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Eine andere Geschichte des Autos  (Rainer Butenschön)

Sie feiern. Kaum eine Autofirma, deren Marketingabteilung »das Jubiläum« nicht zu Werbezwecken nutzt. Autobauer bei Daimler erhielten sogar eine Jubiläums-Geldprämie. Schwaben und Badenser fiebern ihrem »Automobilsommer« entgegen: 125 heiße Tage lang wollen sie, so das Stuttgarter Wirtschaftsministerium, mit »Events« aller Art »die Erfindung des Automobils auf dem Gebiet des heutigen Bundeslandes Baden-Württemberg« touristisch vermarkten.

Den Höhe- und Schlußpunkt soll am 10. September am Wasserturm in Mannheim der »Benz Motorwagen Nummer 1« aus dem Jahr 1886 setzen: Der Sound seines Verbrennungsmotors orchestriert dann gemeinsam mit einem John Deere Ackerluft Traktor von 1936, einem Audi 80 Coupé von 1965 und einem Maserati von 2008 die Premiere der »autosymphonic«. Damit will sich Mannheim als »Geburtsort des Automobils« inszenieren und dessen »berühmten Erfinder« Carl Benz würdigen.

Denn, so die offizielle Lesart, als Benz am 29. Januar 1886 in Mannheim sein Patent für ein Dreirad mit Verbrennungsmotor anmeldete, habe die nunmehr 125jährige Geschichte des Automobils begonnen, damals sei das »allererste Automobil« weltweit geboren worden. Als dessen Geburtshelfer hätten sich zudem die Tüftler Gottlieb Daimler und Wilhelm Maybach in Cannstatt betätigt, die auf der »Exposition Universelle de Paris« 1889 Aufsehen mit einem »Stahlradwagen« mit 2,5 PS starkem Zweizylinder-V-Motor und einem Viergang-Zahnrad-Wechselgetriebe mit Differentialausgleich erregten.

Daß die automobile Geschichte rund 100 Jahre früher mit heute abenteuerlich anmutenden Dampfwagen beginnt, daß Franzosen, Engländer und Deutsche die Geburtsstunde des Autos jeweils anders datieren und daß das, was heute als Zukunft des Individualverkehrs gepriesen wird, das Elektromobil, eine viel längere Geschichte von Erfolgen und Niederlagen aufweist als die heute dominierende Benzinkutsche á la Benz und Daimler – das erfährt, wer Johann-Günther König liest. Auf knapp 200 Seiten hat der Bremer Sachbuch- und Ossietzky-Autor die Geschichte der »Wagen ohne Pferde« aufgeschrieben.

König nimmt den Leser mit auf eine spannende und nicht selten erstaunliche Entdeckungsreise in die Vergangenheit der Kraftfahrzeuge. Schon Jahre vor Erfindung des Verbrennungsmotors waren Pedale zur Fahrzeugbeherrschung, Differentialgetriebe und Gangschaltung serienreif im Einsatz. Es war ein Dampfwagen, in dem erstmals ein Frontantriebskonzept zum Einsatz kam. »Die Dampfwagentechnologie hätte bei laufender Fortentwicklung vor allem hinsichtlich der Minderung von Schadstoff- und Lärmemissionen sowie der effizienten Nutzung von Biokraftstoffen die Explosionsmotoren ersetzen können«, urteilt König mit guten Gründen. Und so stehe die 1928 in der Zeitschrift Scientific American gestellte Frage »Wird das Dampfautomobil zurückkehren?« immer noch auf der automobilen Tagesordnung.

Die wird freilich dank großem PR-Aufwand der Autokonzerne überstrahlt von der Frage, ob Elektromobilität die Diesel- und Benzin-Motorwagen in die ewigen Garagen drängen wird.

Bei König erfährt der Leser, daß noch um 1900 offen schien, ob dampf-, elektro- oder benzingetriebenen Wagen die automobile Zukunft gehören werde. Daß es vor allem die Behörden waren, die den Dampfwagen mit schikanierenden Auflagen in die Quere kamen. Und daß noch in der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts 50 Autohersteller in den USA mit Unterstützung des Finanzkapitals vor allem auf Elektrowagen setzten. »Sie gingen siegesgewiß davon aus«, berichtet König, »daß schon bald mehr Elektrizität für die Autos als für das Licht benötigt würde« – bis der Ölboom den elektromobilen Konzepten in die Quere kam und die Massenautomotorisierung mit dem Verbrennungsmotor in Gang gesetzt wurde. Ab diesem Zeitpunkt, so König mit Blick auf Klimawandel und Umweltschäden, erhält die Geschichte des Automobils »gleichsam häßliche Züge«.

Nicht nur hinsichtlich der Entwicklung der Technik ist der Leser mit dieser »Geschichte des Automobils« auf Entdeckungsreise. König beschreibt die automobile Geschichte auch vor dem Hintergrund kultureller und sozialer Veränderungen, den Gebrauch des Autos als Sport- und Kriegsgerät. Und er belichtet den Einfluß der Politik und ihrer (fatalen) verkehrspolitischen Weichenstellungen. So verfügte etwa Frankreich bereits Mitte des 19. Jahrhunderts über ein auf 36.000 Kilometer Länge überregional ausgebautes Straßennetz, auf dem anfangs vor allem Dampfbusse für Mobilität sorgten und später Autos von Peugeot (Renn-)Erfolge feierten. Deutschland dagegen, das sich heute als ewiges Stammland des Autos versteht und inszeniert, war – trotz seiner damaligen politischen Zerrissenheit – durch ein dichtes Eisenbahnnetz so gut erschlossen, daß auch Kapital und Politik lange ein eher unterentwickeltes Interesse am motorisierten Individualverkehr hatten. Noch bis in das dritte Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts hatten die maßgeblichen deutschen Beamten das Eisenbahnwesen nachdrücklicher gefördert als ihre Konterparts in anderen Autobaunationen, schreibt König. Die interessierte Lobby hat das so gründlich zugunsten des Autos und in den Köpfen der Menschen geändert, daß die Werbestrategen der japanische Autofirma Mazda heute ungeniert texten: »Danke Deutschland! Für 125 Jahre Automobil.«

Johann-Günther König: »Die Geschichte des Automobils«, Reclam Verlag, 196 Seiten, 9,95 €