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Ernst Engelberg und seine Freunde  (Heinrich Fink)

Im Leben des Historikers Ernst Engelberg, der am 5. April 100 Jahre alt wird, spiegelt sich widerständige, linke Geschichte: Sein Elternhaus im Badischen war Treffpunkt von 1848ern. Lieder vom Zorn gegen menschenunwürdige Zustände und von der Hoffnung, daß die Verhältnisse veränderbar sind, wurden ihm schon an der Wiege gesungen. Sein Vater, Buchdrucker und Buchbinder, gab die Schwarzwälder Volksstimme heraus. Die Mutter erlebte er als eine »hochpolitische« Frau, die den großsprecherischen Wilhelm II. verspottete, Schillers Dramen liebte und kritisch verschiedene Zeitungen las. Voller Anerkennung erinnert sich Engelberg: »Je mehr die Weimarer Republik sich nach rechts orientierte, desto linker wurde mein Vater.« Darum wählte er von 1930 bis 33 die Kommunisten. 1934 wurde der über 70jährige verhaftet, weil er geholfen habe, Apparate zu verstecken, auf denen illegale Druckschriften hergestellt werden könnten. Im selben Jahr wurde in Berlin der junge Historiker Ernst Engelberg verhaftet, der längst begriffen hatte, daß Machthaber und Machtlose mit derselben deutschen Geschichte höchst unterschiedliche Erfahrungen machen.

Im Hause des SPD-Reichstagsabgeordneten Adolf Geck, der mit Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht befreundet war, hatte er schon als Gymnasiast deren Bücher und persönliche Briefe gelesen. Und die Witwe von Kurt Eisner, dem bayerischen Ministerpräsidenten, der 1919 von reaktionären Kräften ermordet worden war, half ihm in freundschaftlicher Zuwendung, Widersprüche wahrzunehmen und politische Zusammenhänge zu durchschauen.

Als Engelberg ab 1929 in Berlin studierte, trat er dem Kommunistischen Jugendverband bei, wo er Nathan Steinberger und Max Kahane kennenlernte, die seit dem gemeinsamen Besuch der Jüdischen Schule eine enge Freundschaft verband. Bald wurde er, durch die gemeinsame politische Überzeugung im Streit gegen Nazi-Studenten an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität, der Dritte im Bunde.

Ernst Engelberg, der gerade seine Promotion über »Die deutsche Sozialdemokratie und die Bismarcksche Sozialpolitik« hinter sich gebracht hatte, wurde wegen Hochverrats zu eineinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt. Nach seiner Entlassung emigrierte er umgehend in die Schweiz. Später gelangte er durch Vermittlung von Hans Mayer in die Türkei. Die dortige Politik war zwar keineswegs kommunistenfreundlich, aber Ata Türk hatte für seine neugegründete Universität in Ankara großes Interesse an Intellektuellen aus dem Ausland, besonders aus Deutschland. Engelberg bekam eine Stelle als Lektor für Deutsch.

Sein Freund Kahane meldete sich zum Spanischen Bürgerkrieg, um den Faschismus Francos zu bekämpfen. Nach der Ausweisung der Interbrigadisten aus Spanien konnte er unter komplizierten Umständen Frankreich erreichen und beteiligte sich nach zweimaliger Flucht aus Internierungslagern an der illegalen politischen Arbeit im besetzten Frankreich. Nathan Steinberger war mit seiner Frau Edith bereits 1932 durch die Vermittlung seines Lehrers August Wittfogel an ein Landwirtschaftsinstitut in Moskau gegangen. Nach der Machtübertragung auf Hitler blieb er als Emigrant in der Sowjetunion, wo er promovieren konnte. Er fiel dann der Säuberungspolitik Stalins zum Opfer. Wilhelm Pieck, der sich für ihn einsetzte, hatte zwar den Druck seiner Doktorarbeit durch ein lobendes Vorwort ermöglicht, konnte aber die Verurteilung von Nathan Steinberger zur ewigen Verbannung nicht verhindern. Steinberger erlebte grausame Jahre im Gulag Solymar, seine Frau Edith im Arbeitslager in Kasachstan. Drei Jahre nach Stalins Tod kehrten die Steinbergers 1956 nach Berlin zurück, um endlich nach Kräften ein neues Deutschland mit aufzubauen. Trotz Gulag war er Sozialist geblieben, Stalin war für ihn der Verräter der Leninschen Revolution. Bald erfuhr er, daß auch seine Freunde Ernst und Max in der DDR lebten: Engelberg lehrte schon seit 1948 in Leipzig und arbeitete dann in Berlin an der Akademie der Wissenschaften, und Kahane machte sich als Journalist einen Namen, zunächst vor allem als Berichterstatter beim Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozeß.

Alle drei wußten sich ihrer antifaschistischen Tradition verpflichtet. Ihre Überlebenswege während der Emigration hätten nicht unterschiedlicher gewesen sein können. Nun fanden sie sich auf der Geschichtsbaustelle DDR wieder zusammen und übernahmen hochmotiviert in Geschichtswissenschaft, Agrarökonomie und Journalismus wichtige Aufgaben, in der Überzeugung, daß nach der deutschen Katastrophe die Bevölkerung in der DDR bereit sei, mit Hilfe marxistischer Analyse eine Gesellschaft zu schaffen, die Faschismus und Kriege nie wieder zulassen werde. Antifaschismus war für sie keine staatlich verordnete Doktrin, sondern eine in lebensgefährlichen Situationen gereifte Überzeugung.

Die drei Freunde haben hochbetagt, aber wachen Geistes, die Wende erlebt. Sie waren entsetzt über den radikalen Revisionismus der Wiedervereinigung, über die »Abwicklungen« in ihren ehemaligen Arbeitsbereichen, über die Siegermentalität, die jetzt allen Sozialisten entgegenschlug. Sie hatten sich jahrzehntelang in der DDR, in ihrer Partei für eine dialektische Betrachtung der Probleme und einen offensiv analytischen Umgang mit den eskalierenden Widersprüchen eingesetzt. Nun fühlten sie sich einem fundamentalistischen Antikommunismus preisgegeben, wie sie ihn einst in der Weimarer Republik kennengelernt und in immer schrecklicherer Konsequenz schon in den ersten Jahren des Faschismus erlitten hatten. Selbstkritisches Nachdenken über einen demokratischen Sozialismus im Sinne Rosa Luxemburgs unterstützten sie von Herzen.

1993 legte Ernst Engelberg seine »Bilanz der sozialistischen Utopie« in einem Sammelband vor, in dessen Vorwort Heiner Müller über den Umgang mit der untergegangenen DDR schrieb, der historische Blick auf sie sei »von einer moralischen Sichtblende verstellt, die gebraucht wird, um Lücken in der eigenen ›moralischen Totalität‹ zu schließen … Die Denunziation der DDR hat Alibi-Funktion … Das Niveau wird wesentlich bestimmt von ost- und westdeutschen Spätheimkehrern in den Schoß des Kapitalismus.« Und Engelberg schrieb in seinem Beitrag: »Für mich ist der Sozialismus noch nicht gescheitert, der eben noch keine echte Verwirklichung fand. Vor allem ist die marxistische Analyse nicht gescheitert, denn was sich jetzt vollzieht, das bestätigt ja in geradezu klassischer Weise die marxistische Analyse der Kapitaldynamik. Wir erleben eine beinahe lehrbuchhafte Bestätigung des Klassenkampfes, und zwar im Ökonomischen und Politischen wie im Ideologischen. Darum brauche ich meine Grundüberzeugung nicht aufzugeben.«

Über die Utopie des Sozialismus haben wir mit den alten Freunden zum Beispiel bei Nathan Steinbergers sommerlichen Geburtstagsfeiern in unserem Garten engagiert gestritten. Die drei waren sich in der Analyse einig. Auch Waltraud Engelberg war stets beteiligt, die als Germanistin großen Anteil an der Arbeit ihres Mannes hat und fürsorglich seine schwindenden Kräfte zu stützen weiß.

Nach wie vor, so Engelberg, liege ihm »an einer Alternative zur zunehmenden Barbarei gegen Mensch und Natur in aller Welt«. Wahrscheinlich könne sie »nur in Form eines historischen Kompromisses zustande kommen ... Darüber muß weiterhin viel und von vielen nachgedacht werden …«

Nicht nur dem Jubilar zuliebe, sondern im eigenen Interesse sollten wir uns an solchem Nachdenken aktiv beteiligen.