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Titel719

Sinti und Roma: Die Kirchen und der Genozid  (Renate Hennecke)

Zum zweiten Mal wurde am 8. und 13. März in München mit einem ökumenischen Gottesdienst beziehungsweise mit einer offiziellen Gedenkstunde mit Namenslesung und Kranzniederlegung am Platz der Opfer des Nationalsozialismus und einer abendlichen Gedenkveranstaltung im NS-Dokumentationszentrum der deportierten Münchner Sinti und Roma gedacht. Den Abtransport aller noch im Reich verbliebenen Angehörigen der Minderheit nach Auschwitz hatte Heinrich Himmler, »Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei« sowie »Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums«, am 16. Dezember 1942 befohlen; in München begannen die Verhaftungen am 8. März 1943. Fünf Tage später startete der erste Deportationszug vom Güterbahnhof an der Hackerbrücke. Mindestens 141 Menschen – Männer, Frauen und Kinder – waren in den Viehwaggons zusammengepfercht. Nur wenige von ihnen überlebten.

 

 

Religiös begründeter Antiziganismus

Auf Beschluss der Vorbereitungsgruppe für die Gedenkveranstaltungen zum 76. Jahrestag der Deportation lautet das Hauptthema der Abendveranstaltung im NS-Dokuzentrum »Die Kirchen und der Genozid an Sinti und Roma«. Das Referat zu diesem Thema hält der Historiker Frank Reuter, wissenschaftlicher Geschäftsführer des Heidelberger Dokumentations- und Kulturzentrums Deutscher Sinti und Roma. Der Völkermord an Sinti und Roma während der NS-Zeit sei nicht voraussetzungslos gewesen, beginnt er seine Ausführungen. Zur Vorgeschichte gehöre, dass die Kirchen, vor allem die katholische (die meisten Sinti und Roma waren katholisch), im Laufe von Jahrhunderten verschiedenste antiziganistische Stereotype und Legenden verbreiteten. So sei beispielsweise die nicht sesshafte Lebensweise der »Zigeuner« als auferlegte Buße für besonders schwere Verfehlungen ausgedeutet worden. Weil die »Zigeuner« der Heiligen Familie auf ihrer Flucht nach Ägypten das Nachtquartier verweigert hätten oder – noch schlimmer – weil sie die Nägel für das Kreuz Christi geschmiedet hätten, seien sie zu ewigem Umherziehen verdammt worden. In kirchlichen Chroniken und Traktaten seien die Begriffe »Zigeuner« und »Heiden« synonym verwendet worden; den Sinti und Roma habe man unterstellt, sich nicht aus Überzeugung zum Christentum zu bekennen, sondern dieses Bekenntnis nur als Fassade zu benutzen, um dahinter heidnisches Brauchtum und eine antichristliche Moral zu verstecken. Die dunkle Haut- und Haarfarbe dieser »Scheinchristen« sei als Zeichen dafür interpretiert worden, dass sie mit dem Teufel im Bunde stünden. Über Jahrhunderte habe so die Kirche das negative Bild der »Zigeuner« mitgeprägt und sich auch dann nicht schützend vor sie gestellt, als sie im 15. Jahrhundert von mehreren deutschen Reichstagen der Spionage für die feindlichen Türken bezichtigt und für vogelfrei erklärt wurden, so dass jedermann sie jederzeit straflos töten konnte.

 

 

Unterstützung bei der rassistischen Erfassung

Für die Nazis, fährt Reuter fort, hätten die religiösen Stereotype und Legenden keine ausschlaggebende Rolle gespielt. Sie hätten sich vor allem auf den pseudowissenschaftlichen biologistischen Antiziganismus gestützt, der die Angehörigen der Minderheit als Menschen einer minderwertigen »artfremden Rasse« eingestuft, sie vermessen und mit ihren verwandtschaftlichen Beziehungen möglichst komplett zu erfassen gesucht habe. Der 1936 gegründeten, von dem Rassentheoretiker Robert Ritter geleiteten »Rassenhygienischen und Bevölkerungsbiologischen Forschungsstelle« hätten sowohl die katholische als auch die evangelische Kirche bereitwillig die für die Erfassung erforderlichen Unterlagen wie Kirchenbücher, Urkunden et cetera zur Verfügung gestellt. Reuter zitiert mehrere entsprechende offizielle Anordnungen der Kirchenoberen und stellt fest: »Auf der Basis der auch mit Unterstützung der Kirchen gewonnenen personenbezogenen Daten erstellte Ritters Institut nahezu 24.000 Gutachten, die Menschen per ›Rassen-Diagnose‹ zu ›Zigeunern‹ oder ›Zigeuner-Mischlingen‹ erklärten. Diese Gutachten bildeten eine wichtige Grundlage für die Deportation oder, in selteneren Fällen, die Zwangssterilisation.«

 

 

»... die Kirche soll einschreiten«

Ein besonderes Kapitel seines Vortrags widmet Frank Reuter dem Schicksal der zahlreichen Sinti- und Roma-Kinder, die aus katholischen Kinderheimen nach Auschwitz oder in ein anderes Vernichtungslager deportiert wurden. Während die offiziellen kirchlichen Stellen schwiegen, gab es auch Geistliche, die das nicht hinnehmen wollten. Als Beispiele nennt Reuter Kaplan Heinrich Kottmann in Neustrelitz, der unter Inkaufnahme erheblicher Risiken heimlich den Abtransport von Sinti-Kindern aus dem dortigen St. Elisabeth-Kinderheim fotografierte, sowie den Hildesheimer Bischof Machens, der am 6. März 1943 einen eindringlichen Appell an den Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, den Breslauer Kardinal Bertram, richtete. Unter Hinweis auf die Abholung von Sinti- und Roma-Kindern aus katholischen Fürsorgeeinrichtungen stellte Machens die Frage: »Was kann geschehen, um unsere Glaubensbrüder zu schützen?« und forderte, die Bischöfe müssten lautstark protestieren, um das Leben der Verschleppten zu retten. Auch von außen wurde diese Forderung an die Kirche herangetragen, so von dem Sinto Oskar Rose, dem späteren Mitinitiator der Bürgerrechtsbewegung und Vater des heutigen Zentralratsvorsitzenden Romani Rose. Rose hatte sich durch Flucht der Deportation entziehen können und lebte unter falschem Namen in München. Am 5. April 1943 unternahm er, trotz seiner persönlichen Gefährdung als Illegaler, den Versuch, zu Kardinal Faulhaber in dessen Münchner Residenz vorzudringen, um diesen über die neue Stufe der Verfolgung der Sinti und Roma zu informieren und ihn zu einer wirksamen Intervention zu veranlassen. Faulhaber empfing Rose nicht, sondern ließ ihn von seinem Sekretär abwimmeln. In seinem privaten Tagebuch vermerkte er: »Bei Sekretär ein Zigeuner, namens Adler, katholisch – Die 14.000 Zigeuner im Reichsgebiet sollen in ein Lager gesammelt und sterilisiert werden, die Kirche soll einschreiten. Will durchaus zu mir. – Nein, kann keine Hilfe in Aussicht stellen.«

 

Es ist mucksmäuschenstill im Saal, während die Zuhörer Reuters Bericht über weitere schockierende Belege für den krassen Antiziganismus des Kardinals lauschen, nach dem bis heute eine Straße im Zentrum Münchens benannt ist. Aber nicht nur Faulhaber verweigerte sich der Bitte um Hilfe. Auch der Appell von Bischof Machens an Kardinal Bertram führte, wie Reuter weiter berichtet, nicht zu dem geforderten öffentlichen Protest, sondern nur zu einem allgemein formulierten, zahnlosen Hirtenbrief, dem man das ursprüngliche Anliegen nicht mehr entnehmen konnte – und auch dies erst nach einem halben Jahr. Dabei konnte, so Reuter, im Frühjahr 1943 »innerhalb der Deutschen Bischofskonferenz kaum mehr ein Zweifel am genozidalen Charakter der gegen die Sinti und Roma gerichteten staatlichen Maßnahmen bestehen«. Den Bischöfen lag nämlich »ein weiteres wichtiges Dokument« vor: ein vom Berliner Bischof und Caritas-Direktor Heinrich Wienken in Auftrag gegebener Bericht mit dem Titel »Zur Lage der Zigeuner«. Dieser Bericht war allen Mitgliedern der Deutschen Bischofskonferenz zugeleitet worden.

 

»Ob sich das Schicksal der deportierten Sinti-Kinder hätte abwenden lassen, hätten sich die deutschen Bischöfe, ungeachtet der damit verbundenen Gefahr für sich selbst und für die Kirche als Ganzes, zu einem öffentlichen Protest durchringen können, vermag niemand zu sagen«, stellt Reuter gegen Ende seines Vortrags fest. Den damaligen Entscheidungsträgern hält er zugute, dass sie »ohne Zweifel vor einer existenziellen Herausforderung« gestanden hätten, »weshalb wir uns vor vorschnellen moralischen Urteilen hüten sollten«.

 

 

Selbstkritische Auseinandersetzung steht noch aus

Mehr Mut als das Führungspersonal bewiesen in beiden Amtskirchen einzelne Vertreter auf der unteren Ebene. Reuter führt einige Beispiele dafür an, dass manche Seelsorger den verfolgten Sinti und Roma beistanden. Die kritische Würdigung des Verhaltens der Kirchen angesichts des Völkermords an Sinti und Roma während der NS-Zeit ist nicht als Ausdruck einer Abwendung von der Religion zu verstehen. Im Gegenteil: Für den Großteil der Sinti und Roma war und ist der Glaube sehr wichtig. Bei der Gestaltung der Gedenktage spielen deshalb Geistliche verschiedener Konfessionen eine nicht unerhebliche Rolle. Es ist daher nur folgerichtig, dass die Organisatoren eine gründliche selbstkritische Auseinandersetzung der Kirchen mit ihrer einschlägigen Geschichte verlangen. Eine solche Auseinandersetzung hat bislang nicht stattgefunden. Sie ist überfällig.

 

 

Der Vortrag von Frank Reuter am 13. März im Münchner NS-Dokuzentrum ist auf YouTube unter https://www.youtube.com/watch?v=t0x69DA8l74 abrufbar.