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NATO plant Krieg von deutschem Boden aus  (Ulrich Sander)

Hunderttausendfacher Protest hat einst in Kalkar am Niederrhein dafür gesorgt, daß dort kein Atomkraftwerk entstand. Die Bauten für den Schnellen Brüter bieten jetzt einem »Wunderland«-Freizeitpark Platz. Doch es gibt Grund, wieder in großer Zahl dort zu protestieren. Bundeswehrführung und NATO haben in Kalkar – ohne viel Aufsehen zu erregen – das Hauptquartier für Luftkriegsoperationen aufgebaut. Eingreiftruppen in aller Welt können seit 2012 von der von-Seydlitz-Kaserne aus kommandiert werden. Vom Schnellen Brüter zur Schnellen Eingreiftruppe mit 9.000 Soldaten. Sie können im Auftrag der NATO in kurzer Zeit in den Krieg geschickt werden. Es wäre ein Krieg von deutschem Boden aus, ein Krieg, der auch unser Land zum Kriegsschauplatz macht. Raketen sind Magneten.

Die Ostermarschierer vom Rhein und von der Ruhr brachten es in ihrem Aufruf für die diesjährigen Aktionen auf den Punkt: »Durch das ungehemmte Vorgehen der NATO werden das Völkerrecht und die weltweite Friedensordnung verletzt. Die Gefahr von Kriegen steigt, die Welt wird unsicherer. NATO-Kriegseinsätze werden auch von Nordrhein-Westfalen aus gesteuert, so durch das der NATO unterstellte Luftwaffen-Führungshauptquartier in Kalkar.«

Von Kalkar aus wird zunächst der Luftraum nördlich der Alpen observiert. Auch das Kommando für den umstrittenen NATO-Raketenabwehrschild wird in Deutschland errichtet: auf dem NATO-Stützpunkt im rheinland-pfälzischen Ramstein, 380 Kilometer von Kalkar entfernt. Dann wird die NATO-Truppe vom deutschen Ramstein aus den Raketenschild gegen neue Mittelstreckenraketen kommandieren. Kommt einem das nicht irgendwie bekannt vor? Es versteht sich, daß die Wiederholung der Kriegsrhetorik aus der Zeit von Helmut Schmidt und Helmut Kohl keine beruhigende Sprache für Rußland ist. Kalkar und später Ramstein werden sich im Fadenkreuz der »uns bedrohenden Mittelstreckenraketen« befinden. Zunächst wird aber in Kalkar geübt. Mit rund 400 echten Soldaten koordinierte General Dieter Naskrent im vorigen Herbst von Kalkar aus 9.000 virtuelle. Die Übung diente der Beweisführung, daß die Kerntruppe von 60 Soldaten zusammen mit Hunderten aus ganz Deutschland und von sechs NATO-Partnern zusammengezogenen Männern und Frauen der Aufgabe gewachsen ist, erklärte Bundeswehrsprecher Oberstleutnant Alexander Feja.

Der Einsatz, den ein NATO-Team im norwegischen Stavanger entworfen hat und von dort aus auch überwacht und bewertet, ist nach Oberstleutnant Fejas Worten »so nah dran an der Realität wie möglich«. Im virtuellen Einsatz können Flugzeuge abgeschossen werden oder Terroristen eine Cessna kapern. Betrachter stutzen beim Blick auf die Landkarte mit Phantasieländern wie »Tytan«, »Petraceros«, »Stellaria« und »Kamon«. Alles sieht wie in Nahost aus.

Die NATO spielt Krieg, und in Kalkar wird er auf dem Reißbrett geplant und gesteuert. Die Neue Ruhr/Rhein Zeitung aus der WAZ-Gruppe berichtete von der Herbstübung: »Auch wenn beim Rundgang durch das Luftstreitkräfte-Hauptquartier in der von-Seydlitz-Kaserne alle von ›humanitären Einsätzen‹ und ›Stabilisierung der Regierung‹ reden – als das Pressegespräch mit dem Kommandierenden angesetzt ist, hat es dann in der Computersimulation doch ›geknallt‹. Drei-Sterne-General Dieter Naskrent kommt mit einer halben Stunde Verspätung und ernster Miene. ›Eine gestohlene, mit Sprengstoff beladene Cessna hatte Kurs auf die Hauptstadt genommen‹, sagt er. Und kommt nach einigen Erklärungen über ›Abdrängversuche‹ und ›Warnschüsse‹ auf den Punkt. ›Wir haben sie abgeschossen.‹ Schweigen. Dann, auf eine Nachfrage: ›Ja, letztlich habe ich den Befehl dazu gegeben.‹«

Es wäre ein illegaler Befehl, ein Verfassungsbruch. Über solche Übungen urteilt der Verfassungsexperte und ehemalige Bundestagsvizepräsident Burkhard Hirsch (FDP): »Die Piloten müssen wissen: Ein Befehl zum Abschuß ist der Befehl zu einem Verbrechen, zum rechtswidrigen Totschlag. Der einem solchen Befehl folgende Pilot wird sich anschließend vor einem Schwurgericht wiederfinden. Wir haben das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ja schließlich nicht aus Jux und Dollerei erfochten.« Gemeint ist das Grundsatzurteil zum Luftsicherheitsgesetz, mit dem das Gericht im Hinblick auf Artikel 1 des Grundgesetzes (Recht auf Leben) das Abschießen von Zivilflugzeugen durch Kampfjets verbot. Doch zu oft verweigerte die Bundeswehr schon den Gehorsam gegenüber der Verfassung, als daß uns Hirschs Versicherung beruhigen sollte.