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Titel716

Was nicht passt, wird passend gemacht  (Urte Sperling)

Die Mutter einer Freundin kam angesichts sich häufender Verwirrtheitszustände allein nicht mehr zurecht und lebt nun in einem Seniorenheim, das im Rahmen der gängigen Zertifizierungen beste Noten vorweist und die Betreuung von Menschen, die von sogenannter Demenz betroffen sind, zu seinem Angebot zählt. Zu einem Problem wurde bald, dass die Mutter auf jede Bevormundung und vor allem auf Übergriffe, die ihre Intimsphäre verletzen, widerspenstig und abwehrend reagiert, was die Hilfe bei der Körperpflege nicht einfach macht. In einem durch Ablauforganisation strikt strukturierten routinemäßig organisierten Pflegealltag lässt sich individuelle Zuwendung nur schwer einpassen. Auf herausforderndes Verhalten reagiert das offenkundig ungeschulte und/oder überforderte Pflegepersonal gelegentlich rabiat und macht alles noch schlimmer. Ängste und Verwirrtheitszustände, der Verlust der vertrauten Umgebung potenzieren sich in den Nächten, also genau dann, wenn die personelle Besetzung in der Regel besonders schlecht ist. Denn Nachtarbeit kostet zusätzlich. Eine Lösung bestände in der Anpassung der Arbeitsabläufe und des Heimalltags an die Bedürfnisse der Bewohner_innen – was, wenn gewollt, auch möglich ist. Stattdessen werden in der Regel vom zuständigen Arzt »Bedarfsmedikamente« verordnet: Schlafmittel, leicht- bis mittelpotente Neuroleptika, die im Zentralnervensystem beruhigend wirken sollen (zuweilen aber auch das Gegenteil bewirken und noch mehr Verwirrung, Gangunsicherheit oder gar Sturzgefahr schaffen). Dauerhaft verabreicht, tritt schleichend eine Veränderung der Persönlichkeit ein, die zur erhofften »Zähmung der Widerspenstigen« führt. Die ärztliche Anordnung von »Bedarfsmedikation« umgeht dabei die Verschreibungspflicht im Einzelfall und gibt vor allem den Pflegenden Mittel für eine chemische Ruhigstellung an die Hand – ein »Bedarf«, der Bedürfnisse von gestresstem Personal bedient.

Die Mutter meiner Freundin geisterte des Nachts herum, verirrte sich in fremde Zimmer und erhielt deshalb Medikamente, die sie allerdings noch stärker desorientierten und gangunsicher machten. Die Tochter intervenierte, versuchte es mit Appellen an die Vernunft der Profis: Der erwünschte Effekt der Medikamente war ja nicht eingetreten. Da sich die Mutter nicht so leicht ruhigstellen ließ, zeichnete sich ab, dass eine wirksame »Besänftigung« mittelfristig nur mit Dosiserhöhung oder weiteren Medikamentenexperimenten erreichbar wäre, auch wenn dies eine höhere »passive« Pflegebedürftigkeit bedeuten könnte. Will man sich – wie meine Freundin – darauf nicht einlassen, sieht sich die Einrichtung nicht in der Lage, den Heimvertrag zu erfüllen.


Auch nach der viel gepriesenen jüngsten Pflegereform gilt weiterhin das System der Pflegestufen, welches nur die sogenannten schweren und Schwerstpflegefälle relativ großzügig honoriert. Personeller Aufwand, der auf Erhalt möglichst großer Eigenständigkeit und Selbstpflege abzielt, rechnet sich betriebswirtschaftlich für Seniorenheime nicht. Eine solche Pflege erfordert geschultes und motiviertes, nicht gehetztes und unterbezahltes Personal in ausreichender Anzahl. Vorschnelle Medikamentierung hingegen senkt die Kosten, aber auch die Lebensqualität und unter Umständen auch die Lebensdauer.


All das wird seit mindestens zwei Jahrzehnten beforscht und gelehrt; in spezialisierten Modelleinrichtungen werden Alternativen erprobt und praktiziert. Versuche, die Vorzeigemodelle vielen, ja möglichst allen Betroffenen zukommen zu lassen, scheitern in der Regel, sobald der stets zeitlich befristete Versuch ausläuft. Deshalb reißen ebenfalls seit zwei Jahrzehnten Berichte über Pflegeskandale in den Heimen und in der häuslichen Pflege nicht ab – trotz Heimaufsicht, Pflege-TÜV und öffentlicher Kritik. Der gewaltige Berg öffentlichkeitswirksamen Aufwands (Pflegeforschung, Pflegetage, Sachverständigenpapiere) kreißte und gebar schließlich ein Mäuslein: die Anerkennung eines gewissen Pflegebedarfs für mobile, körperlich gesunde altersverwirrte Menschen, soweit sie die Diagnose beginnende oder leichte »Demenz« ärztlich zugeschrieben bekommen. Dann gibt es ein bescheidenes »Pflegegeld« für das, was im Fachjargon »Betreuung« oder »Alltagsbegleitung« heißt. Die Engpässe in der »Heimlandschaft« werden dadurch nicht behoben, und auch die Situation der häuslichen Pflege wird nicht nachhaltig verbessert. (Hier entschärft die Beschäftigung von Arbeitsmigrantinnen aus Osteuropa zu Niedrig-Entgelten das Problem und sorgt für dessen Fortbestand.)


Es gibt Experten, die immer wieder vorrechnen, welche Kosten die unsachgemäße Verordnung von Dauermedikationen mit ihren Neben- und Wechselwirkungen verursacht. Doch wir leben in einem Land, das die »Alten« als Nachfragende einer vielfältigen »Gesundheits«-Industrie im Visier hat. Sie sollen der Volkswirtschaft als »Wachstums- und Beschäftigungsmotor« dienen. Die Anwendung ruhigstellender Medikamente spart in den Heimen qualifizierte »teure Arbeitsplätze« ein oder verhindert deren Entstehung. Die Branche Altenpflege setzt auf Billiglöhner_innen. Eine Grundtendenz kapitalistischen Wirtschaftens: Ersetzung von Arbeitskraft, nicht nur durch Maschinen, sondern offenkundig auch durch Chemie, schafft Opfer dort, wo nicht tote Güter erzeugt und verkauft, sondern hilfsbedürftige Menschen angemessen betreut werden sollten.


Meiner Freundin ist schwer zu raten. Wenn sie Glück hat, findet sie einen besseren Ort für die Mutter, in der Nähe des eigenen Wohnortes. Da kann sie durch persönliche Präsenz eventuell eine individuelle Kompromisslösung erreichen, bei der Medikamente nur nach strenger Indikation und bei einem nachweisbaren Nutzen für die Lebensqualität der Mutter zum Einsatz kommen. Das wäre dann die Ausnahme von der Regel, die da lautet: Was nicht passt, wird passend gemacht.