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Titel072013

Der Dichter der Humanitätsreligion  (Wolfgang Beutin)

Am 21. März 2013 jährte sich zum 250. Mal der Geburtstag von Jean Paul (geboren 1763 in Wunsiedel, gestorben 1825 in Bayreuth).

»Er sang nicht in den Palästen der Großen, er scherzte nicht mit seiner Leier an den Tischen der Reichen. Er war der Dichter der Niedergeborenen, er war der Sänger der Armen.« So lauteten die rühmenden Worte, die der brillante Publizist Ludwig Börne dem Autor in einem Nekrolog widmete, der zu den besten seiner Art in deutscher Sprache zählt. Allerdings standen seit Jean Pauls Lebzeiten rühmenden Urteilen wie diesem mißfällige gegenüber. Sie galten abwechselnd der Gedankenwelt des Dichters sowie der Form, in der er sich mit seinen Dichtungen bewegte, oder beidem. Friedrich Schlegel behauptete in der Zeitschrift der Romantiker, dem Athenäum, »der strenge Künstler« hasse ihn »als das blutrote Himmelszeichen der vollendeten Unpoesie der Nation und des Zeitalters«, sei er doch ein Autor, »der die Anfangsgründe der Kunst nicht in der Gewalt hat«. Von hier führte die Linie bis hin zur gänzlichen Verwerfung der Lebensleistung Jean Pauls durch Nietzsche, der ihm noch einmal das Künstlertum abstritt und zur Kennzeichnung nur das verdammende Wort »Verhängnis« erübrigte, er sei »ein Verhängnis im Schlafrock«.

Allerdings ist es kaum schwer, die Gedankenwelt Jean Pauls zu rubrizieren. Sie definierte der Dichter Eichendorff: »Jean Paul war der eigentliche Dichter der Humanitätsreligion.« Wenig verwunderlich, daß Urteiler, denen diese ein Ärgernis bedeutete – darunter die Protagonisten der Gegenaufklärung –, an seinem Œuvre kein gutes Haar lassen wollten. Kompliziert wird es jedoch dann, wenn ein mit ihm stark sympathisierender Nachfahr wie Heinrich Heine zu dem Schluß kommt: »Jean Paul ist ein großer Dichter und Philosoph«, doch sich genötigt sieht, hinzuzufügen und somit die Leserschaft vor ein Paradoxon zu stellen: »Aber man kann nicht unkünstlerischer sein als eben er im Schaffen und Denken.«

Hier liegt kein Irrtum des Literaturkenners Heine vor. Wer wie er genau beobachtet, wird alsbald eine wesentliche Ader des Unkünstlerischen bei Jean Paul entdecken: die überaus spendable Verwendung der Bilder und anderer stilistischer Mittel, die den Eindruck barocker Überladenheit erzeugen. So an einer Stelle, wo er das feudale Ausbeutungssystem anprangert, dessen Träger ihm die Handelskapitalisten, der Klerus und der Adel sind: Diese seien »rechte Kauf- und Pfarr- und Edelleute, welche, da sie auch wissen, was sich gehört, ihre Hand als einen guten Vogelkloben gebrauchen, welcher sich nur auf- und zumacht zum Fangen, und die nur die Hand eröffnen, um sie zuzuschließen«. »Kloben« war ein gespaltenes Holz zum Festhalten, vor allem eine technische Vorrichtung zum Vogelfang, hier: als Metapher für die räuberische Praxis der herrschenden Klassen, die bloß nehmen, nie geben. In einer Streitrede gegen das Kriegführen sorgt er mit Einbeziehung zweier heterogener Vergleiche für Diffusion, wo Konzentration des Blicks erforderlich wäre: »So wenig geht bisher der Mensch noch den Menschen an; geheftet auf die Scholle, wie das Kerbtier auf das Blatt, sieht er – wie Büchernachdruck, so Mord zwischen Völkern sittlich verzeihend – noch nicht, daß jeder Erdenkrieg ein Bürgerkrieg ist ...« Ähnlich vermeidet er bei Schilderung einer Liebesbegegnung nicht eine Inflation der rhetorischen Figuren: »Albano berührte bebend Lianens Blumenlippe, wie Johannes Christum küßte, und die schwere Milchstraße bog sich wie eine Wünschelrute hernieder zu seinem goldnen Glück. – Liane seufzete: ›O Mutter, wie sind deine Kinder glücklich.‹ Der Mond war schon wie ein weißer Engel des Friedens in das Blau geflogen und verklärte die große Umarmung ...« In wenigen Zeilen bietet der Verfasser zwei Metaphern (»Blumenlippe«, »zu seinem goldnen Glück«) und drei Vergleiche (Johannes, Wünschelrute, Engel). Wenn Aufklärung unter anderem Rücknahme religiöser Motive bedeutete, Entmythologisierung, so bedient sich der Dichter hier geistlicher Reminiszenzen, die er in eine Darstellung ungeistlichen Geschehens einträgt, mit dem Resultat einer sentimentalen Remythologisierung (Johannes, Engel).

Wo zeigt sich denn aber der »große Dichter und Philosoph« Jean Paul, »der Sänger der Armen«? Ihn entdeckt, wer daran geht, im Kompositum »Humanitätsreligion« Verborgenes aufzuspüren: eine spezifische Weltanschauung, die Variante von Philosophie und Religion unter den Auspizien der Aufklärung, dazu ein Bündel von Denkformen oder -methoden, die ebenfalls in der Aufklärung entwickelt wurden. Unter den dominanten Motiven, die der »Humanitätsreligion« des Dichters angehören, sind: erstens ein antifeudales, antidynastisches, beharrlich gegen die Ausbeutung der Volksmassen gerichtetes, oder positiv: ein demokratisches und soziales, zweitens die Absage an den Krieg, positiv: das eindringliche pazifistische Bekenntnis.

Was er fortwährend in Frage stellte, war das Feudalsystem als ganzes: »Steuerfreie Spitzbuben sah er, die sich an steuerfähigen Armen bereicherten – redliche Advokaten hört’ er, die nicht, wie seine Hofleute oder die englischen Räuber, mit einer tugendhaften Maske stahlen, sondern ohne die Maske, und denen eine gewisse Entfernung von Aufklärung und Philosophie und Geschmack nach dem Tode gar nicht schädlich sein wird, weil sie dann in ihrer eignen Verteidigung Gott die Einrede ihrer Unwissenheit entgegensetzen« können – eine weltliche Argumentation, in die der Autor wiederum eine religiöse Reminiszenz einmischt (das Jüngste Gericht). Die »redlichen Advokaten« sind solche, die ihre Verbrechen offen-zynisch begehen. Zu seinem Instrumentarium gehört die Adelssatire: »Wenn die Weiber Blumen sind – wiewohl ebensooft seidene und italienische und Kupferblumen als botanische –, so war die Frau von Aufhammer eine gefüllte, mit ihrem Fettbauchkissen und Speck-Kubus …, sie beglückte, beschenkte und verschmähte die Bürgerlichen und achtete an ihnen nichts als höchstens Frömmigkeit.« Seiner Satire fällt die gesamte ständische Gesellschaft zum Opfer, darunter die Perücken-Gelehrsamkeit, worüber er spottet, einige der Gelehrten hätten ihren Lebenslauf bereits »im Mutterleibe« begonnen; ferner gäbe es die, »die Schuster waren, die, die ersoffen usw.«; »die etwas hatten schreiben wollen«; »die gar nichts geschrieben« ... Solchen Gelehrten und Lehrern wirft der Autor vor, daß sie niemals Widerstand gegen die Monarchen leisteten und »zwar Republiken erheben (= loben; W. B.), aber offenbar nur die zwei bekannten auf klassischem Grund und Boden, und das nur wegen der lateinischen und griechischen Sprache«. Jean Pauls kontinuierliche Polemik jedoch gilt den Fürsten und Reichen. So bei Erwägung der Frage, wem Denkmäler zu setzen wären. »Soll der gemeinen (= allgemeinen; W. B.) Vergötterung oder Versteinerung der Fürsten und Reichen nicht die höhere Apotheose regierender und reicher Geister das Gleichgewicht halten?« Vor allem aber bleiben für den Dichter zwei Kategorien von Menschen übrig, auf die er am meisten hofft: »der gemeine Mann« (der Bauer und Handwerker, auf den in der frühen Neuzeit bereits, im 16. Jahrhundert, Hans Sachs setzen wollte) und »die Masse«. Quintus Fixlein »war weder aber- noch rechtgläubig und handelte nach festen Grundsätzen, die der gemeine Mann weit öfter hat als der prahlende Literatus und der öde, weiche Große«. »Eine Nation kann nur stolz auf die Masse, nicht auf die Genies, das heißt auf die Ausnahmen sein ...«

In seinen Schriften erweist sich Jean Paul auch als Wegbereiter der Emanzipation der Frau. Findet man im 19. Jahrhundert die Aussage, daß das gesellschaftlich-kulturelle Niveau einer Nation an der Hochstellung der Frau abgelesen werden kann (Fourier, Engels), steht bei dem früheren Autor schon, daß mangelnde Wertschätzung der Frau in eins fällt mit der Verderbnis einer geschichtlichen Epoche: »Je verdorbner ein Zeitalter, desto mehr Verachtung der Weiber.« Er skizziert den durchschnittlichen Lebenslauf, den ein junges Mädchen im Patriarchat zu erwarten hat: »Wenn dann nun die reichste beste Seele unter der Morgenröte des Lebens mit dem unerwiderten Herzen, mit versagten Wünschen, mit den ungesättigten verschmähten Anlagen eingesenket wird ins übermauerte Burgverlies der Ehe ..., so fühlt sich die Arme ungemein wohl dabei – die goldnen Luft- und Zauberschlösser der frühern Jahre erblassen bald und zerfallen unvermerkt – ihre Sonne schleicht ungesehen über ihren bewölkten und unterirdischen Lebenstag von einem Grade zum andern, und unter Schmerzen und Pflichten kömmt die Dunkle an dem Abend ihres kleinen Daseins an ...« In einem kleinen Entwurf wie diesem erweist sich der Dichter als ausgezeichneter Psychologe, wie er denn überhaupt Grundeinsichten der neueren Psychologie vorwegnahm, so in seiner Theorie der Dichtkunst: »Das Mächtige im Dichter, welches seinen Werken die gute und die böse Seele einbläset, ist gerade das Unbewußte.« Er vermutete in der Aufschlüsselung des Traums den Königsweg zur Erforschung des Phantasielebens: »... besonders könnt’ ich mich wundern, warum man den Traum nicht gebraucht, um daran den unwillkürlichen Vorstell-Prozeß der Kinder, der Tiere, der Wahnsinnigen zu studieren, sogar der Dichter, der Tonkünstler und der Weiber.«

Zu den heute noch beachtlichsten Schriften des Dichters Jean Paul gehören seine friedenspolitischen Aufrufe, die der Spanne der Napoleonischen Kriege entstammen: »Friedens-Predigt an Deutschland« (1808) und »Dämmerungen für Deutschland« (1809; worin sich die bekannte »Kriegs-Erklärung gegen den Krieg« befindet). Mit ihnen stellte sich der Verfasser dem zweiten großen deutschen pazifistischen Theoretiker des Zeitalters zur Seite, Immanuel Kant, der 1795 mit der Schrift »Zum ewigen Frieden« hervorgetreten war; auf ihn beruft sich Jean Paul ausdrücklich. Für ihn ist Krieg der älteste Barbarismus der Menschheit, und: »Seit der Schöpfungsgeschichte treibt dieses wahre perpetuum mobile des Teufels die Vernichtungsgeschichte fort.« Die Basis von Jean Pauls eindrücklicher Argumentation war eine Erkenntnis, die schon in der Renaissance berühmte Friedensdenker präsentierten (unter anderen Erasmus von Rotterdam): Kriege dienen stets nur der herrschenden Minorität, niemals der Mehrheit, dem Volk, das die Hauptopfer bringt. Jean Paul schreibt: »Das Unglück der Erde war bisher, daß zwei den Krieg beschlossen und Millionen ihn ausführten und ausstanden, indes es besser, wenn auch nicht gut gewesen wäre, daß Millionen beschlossen hätten, und zwei gestritten. Denn da das Volk fast allein die ganze Kriegs-Fracht auf Quetschwunden zu tragen bekommt, und nur wenig von dem schönen Frucht-Korbe des Friedens, und oft die Lorbeerkränze mit Pechkränzen erkauft; – da es in die Mord-Lotterie Leiber und Güter einsetzt und bei der letzten Ziehung (der des Friedens) oft selber gezogen oder als Niete herauskommt: so wird seine verlierende Mehrheit viel seltener als die erbeutende Minder-Zahl ausgedehntes Opfern und Bluten beschließen.«