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Titel0710

Aus einem Internat im Osten  (Kurt Pätzold)

Eine Frau, mittlerweile im fünften Lebensjahrzehnt stehend, hat Erinnerungen an ihre Schulzeit von sich gegeben. Lange muß sie daran gewürgt haben. Was in Fällen eines verdorbenen Magens der Griff mit dem gestreckten Finger in den Rachen bewirken kann, hat im Fall ihrer geschädigten Seele das Lesen und Hören jener Nachrichten hervorgerufen, die seit Wochen von den unappetitlichen Ereignissen in westdeutschen Lehranstalten berichteten, hauptsächlich in solchen unter sogenannter christlicher Regie. Darob kam es so plötzlich über sie, daß sie es bis zur häuslichen Toilette nicht mehr geschafft hat. Es half der Griff zum Papier. Es war das der sozialistischen Tageszeitung Neues Deutschland.

Und das kam zu Tage: Im Frühsommer 1980 fand sich Klein-Anke in einer südthüringischen Kreisstadt in einer Oberschule mit Internat ein. Dort sollte und konnte sie ihre schulische Ausbildung auf einer höheren, zu einem Spezialabitur führenden Stufe fortsetzen. Vier Jahre waren ihr und ihren Mitschülern dafür bestimmt. Ob im Eltern-, Vater- oder Mutterhaus der Weg der Tochter aus freiem Entschluß so vorgedacht worden war oder ob darauf Partei, Staatssicherheit oder Lehrer gedrängt hatten, wird nicht mitgeteilt. Hingegen, daß das Mädchen wie die Gleichaltrigen, die sich dort trafen, ahnungslos war. Offenkundig hatte sich nicht herumgesprochen, daß die Schüler dort in die Gewalt einer Bande von Lehrern fallen würden, deren Ziel es war, den Mädchen und Knaben jedes in den Jahren zuvor erworbene Selbstwertgefühl zu rauben und ihnen vor allem eines einzujagen: Angst. Die da eintraten, konnten alle Hoffnungen und ihre Kindheit fahren lassen. Sie sollten in ein »Korpsdenken«, das näher nicht beschrieben wird, eingeschworen werden. Das begann mit »einer Art Gehirnwäsche, als seien wir wilde Tiere« – eine Mitteilung, die freilich wie das Denken im Korps das Vorstellungsvermögen strapaziert. Denn von Gehirnwäschen, vorgenommen an wilden wie an zahmen Tieren, war bisher nichts zu hören.

Des ärgsten Druckgefühls erinnert sich die Gequälte so: Es wurden ihr und ihren Mitschülern dort Leistungen abgefordert, die, konnten sie nicht vorgewiesen werden, von einem Lehrer mit Händereiben und Schmatzen quittiert wurden, »mit Seitenhieben garniert«, die – wieder ein kleineres Mysterium – »auf sehr Persönliches zielten«. Das könnte, denke ich an eigene Schulzeit, ein persönlicher Mangel an Fleiß oder ein ebenso persönliches Zuviel an Faulheit gewesen sein. Doch wir erfahren es nicht.

Es gab, wird weiter erzählt, in dieser Anstalt Fächer, »die obligatorisch mit einer mündlichen Leistungskontrolle begannen«, und die waren »gefährlich«. Vergeblich auch jedes Unterfangen, die Ratschlüsse machthungriger Lehrer zu ergründen. Von einem Schüleropfer wurde erst abgelassen, wenn »sich ein nächstes potenzielles Opfer präsentierte«. Also ein Märtyrer. Nach reichlich bemessener Unterrichtszeit vormittags ging die Folter weiter. An den Nachmittagen wurden die Zöglinge »eingesperrt« und hatten zwei weitere Stunden zu büffeln. Mehr noch: Die Lehrer tratschten über die Schüler, der Internatsleiter betrat Zimmer in der Absicht, auf leicht bekleidete Mädchen zu treffen, eine Lehrerin durchsuchte heimlich die Habe der Schüler, ein dritter beobachtete deren Treiben durch ein Fernrohr. Dazu »Übergriffe und Grenzverletzungen. Auch sexueller Art.« Der Phantasie der Leser sind Tore weit geöffnet.

Angesichts dieser »Erinnerung an eine Internatszeit in der DDR«, so lautet eine teils gefettete Überschrift des Artikels, fragt sich der in den pädagogischen Zuständen des ostdeutschen Staates einigermaßen Bewanderte zunächst: Gab es da nicht eine einzige Lehrerin oder wenigstens einen Lehrer, dem sich die Geplagten hätten anvertrauen können? Hatte in der Schülerschaft niemand den Mut zum Aufbegehren? Haben wirklich alle, wie erwähnt, als äußerstes Zeichen von Ablehnung und Abscheu hinter dem Rücken der Lehrer nur »gekichert«? Und dann: Existierte in der DDR wirklich ein Lehrerkollegium, das nicht zu einem Teil eine Parteigruppe der SED bildete? Gab es eine Schule ohne gewählten Elternbeirat und Elternversammlung? Und worüber redeten denn die Schüler an den Wochenenden mit ihren Eltern und in Versammlungen der Freien Deutschen Jugend? Nur über die Probleme Chinas?

Es hat in der DDR gewiß Pädagogen gegeben, die besser nie an eine Schule gelangt wären. Die waren bei weitem in der Minderheit. Dieser Bericht riecht sehr nach dem Hause der Frau Birthler, die nun endlich auch mit der Landesregierung Berlin, dem Senat, übereingekommen ist, die Schulen der Stadt mit hinreichendem Material über die wahre Geschichte der wahren DDR zu versorgen. Die Erinnerungen an die Schulzeit Klein-Ankes könnten im Anhang Aufnahme finden.