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Titel720

Worte und Taten  (Conrad Taler)

»Für den Bürger eines freiheitlichen Rechtsstaates gibt es im Grunde genommen keine wichtigere Informationsquelle als das Grundgesetz«, schrieb Bundespräsident Gustav Heinemann 1970 im Geleitwort zu einer von der Bundeszentrale für politische Bildung veranlassten Sammlung wichtiger Gesetzestexte. Heinemann sagte etwas Richtiges, aber in Zeiten wie diesen nutzt das Grundgesetz als Informationsquelle wenig. Letztlich steht alles nur auf dem Papier, und die Grundrechte können den Bürgern von einer Stunde auf die andere abhandenkommen.

 

Auch manches andere gilt als verbürgt, wird aber im täglichen Leben mit Füßen getreten. Das kann auch dem von den Koalitionsfraktionen CDU/CSU und SPD ausgearbeiteten Gesetz zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Hasskriminalität widerfahren, das der Bundestag am 12. März in erster Lesung beraten hat. Volksverhetzung zum Beispiel ist nach § 130 des Strafgesetzbuches seit jeher verboten. Trotzdem konnte sich im Oktober 1980 der Herausgeber der antisemitischen Deutschen National-Zeitung, Gerhard Frey, in einem Fernschreiben an alle Zeitungsredaktionen damit brüsten, dass soeben das 500. Strafverfahren gegen ihn ohne Ergebnis zu Ende gegangen sei. Das Landgericht München hatte ihn vom Vorwurf der Volksverhetzung freigesprochen.

 

Vierzig Jahre später, nach einer Vielzahl ähnlicher Entscheidungen, kommentierte jetzt Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) den rechtsextremistischen Anschlag von Hanau mit den Worten, er fordere Aufrichtigkeit vom Staat, der sich eingestehen müsse, »die rechtsextremistische Gefahr zu lange unterschätzt zu haben« (Süddeutsche Zeitung, 6.3.2020). Als Anfang der 1980er Jahre das Landgericht Würzburg einen Mann wegen Volksverhetzung zu zwei Jahren und zwei Monaten Freiheitsstrafe verurteilte, hob der Bundesgerichtshof das Urteil auf und sprach den Angeklagten frei.

 

Was war geschehen? Der Mann hatte unter anderem Parolen wie »Juden raus«, »Ausländer raus« und »Türken raus« an Häuserwände gesprüht. Der Bundesgerichtshof argumentierte, die öffentliche Verbreitung solcher Parolen erfülle nicht in jedem Fall den Tatbestand der Volksverhetzung. Er setze »eine Aufforderung zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen gegen Teile der Bevölkerung voraus«. Der Begriff »Aufforderung« verlange »eine bestimmte Erklärung an die Motivation anderer, die den Eindruck der Ernstlichkeit erweckt und erwecken soll«. Weiter führte der BGH aus: »Die Parolen ›Juden raus‹, ›Ausländer raus‹ und ›Türken raus‹ enthalten nach ihrem Wortlaut keine Aufforderung an andere, gegen die genannten Personengruppen bestimmte Maßnahmen zu ergreifen.« Die Auslegung, dass der Angeklagte durch die Beifügung von Hakenkreuzen eine gewaltsame Vertreibung der in der Bundesrepublik lebenden ausländischen Gastarbeiter und deutschen Juden gemeint habe, liege »vor dem geschichtlichen Hintergrund der nationalsozialistischen Judenverfolgung bei der Parole ›Juden raus‹ auf der Hand. Sie ist nicht ohne weiteres auf die anderen Äußerungen übertragbar.« (AZ 3 StR-36/84). Mit anderen Worten, sie brauchten nicht ernst genommen zu werden.

 

Diese Überlegung hat anscheinend auch bei der Weigerung des Bundesverfassungsgerichts eine Rolle gespielt, die NPD als verfassungsfeindlich zu verbieten. Die rechtsextremistische Partei weise zwar eine Wesensverwandtschaft mit der NSDAP Adolf Hitlers auf und arbeite planvoll auf die Beseitigung der bestehenden Verfassungsordnung hin, so das Gericht, derzeit fehle es jedoch an konkreten Anhaltspunkten von Gewicht, »die es möglich erscheinen lassen, dass dieses Handeln zum Erfolg führt«. Anders ausgedrückt, die NPD ist nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts ungefährlich. Damit wurde das Tor zur Verbreitung rechtsextremistischer Agitation sperrangelweit aufgemacht. Im selben Jahr 2017, in dem die NPD für unbedeutend erklärt wurde, zog die rechtspopulistische Alternative für Deutschland (AfD) in den Bundestag ein, wo sie heute mit 89 Abgeordneten die stärkste Oppositionsfraktion stellt.

 

 »Wehret den Anfängen«, lautet eine der Lehren aus dem Untergang der Weimarer Republik. Deshalb beantragte 1969 die Bundesregierung unter Federführung ihres Innenministers Ernst Benda (CDU), das Bundesverfassungsgericht möge dem Herausgeber der Deutschen National-Zeitung«, Frey, das Grundrecht der Presse- und Meinungsfreiheit entziehen, weil er es zum Kampf gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung missbrauche. Sie ist damit nicht durchgekommen. Entscheidend für eine Grundrechtsverwirkung sei, erklärte das Gericht, ob von der betreffenden Person in Zukunft eine Gefahr für die freiheitliche demokratische Grundordnung ausgehe. Das habe die Bundesregierung nicht dargetan und »offensichtlich« sei es im vorliegenden Fall nicht.

 

Aus der Klemme geholfen hatte dem Herausgeber der DNZ – wie sich später herausstellte – ein Rechtsgutachten des Mitverfassers des Standardkommentars zum Grundgesetz, Theodor Maunz. Nach dessen Tod teilte die Redaktion des antisemitischen Hetzblattes mit, Gerhard Frey habe damit seinen »wunderbaren Wegbegleiter« verloren, der über Jahrzehnte hinweg anonym mit Beiträgen in der DNZ vertreten gewesen sei.

 

Fragt sich, wen die AfD verlor, als Hans-Georg Maaßen sein Amt als Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz abgeben musste. Mene mene tekel upharsin. Aber das ist eine andere Geschichte.