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Titel620

Märchenstadt. Alptraumstadt  (Bettina Müller)

Ende Februar 2020 an einem sonnigen Tag. Unter den nicht gerade sehr wachsamen Augen der Brüder Grimm, die seit 1896 in Denkmalform vor dem Rathaus in kontemplativer Pose über ein neues Märchen sinnieren und daher abgelenkt sind, findet jeden Mittwoch und Samstag der beliebte Wochenmarkt statt, der zu den schönsten und größten in Hessen zählt. Rege Betriebsamkeit, aber keinerlei Hektik herrscht auf dem großen Marktplatz. Traditionelle hessische Spezialitäten aus dem Umland werden angeboten, gelegentlich eine Weinprobe, frisches Brot und Käse zum Probieren und vieles mehr, hier lässt es sich aushalten. Das Denkmal beachtet man irgendwann nicht weiter, dabei ist es doch sagenumwoben, allerdings erst nach Einbruch der Dunkelheit. Einer Legende zufolge sollen die Brüder jede Nacht den Platz wechseln, wieso, ist nicht bekannt. Augenzeugen gibt es dafür bis dato nicht, und so sitzt Wilhelm bis heute statisch herum, während sein Bruder wohlwollend und aufrecht neben ihm grübelt. Die beiden Grimms haben absoluten Kultcharakter, und daher darf sich das Denkmal »Nationaldenkmal« nennen. Auf dem Marktplatz nimmt auch seit 1975 die »Deutsche Märchenstraße« ihren Anfang, die bis nach Bremen führt. Ein traditionsreicher Ort also im Herzen der Stadt, vielleicht sogar das Herz der Stadt selbst, die durch die Tat eines Menschen mit rassistischem Weltbild am 20. Februar auf tragische Weise in den Blickpunkt der Weltöffentlichkeit rückte.

 

Zugegeben: Ein Besucher, der mit dem Zug angereist ist, ist in der Nähe des etwas außerhalb des Stadtkerns gelegenen Bahnhofs zunächst wenig überzeugt von den Qualitäten und angeblichen Highlights der circa 25 Kilometer östlich von Frankfurt am Main gelegenen Stadt, die sich ihm hier erst einmal nicht erschließen. Das ist aber in Bahnhofsnähe vieler deutscher Städte so. Auf der Fahrt mit dem Bus in die Innenstadt erblickt man belanglose Architektur, zu viel Beton und karge Hochhäuser. Hanau gehörte zu den Städten, die im Zweiten Weltkrieg zum größten Teil zerstört wurden. Ratlosigkeit macht sich breit, fast zweifelt man an der Wahl des Ausflugsziels, doch Geduld ist angeraten.

 

Der Wochenmarkt von Hanau ist schon einmal ein sehr guter Anfang für eine vielversprechende Stadterkundung. Er geht auf das Jahr 1303 zurück, als Hanau das Stadtrecht erhielt und somit auch einen Wochenmarkt abhalten durfte. Ganz in der Nähe der Marienkirche, der evangelischen Pfarrkirche der Altstadt, stößt man dann unübersehbar auf das Deutsche Goldschmiedehaus, ein originalgetreuer und prächtiger Nachbau des barocken Originals, das einst an anderer Stelle als Rathaus fungierte. In gewisser Weise ist es ein Symbol der Toleranz der Bewohner der Stadt gegenüber zunächst fremden Menschen. Immigranten brachten gegen Ende des 16. Jahrhunderts nicht nur das Goldschmiede-Handwerk nach Hanau. Glaubensflüchtlinge, vor allem aus Frankreich, Belgien und den damals unter spanischer Herrschaft stehenden Niederlanden, strömten zahlreich herbei. In der Folge siedelten sich Wallonen, Flamen, Waldenser und Hugenotten an und brachten andere kulturelle Einflüsse mit, die der Stadt guttaten, weil die Andersgläubigen mit ihrem Fleiß nicht zuletzt auch zum zunehmenden Wohlstand der Stadt beitrugen. In der Neuzeit kamen und kommen sie aus anderen Ländern, um die 40 Prozent betrug 2018 in Hanau der Anteil der Menschen mit ausländischen Wurzeln. Nicht immer sind sie jedoch willkommen, und dann ist die Toleranz der Vergangenheit schnell vergessen. Vor allem die Shisha-Bars fungieren heute für junge Menschen auch als sicherer Rückzugsort, wo sie im Gegensatz zu anderen Orten willkommen sind, wie das neue deutschland in einem Artikel nach der Wahnsinnstat berichtete.

 

Die Stadt wirkt mit ihren etwa 96.000 Einwohnern überschaubar. Berichte im Fernsehen, in denen Menschen zu den Morden befragt wurden, vermitteln den Eindruck, dass zumindest in der Innenstadt fast jeder jeden kennt und dass der Gemeinschaftssinn denjenigen, die in der Familie einen Toten zu beklagen haben, nun auch Trost spenden kann. Der türkische Vater, der seinen Sohn verloren hat, trauert nicht zu Hause, er sucht die Gemeinschaft, die ihm Halt gibt.

 

Um das Schmuckstück der Stadt kennenzulernen, muss sich der Besucher in westliche Richtung begeben. Schloss Philippsruhe in der Nähe des Stadtteils Kesselstadt liegt idyllisch am Main inmitten eines englischen Landschaftsparks, in der Nähe mündet der beschauliche Fluss Kinzig in den Main. In der einstigen Sommerresidenz, die Philipp Reinhard von Hanau 1701 errichtete, begegnet man nun auch wieder den Grimms, die in Hanau allgegenwärtig sind, weil sie dort geboren wurden: Jacob 1785, sein Bruder Wilhelm ein Jahr später. Das sind touristische Pfunde, mit denen man wuchern kann und auch soll, was mit zahlreichen Ausstellungen, Symposien und Gedenktafeln im öffentlichen Raum betrieben wird. Ausgelassen wird hier jedenfalls nichts. Seit 2006 darf sich die Stadt »Brüder-Grimm-Stadt« nennen, es gibt natürlich eine Brüder-Grimm-Schule und eine Brüder-Grimm-Straße. Die beiden Märchenonkel leben aber auch – leicht bizarr – in Sekt-, Torten- und Talerform weiter, und die Liste ließe sich noch endlos fortführen. Im Schloss werden sie schließlich endlich fast zu Menschen aus Fleisch und Blut: Um die 500 Exponate, darunter ein original Gehrock und eine Aktentasche sowie das bekannte Doppelporträt der Brüder tragen dazu bei.

 

Vor der Rückkehr in die Stadtmitte noch ein Abstecher in den Ortsteil Wilhelmsbad. Dort errichtete 1777 der Architekt Franz Ludwig Cancrin, damals noch ohne Adelstitel, eine Kur- und Badeanlage, die heute die besterhaltene ihrer Art in Deutschland ist und von einem herrlichen Park gekrönt wird, der, ganz dem damaligen Zeitgeschmack entsprechend, mit einer künstlichen Burgruine und Eremitage versehen wurde.

 

Zurück in der Innenstadt holt einen die Realität wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. Die Brüder Grimm können hier vorerst nichts mehr ausrichten: »Das war hier für mich eine Märchenstadt. Und jetzt ist es eine Albtraumstadt«, berichtete eine Hanauerin dem Kölner Stadtanzeiger. Letzteres haben weder die Menschen noch die Stadt verdient.