan in Wahrheit gar nicht zu den Männern, die von Frauen schnell begehrt werden. Er muss herumkriegen, mit Geld winken und mit Versprechungen locken. In das Stück fließen nun verstärkt Eigenerfahrungen ein. Traurig sagt Don Juan: »So einen wie mich will keine« und: »Ich habe es mir ausgerechnet, ich könnte es mir leisten, einmal in der Woche zu einer Hure zu gehen, aber ich will das nicht.« Man erkennt, dass auch der echte Don Juan vielleicht etwas von dem hat, was der im RambaZamba offen ausspricht, nämlich das Leiden unter Einsamkeit. Das Leiden unter dem sexuellen Leistungszwang, sich als Mann seinen Wert durch Sexualkontakte beweisen zu müssen.

 

Aus Molières steinernem Gast wird im RambaZamba ein Nebenbuhler, der plötzlich donnernd und zischend die Bühne betritt, ein Zwillingsdämon, dem die Mädchen sich sogleich an den Hals hängen, dem alles zufliegt, alles gelingt. Meine Assoziation: Der Nichtbehinderte, gegen den der behinderte Mann keine Chance hat, wächst sich aus zum Drohgespenst. So wie in Molières Vorlage der strafende Gottvater seinen sündigen Sohn verflucht, so lässt der maskierte »Zwilling« Don Juan gleichsam schrumpfen und sich ängstlich wegducken. Von Mord ist die Rede, der Diener reicht seinem Herrn ein Messer. Doch er geschieht nicht, ein Lastwagen überfährt Don Juan. Der steinerne Gast geht ab, der Diener hängt sich nun bei ihm ein.

 

Sexualität im Spannungsfeld von Behinderung und Nichtbehinderung, von Zwang und Freiheit. Die Inszenierung kritisiert laut Programmheft, die »Welt des sexuellen Liberalismus, in der die Freiheit des Systems umschlägt in einen Zwang, ihm zu genügen«. Es geht ums Gegensteuern gegen »eine Sexualität, die ein System sozialer Hierarchie ist« (Michel Houellebecq).

 

Besonders den Schauspielerinnen gelangen starke Auftritte: mutig, selbstbewusst. Und wie dann Franziska Kleinert als Elvira »Arschloch« schreit, wie sie es brüllt, wie sie aus sich herausgeht, das ist klasse. Hier findet sich eine nicht ab, im Gegenteil, sie ist bereit zur lautstarken Aufkündigung der ihr zugewiesenen Rolle. Ihr Spiel regt zum Nachdenken über die Männerrolle an (»Bin in meinem Körper gefangen«) und zeigt heutige, starke Frauen, die die Schwäche im Macho sichtbar werden lassen. Und einen Macho, der seine innere Angst offen eingesteht.

 

Merkwürdig: Gerade weil die Spieler ihre eigenen Erfahrungen als Benachteiligte so unmittelbar und selbstverständlich einbringen, empfindet man sie nicht mehr als defizitär. Sie werden so, wie es Augusto Boal im »Theater der Unterdrückten« empfiehlt, zu Lehrern.

 

Anja Röhl

 

 

Unsere Zustände

Wenn wir das, was wir denken, auch noch sagten oder gar ausführten, wäre die Welt ein einziger Widerruf.

 

*

 

Warum feiern wir nicht ständig Fasching, wo wir doch das ganze Jahr über zum Narren gehalten werden?

 

 

*

Das Leben besteht aus einer unaufhörlichen Folge von Abschieden. Gut, dass wir die meisten davon nicht bemerken.             

 

Wolfgang Eckert

 

 

Bilanz einer Kanzlerschaft

Angela Merkel als Bundeskanzlerin ist ein erstaunliches Phänomen – so empfinden es viele im In- und Ausland. Doch Merkel polarisiert in zunehmendem Maße – sie wird »geliebt«, wie etwa von dem Schriftsteller Martin Walser, wird international hoch geachtet, aber auch heftig kritisiert und von manchen abgrundtief gehasst, wie von Pegida- und AfD-Anhängern. Ihr bedächtiger, vermittelnder, unaufdringlicher Regierungsstil, den sie als Kanzlerin pflegt, lullt das Land immer wieder ein, verdeckt die enormen Probleme, die sich längst aufgetürmt haben, was viele Menschen zu Recht erzürnt. Merkel und die Große Koalition werden ein Land im Reformstau hinterlassen.

 

Stephan Hebel, der Autor des vorliegenden Buches, ist kein Fan der CDU-Politikerin. Er geht nüchtern an sein Thema heran und liefert eine kritische und lesenswerte Bilanz ihrer Kanzlerschaft. Als langjähriger Leitartikler, Kommentator und politischer Autor, unter anderem der Frankfurter Rundschau und des Deutschlandradios, hat er sich häufig mit der Politik Merkels auseinandergesetzt und herumschlagen müssen. Und er hat ihr bereits zwei Bücher gewidmet – zuletzt: »Mutter Blamage und die Brandstifter. Das Versagen der Angela Merkel – warum Deutschland eine echte Alternative braucht« (2017).

 

Inzwischen hat Merkel ihren Rückzug aus der Politik angekündigt. Jetzt legt Merkel-Experte Stephan Hebel noch einmal bilanzierend nach. Und er kommt zu der Einsicht, dass zwar nicht alles schlecht war an der Politik der CDU-Kanzlerin und dass sie auch nicht für alle Übel der Nation verantwortlich gemacht werden kann – doch, so Hebel, »sie war und ist eine Politikerin, die es in 13 Jahren Kanzlerschaft auf entscheidenden Politikfeldern versäumt hat, den Zusammenhalt der Gesellschaft entschieden zu stärken und die Lage der Menschen im Land zu verbessern«. Angela Merkel hinterlasse jedenfalls »viele – zu viele – Hypotheken«.

 

Es ist das Verdienst dieses Buches, solche Hypotheken in den unterschiedlichen Politikfeldern knapp und konkret, mit Zahlen und Fakten untermauert, aufzudecken sowie den Erfolgen, Defiziten und Desastern Merkelscher Politik nachzuspüren. Vor allem angesichts ihrer neoliberalen Agenda und der daraus resultierenden »Sozialpolitik«, kommt Hebel zu einer ernüchternden Bilanz: »Trotz anhaltenden Wirtschaftsbooms hat die Spaltung der Gesellschaft zugenommen«, die soziale Ungerechtigkeit ist gewachsen, Merkels Neoliberalismus habe tiefe Spuren im Leben der Bürgerinnen und Bürger hinterlassen. Ihre Politik sei mitverantwortlich dafür, dass sich die Unzufriedenheit, die Angst vieler Menschen vor sozialem Abstieg und kulturellen Brüchen in einer globalisierten und digitalisierten Welt und einem grenzenlosen Kapitalismus wesentlich verstärkt haben – Reaktionen, die von rechtspopulistischen und rechtsradikalen Kräften und Parteien mit Erfolg instrumentalisiert und missbraucht werden.

 

Angesichts dieser verhängnisvollen Entwicklung setzt Stephan Hebel, wie viele mit ihm, auf einen gehörigen Politikwechsel: auf angemessene, aber auch radikale politische Konsequenzen, die aus den Veränderungen und Verwerfungen in dieser Welt und dieser Republik endlich gezogen werden müssen. Ein alternativloses »Weiter so« kann und darf es nach der Ära Merkel jedenfalls nicht geben.                                   

Rolf Gössner

 

Stephan Hebel: »Merkel. Bilanz und Erbe einer Kanzlerschaft«, Westend Verlag, 128 Seiten, 14 €

 

 

 

Zur Lage der Nation

In großen Reden

macht man oft mit Eleganz

die öffentliche Meinung

zur öffentlichen Ignoranz.

Günter Krone

 

 

Auch das war Lea Grundig

Eigentlich kennen wir sie anders – aus dem, was sie in der DDR an Werken schuf. Doch nun haben wir die Chance, eine bisher kaum bekannte Seite ihres Schaffens zu entdecken.

 

Jüdische Kinder aus verschiedenen Ländern kamen während des Zweiten Weltkrieges nach Palästina, das unter britischer Verwaltung stand. Der Naziterror hatte sie zur Flucht gezwungen. Nun galt es für sie, die hebräische Sprache zu erlernen. Dafür wurden Bücher gebraucht. Lea Grundig, 1939 aus Deutschland entkommen, kam nach langer Flucht in das britische Internierungslager Atlit und später zu ihrer Schwester nach Haifa. Für die Kinder einer Freundin malte sie dort ein buntes Bilderbuch; dabei entdeckte sie ihre lyrische Begabung. In ihrem Bändchen »Lea Grundig. Kunst für die Menschen« in der Reihe »Jüdische Miniaturen« zitiert Maria Heiner Lea Grundig: »Das erste Buch waren gute Gedichte für Kinder, es war echte Poesie, und ich machte mit großer Sorgfalt dazu Zeichnungen. Niemals hätte ich gedacht, dass ich zu dieser Arbeit befähigt wäre, aber es erwies sich, dass ich es konnte und selbst Freude daran hatte.« Mit farbigen Zeichnungen versah sie dann Leah Goldbergs Buch »Der zerstreute Mann vom Dorf Azar«. Es folgten Illustrationen zu Erzählungen aus dem Polnischen, die der Kinderarzt und Pädagoge Janusz Korczak für Kinder geschrieben hatte, mit denen er im August 1942 in Treblinka ins Gas gegangen war. Aus dem Russischen gab es Texte von Kornej Tschukowski. In dessen Erzählung »Die gestohlene Sonne« verschluckt ein Krokodil die Sonne. Den Tieren gelingt es gemeinsam, dass die Sonne wieder ausgespuckt wird. Lea Grundig hielt sich eng an den Text und brachte es bald zur Meisterschaft beim Illustrieren. Auch das Grimm’sche Märchen von Hänsel und Gretel versah sie mit eindrucksvollen farbigen Zeichnungen. Mit großer Phantasie gestaltete sie ihre Reihe »Sprechende Bäume«. Das Apfelbäumchen ist ein fröhliches tanzendes Mädchen; »Vier Palmen« erscheinen geisterhaft im Mondlicht. Bis 1948 schuf Lea Grundig etwa 350 Buch-illustrationen. Die originalen Druckvorlagen sind verschollen. Maria Heiner gelang es, in israelischen Antiquariaten zwanzig Kinder- und Jugendbücher mit Illustrationen von Lea Grundig zu erwerben. Ihr ist es zu verdanken, dass wir diese Werke heute bewundern können. Schon vor der Gründung des Staates Israel waren diese Kinderbücher von großem Wert; sie gehören zu den Wegbereitern einer jüdisch-israelischen Kultur. Damals herrschte ein großer Bedarf an diesen Werken, die auch zu Schulbüchern wurden. Diese Arbeit Lea Grundigs wurde bisher kaum gewürdigt.

 

Lea Grundig, 1906 als Leah Langer in Dresden geboren, war ein Mädchen mit starkem Willen. Sie besuchte die Kunstgewerbeakademie ihrer Heimatstadt und wurde später in der Akademie der Bildenden Künste Dresden Meisterschülerin bei Otto Gussmann. Schon damals war sie vor allem bekannt durch klare graphische Schwarzweißarbeiten, die aktuell Terror, Flucht, Verfolgung und Widerstand der Nazizeit darstellten. Sie erhielt Berufsverbot und floh nach Palästina. 1949 kehrte sie in die gerade gegründete DDR zurück zu ihrem Mann Hans Grundig und wurde Professorin an der Dresdner Kunsthochschule. Im Nach»wende«deutschland diffamiert man sie heute noch als »DDR-Chefideologin«.

 

Die Ärztin Maria Heiner, seit 1963 mit Lea Grundig befreundet, bewahrt ihre Werke und sorgt dafür, dass die Künstlerin nicht vergessen wird. In der Ladengalerie der jungen Welt eröffnete sie am 28. Februar eine Ausstellung mit Reproduktionen der Arbeiten Lea Grundigs unter dem Titel »Karneval der Tiere«. Farbenprächtige, lustige Illustrationen und ein hebräisches Alphabet »Buchstaben erzählen« sind zu bestaunen. Doch es gibt auch Illustrationen zur Geschichte geflüchteter Kinder zu sehen, die sehr betroffen machen, unter anderem für Levin Kipnis Buch »Kinder im Untergrund«. Die Ausstellung zeigt zahlreiche unbekannte Werke. Lea Grundig hatte einmal gesagt: »Ein Kunstwerk, das nie ein Mensch gesehen hat, ist wie ein toter Gegenstand.« Ein Besuch bringt nicht nur Erkenntnisse, sondern auch ästhetischen Gewinn.

 

Maria Michel

 

»Der Karneval der Tiere, Kinder- und Jugendbuchillustrationen Lea Grundigs aus ihrem Exil 1942–1948«, bis 25. April in der Ladengalerie der jungen Welt, Torstraße 6, 10119 Berlin, Mo.–Do. 11–18 Uhr, Fr. 10–14 Uhr, Eintritt frei

 

 

Wiederholung

Vermutlich kosteten mich Prozentzahlen meine Fernsehkarriere. Auf die hinterlistige Frage der Prüfer – ich hatte mich zu Beginn der 1970er Jahre für ein Regie-Volontariat beim DDR-Fernsehen beworben –, wie ich die »Aktuelle Kamera« fände, meinte ich nassforsch: Nicht so toll, solange die Redakteure einer LPG, die die Eierproduktion auf 105,7 Prozent gesteigert habe, mehr Sendezeit in der Hauptnachrichtensendung einräumten als beispielsweise einer bemannten Mondlandung. Ich hätte auch einen anderen Vergleich ziehen können, doch die Amerikaner waren gerade dort oben, und auf dem Weg nach Adlershof hatte ich wiederholt die Empfehlung auf Schaufensterscheiben gesehen: Nimm ein Ei mehr!

 

Es existierte aktuell offenkundig eine gewisse Überproduktion.

 

Wie eine bis zum Ende meines Vaterlandes andauernde Neigung, in Meldungen insbesondere aus der Wirtschaft mit Prozentzahlen zu jonglieren. Diese bewegten sich stets im dreistelligen Bereich und sollten den Zuwachs bei Produktion, Modernisierung, Automatisierung, Planerfüllung und dergleichen bekunden. Die Zahlen blieben abstrakt in jeder Hinsicht, das damit signalisierte Wachstum kam irgendwie nicht an bei den Menschen. Es war wie heute mit dem Aufschwung.

 

Und merkwürdig: Auch die Prozenthascherei macht sich heute wieder überall breit. Supermarktketten werben mit Schnitzel- und Schnäppchenpreisen, bei denen man angeblich 33 oder 40 oder gar 62 Prozent spare, bestimmte Reisen kosten 21 Prozent weniger, Möbelhäuser bieten Betten mit 19 Prozent »unterm UVP«, und Automarken gehen mit XY-Nachlässen in die Rabattschlacht. Prozente, Prozente, Prozente ...

 

Das alles erinnert mich fatal an die Vergangenheit, die mal die unsere war, und auch an den Achtzehnten Brumaire, worin Marx treffend formulierte, dass sich Geschichte zwei Mal zutrage: »das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce«. Denn diese Zahlen sind Fiktion, weil uns der tatsächliche Wert der Ware (respektive ihr Tauschwert) so wenig bekannt ist wie der Mehrwert respektive Profit, den der Produzent auf dem Markt mit seinem Produkt realisiert. Oder profan formuliert: Das ist Werbesprech, der auf die Einfalt von Menschen zielt. Man versucht ihnen, also uns, auf diese Weise weiszumachen, dass wir sparten, weil die Sache doch nun um soundsoviel Prozent preiswerter sei als vordem.

 

Erstaunlich, wie das funktioniert. Ich vermute mal, weil die kollektive Verblödung inzwischen auf 128,7 Prozent gestiegen ist. Oder klassisch formuliert: »Zwei Dinge sind unendlich, das Universum und die menschliche Dummheit. Aber beim Universum bin ich mir noch nicht ganz sicher.« Diese ernüchternde Feststellung wird Albert Einstein zugeschrieben.

 

Doch so hundertprozentig sicher ist man sich nicht, dass er dies gesagt haben soll.

 

Frank Schumann