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Titel0810

Bemerkungen

Linguistisches
»Gefallene« waren zu beklagen, Soldaten, die »sich ehrenvoll eingesetzt« haben, in einer »gefahrenvollen Lage«, die man, so der deutsche Militärminister, »umgangssprachlich Krieg nennen kann«. Und nun gebührt ihnen »würdige Trauer«. Für die afghanischen Soldaten, die beim Versuch zum »Partnering« mit der Bundeswehr versehentlich zu Tode kamen, ist noch keine passende Sprache gefunden. Es ließe sich auch folgendes sagen: Die einen wie die anderen sind nicht gefallen, sondern elend verreckt. Selbst eingesetzt hatten sie sich nicht, sie wurden zum Einsatz hinkommandiert von Politikmachern, die weit vom Schuß sitzen. Und wer im Grab liegt, dem gehen Ehrenbekundungen und Würdebeteuerungen am kalten Arsch vorbei. Aber das wäre zu viel des Umgangssprachlichen.

Marja Winken


Als noch desertiert wurde
Im Mai 1988, ein gutes Jahr vor der deutschen Vereinigung, sendete der Hessische Rundfunk die Hördokumentation »Ihr Gegner war nicht mehr mein Gegner« von Gerhard Kleinbach. Es ging um das »vergessene Kapitel der deutschen Deserteure im 2. Weltkrieg«. Weil das schöne Spiel inzwischen unmodern geworden ist, erlaube ich mir, das Ende des Textes von 1988, als die heutigen Kriege noch in weiter Ferne waren, zu zitieren:
»Der Schriftsteller Gerhard Zwerenz desertierte selbst im August 1944. Er sagte, daß ihm dieser Schritt nicht leicht gefallen sei, keiner sei als Deserteur geboren. In seinem neuen Buch geht er so weit, daß er vom ›Prinzip Desertion‹ spricht. Darunter versteht er die radikale Verweigerung, die individuelle Rebellion, die zwingend sei, wenn eine Führung Gehorsam verlange, ohne Mitbestimmung zu gewähren. Gerhard Zwerenz hielt am Denkmal ›Dem Unbekannten Deserteur‹ die Einweihungsrede:
Der Deserteur ist in allen Armeen und in allen Ländern so eine Art Jude aus eigener Verantwortung. In dem Moment, in dem er sagt, ich werde hier nicht mehr Krieg führen, ist er zum Feind erklärt. Zum Feind all derer, die weiterhin Krieg führen wollen. Man muß sich einmal überlegen, wie schwer es ist, wie es auch jederzeit wieder werden kann, als Einzelner nicht nur gegen die feindliche Armee, gegen die man ja sowieso befohlen war, zu kämpfen, sondern auch noch gegen die eigene Armee. Das heißt also, der Deserteur ist derjenige, der tatsächlich sein Ich über alles andere stellt. Ernst Bloch hat einmal gesagt, es sei die Aufgabe der Kirche, Ketzer zu produzieren. Die besten Prediger sind die Ketzer. Ich würde sagen, es ist die Aufgabe der Armeen, Deserteure zu produzieren. Denn eine andere Aufgabe sollten sie überhaupt nicht mehr haben … Man muß nicht Soldat werden, man braucht nicht Soldat zu werden, man sollte überhaupt nicht Soldat werden. Es ist viel einfacher, nicht schießen zu lernen, als schießen zu lernen. Ich glaube, wir müssen irgendwelchen Unterricht und Predigten einführen, wo den Menschen beigebracht wird, nicht zu töten, nicht zu schießen, nicht umzubringen. Und dies wäre dann eine Welt, die uns gefiele.«

Soweit das Zitat aus dem Hörspiel von 1988. Heute geben Wehrmachtsoffiziere wie Schmidt-Schnauze den Ton an, die ihres Führers Krieg bis zum Endkampf führten. Kriege sind zum Durchhalten da. Von den neuen Soldaten aber, die ihre (meine nicht) Freiheit am Hindukusch verteidigen, kehren klugerweise immer mehr mit PTBS zurück. Die Posttraumatische Belastungsstörung ist offenbar eine Form von desertio post factum.

Vorher freilich wäre nützlicher. Allerdings: Krank ist immer noch besser als auf’m Berliner Gefallenen-Ehrenmal verzeichnet. Das wußte der Landser schon früher: Lieber Dachschaden als kalter Arsch.
Gerhard Zwerenz


Mißverstandene Demokratie
Guido Westerwelle hat unter den deutschen Publizisten seine treuen Begleiter. Die Kritik an den Äußerungen des FDP-Vorsitzenden über Hartz IV und spätrömische Dekadenz sei einem »Mißverständnis« zuzuschreiben, dem nämlich, daß »man Gutes tue, wenn man armen Menschen Gutes tut«, schreibt Ralf Schuler (Politikredakteur der  Märkischen Allgemeinen)in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Aus der Geschichte des »Sozialismusprojekts DDR« lasse sich doch lernen, daß »anstrengungsloser Wohlstand« niemanden zur Leistung motiviere. Zum Verzweifeln sei es, »mit welcher Zähigkeit sich in Deutschland das Mißverständnis« halte, nur Umverteilung sei sozial. Und noch ein »Mißverständnis« sichtet Schuler, gar als »größtes Problem der Demokratie«: die Meinung, Volksvertretung sei das Erfüllen von Wünschen.

Ja aber sollen denn Parlamente und Regierungen überhaupt nicht hinhören, wenn von ihnen etwas erwartet wird? Da würden wir Schuler gewiß mißverstehen. Ergänzen wir also seinen Gedankengang und merken uns: Es kommt darauf an, wessen Wünsche zu erfüllen sind.

So kann dann die FDP Gutes tun, ohne den armen Menschen Gutes zu tun. Warum denn gerade denen?
Arno Klönne


Dreht sich Europa?
Auch wenn der zweite Wahlgang noch folgt, ist das ungarische Wahlergebnis eindeutig: ein massiver Ruck nach rechts.

Die bisher regierende Sozialistische Partei, deren Führung eine klar neoliberale Politik machte, verlor mehr als die Hälfte ihrer Wählerschaft, die rechtskonservative Fidesz-Bürgerallianz, bisher in der Opposition, hat mehr als 50 Prozent der Stimmen und vermutlich die absolute Mehrheit im Parlament erlangt. Ihr Führer Viktor Orbán sieht in diesem Wahlsieg den »Beginn einer neuen Ära«, was man wohl als Ankündigung eines autoritären Systems zu verstehen hat.

Noch wichtiger als der Fidesz-Erfolg ist der Aufstieg der neofaschistischen Partei Jobbik, die mit 16,7 Prozent erstmals ins Parlament einrückt. Jobbik mit seiner Straßen-»Garde«, die in der Tradition der alten »Pfeilkreuzler« steht, agiert unverhohlen antisemitisch und antiziganisch. Die Rechtskonservativen stehen damit unter dem Konkurrenzdruck von Faschisten, die nicht mehr randständig sind.

Im Leserforum der deutschen Wochenzeitung Junge Freiheit liest man: »Super! Europa dreht sich, Ungarn ist erst der Anfang.« Ein anderer Leser freut sich, daß nun in Ungarn eine »Sinti&Roma-Reisewelle« ausbrechen werde – man müsse nur darauf achten, daß diese nicht die Bundesrepublik zum Ziel nehme. Europas Rechte hat Grund zum Jubeln.
Peter Söhren


Italienische Erinnerungspolitik
»Aus Liebe blind zu unserem bevorzugten Urlaubsland, haben sich auch die wenigsten Europäer mit diesen Besorgnis erregenden Vorgängen beschäftigt.« Mit dieser Bemerkung meint der Luzerner Historiker und Italienkenner Aram Mattioli nicht die weithin bekannten Erscheinungsformen des Berlusconismus, nämlich den Populismus des italienischen Regierungschefs, seine Medienmacht und die Gängelung der Justiz. Das Thema, das Mattioli als erster in einer systematischen wissenschaftlichen Analyse aufgreift und uns in einer gut lesbaren Sprache darbietet, ist die Erinnerungspolitik des rechten Berlusconi-Bündnisses, die – nach der begründeten Überzeugung des Autors – an den ideellen Grundlagen der Republik rüttelt. Seit ihrem überraschenden Triumph in den Nationalwahlen von 1994 und verstärkt seit den neuerlichen Wahlsiegen 2001 und 2008 kündigte die italienische Rechte Schritt für Schritt den antifaschistischen Gründungskonsens des demokratischen Staates von 1947 auf und schickte sich an, im Namen einer Kultur der »nationalen Versöhnung« den Mussolini-Faschismus zu rehabilitieren.

In jedem anderen Land Europas müßte eine Politikerin wie die italienische Tourismus-Ministerin Michaela Vittoria Brambilla zurücktreten, die im Mai 2009 bei einem Carabinieri-Fest in Lecco öffentlich den Faschistengruß zeigte. Nicht so in Italien. Hier hat sich zwischenzeitlich ein geschöntes Bild der Mussolini-Diktatur breit gemacht. Die Duce-Bewunderung ist heute kein Privileg der Neofaschisten mehr, sondern längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen.

Cavaliere Sivio Berlusconi hat diesen einschneidenden Wandel in der italienischen Erinnerungspolitik nicht selbst von oben her gesteuert. Seine Rolle bestand eher darin, ihn geschehen zu lassen. Seine sicherer Machtinstinkt sagte ihm, daß die unkritische Erinnerung an die »Rosenwasser-Diktatur«, die angeblich auch gute Seiten hatte, den idealen Kitt bot für den inneren Zusammenhalt seiner heterogen zusammengesetzten Rechtskoalition, der bekanntlich auch die Neofaschisten angehören.

In Deutschland sollte man zur Kenntnis nehmen, daß der nationalistische Geschichtsdiskurs in Italien immer stärker die Unterschiede zwischen Mussolinis Faschismus und Hitlers Nationalsozialismus betont. Erst unter dem Einfluß Hitler-Deutschlands, so heißt es, sei der italienische Faschismus aus dem Ruder gelaufen. Dabei wird unterschlagen, daß die faschistische Diktatur Italiens bereits lange vor 1938 »eine Megatötungsmaschine war und Mussolini ein Verbrecher, der den Tod von mindestens einer Million Menschen verschuldete«.

Mattiolo weiß, wovon er spricht, hat er doch 2005 ein viel beachtetes Buch über den Abessinienkrieg Italiens (1935/36) vorgelegt und klar gemacht, daß die italienischen Truppen dort nicht nur einen Angriffs- und Eroberungskrieg führten, sondern auch einen Vernichtungskrieg unter Einsatz von Giftgas. Die Erinnerung an diese Kriegsverbrechen wurden in Italien vielfach verdrängt zugunsten der heroischen Erinnerung an die beiden letzten Jahre des Zweiten Weltkrieges, als Italien die Seiten wechselte und die Resistenza zusammen mit den Alliierten die Befreiung des Landes von den Deutschen – und zugleich von den italienischen Faschisten – erkämpfte. Der daraus entstandene linke Resistenza-Mythos wurde zwar für Jahrzehnte zum zentralen Stützpfeiler der Republik, verhinderte aber, daß die massenhafte Zustimmung der Italiener zum Mussolini-Faschismus angemessen debattiert wurde. Diese Einseitigkeit in der Geschichtsbetrachtung rächt sich jetzt.

Vergleiche mit der Erinnerungskultur in anderen europäischen Ländern lassen Mattioli zu dem Schluß gelangen, daß sich das Italien Berlusconis auf einem Sonderweg befindet. Statt kritischer Aufarbeitung von Diktatur, Gewalt und Holocaust erleben wir dort, nach den Worten des vormaligen Staatspräsidenten Oscar Luigi Scalfaro, einem Christdemokraten, eine »Aufwertung des Faschismus«.
Wolfram Wette

Aram Mattioli: »Viva Mussolini! Die Aufwertung des Faschismus im Italien Berlusconis«, Verlag Ferdinand Schöningh 2010. 201 Seiten, 19.90 €



Kurt und Mary Tucholsky
Immer wenn ich Lesungen über K. T. veranstalte, kommt garantiert im Anschluß die Frage nach Tucholsky und seinen Frauen. Als Antwort darauf werde ich künftig gern auf das Buch von Klaus Bellin hinweisen. Es schildert hauptsächlich die Zeit von der ersten Begegnung mit Mary Gerold 1917 bis zur Trennung von ihr. Nützlich ist das ständige Einblenden von Tagebuchnotizen und Ausschnitten aus Briefen von ihr und von ihm. Schon der Titel »Es war wie Glas zwischen uns« deutet an, wie zerbrechlich diese Zweisamkeit von Anfang bis zum Ende war.

Rückschauend sagte Mary einmal: »Wenn wir getrennt waren, hatten wir Sehnsucht nacheinander. Wenn wir zusammen waren, ging es nicht.«

Aus dem Buch ergibt sich, daß der hoch begabte Tucho ein besonders intensiver Arbeiter und gewiß auch ein Egozentriker war, so daß ein Zusammenleben mit ihm sehr schwierig war und von jeglicher Partnerin viel Verständnis erforderte. Mir gefällt, daß Bellin auch alle anderen wichtigen Frauen an Tuchos Seite ausführlich erwähnt. Denn ich weiß von Mary, daß sie gerade das vermied. Sie, die sich bis zu ihrem Tod 1987 für Tuchos Werk und seine Verbreitung engagierte, duldete keine Göttinnen neben sich.

Im Buch ist die erste, deren Leben und Beziehung zu Tucho behandelt wird, Else Weil, die Claire aus »Rheinsberg«.

1927 lernt er Lisa Matthias kennen. Mary ist noch in Paris, aber sie haben bereits festgestellt, daß ihr Zusammenleben nicht gelingt. Im Kapitel »Geliebtes Lottchen« und »An der Weggabelung« geht Bellin ausführlich auf dieses Verhältnis ein.
Im Kapitel »Neue Freundinnen« berichtet er dann über die beiden letzten Wegbegleiterinnen, Gertrude Meyer in Hindas und Hedwig Müller in Zürich. Sie begleiten K. T. durch die schwersten Jahre seines Lebens, da er selbst sagte, er sei ein »aufgehörter Schriftsteller« – eine für diesen großen Publizisten und Poeten niederschmetternde Erkenntnis.

Das Buch ergänzt die Literatur über Tucholsky durch einen sprachlich und inhaltlich überzeugenden Beitrag.
Brigitte Rothert-Tucholsky

Klaus Bellin: »Es war wie Glas zwischen uns«, verlag für berlin-brandenburg, 165 Seiten, 19.90 €



Vorschlag zum Nachschlagen

Ein Lexikon nennt sich auch Nachschlagewerk. Vieldeutige deutsche Sprache: Ich sehe nach (habe kein Nachsehen dabei), und wenn ich das Buch heftiger traktiere, dann schlage ich halt nach.

Dieses Buch ist eher ein Vorschlagewerk. Es schlägt vor, das Land DDR so zu nehmen, wie es sich selbst darstellte. Was die bildenden Künste betrifft, stellte es ja etwas dar.

Malerei und Grafik, Plastik, Kunsthandwerk, Gebrauchsgrafik, Formgestaltung, Karikatur – in diese Sektionen gliederte sich der Verband Bildender Künstler. Und diesem immerhin jahrzehntelang bewährten Puzzle unterschiedlicher, wenngleich sich überlappender Professionen ist dieses Lexikon verpflichtet. Ein Mammutwerk: Auf 1088 Seiten erfaßt es über 7000 Biografien, teils knapp, teils ausführlich. Jede Person ist zunächst einmal geboren. Ob sie noch lebt und wo – wer weiß? Eine heute nur sehr bedingt vorhandene Öffentlichkeit läßt manchen Künstlertod nicht bekannt werden. Welche Institution könnte ihn registrieren? Damit entsteht in diesem Lexikon schon eine Fehlstelle neben anderen Informationslücken. Die kleine Gruppe der hier tätig gewordenen Zuträger und Verfasser konnte sie nicht schließen. Man kann nur hoffen, der Verlag Neues Leben hält die Tür für Zusätze in einer Nachauflage offen. Ein Lexikon ist gut, wenn es bei nächster Gelegenheit verbessert wird.

Bestehende Künstlerlexika wie »der« Vollmer oder »der« Thieme-Becker halten Biografien als akademische oder sonstwie offiziöse Laufbahnen fest. Sie geben Auskunft über Ausbildungszeiten, Studienreisen, Preise und Auszeichnungen, Ausstellungen, Buchpublikationen und Textverweise. Gemessen am gegenwärtigen Umgang mit Kunst aus der DDR überrascht es geradezu, dieses Prinzip hier wiederzufinden. Ganz prononciert auf den damaligen Staat fixiert. Auf wen sonst?

Oft steht hinter einem Datum das Wörtchen »gegangen«. Bildende Künstler wechselten in die Bundesrepublik meist reibungsloser als andere. Was konnte es alles an Gründen geben, »wegzugehen«. Sie zu präzisieren, würde jedes Lexikon überfordern. Da liegt ein unerforschtes Feld für Historiker, die noch Lust haben, einer objektiven Wahrheit nachzuspüren. Die häufig auftretende Formulierung »bis 1990 dort ansässig« verletzt schmerzlich manchen Lebenslauf, wenn er an selber Stelle weiterging. Wer aber ist jetzt in der Lage, Adressen zu ermitteln, geschweige denn zu überprüfen? Die Schwächen dieses Lexikons sind ein Ergebnis verwirrender und verworrener Lebensverhältnisse von Künstlern heute. Die Zeit wird tatsächlich am Punkt Null, dem Ende der DDR, angehalten.

Im Gegenzug täuscht das Buch eine geradezu heile Welt künstlerischer Erfüllung vor, wenn es reihenweise Triumphe bei Aktivitäten des Staates und der SED, der Parteien und Massenorganisationen aufzählt. Selbst Parteijubiläen werden strapaziert. Wo ein Genosse ist, muß offenbar außer Partei auch Kunst sein. Das hat seinen einfachen Grund darin, daß der Initiator und Hauptverfasser Dietmar Eisold ist. Er war es, der von 1971 bis 1991 als Redakteur der Zeitung Neues Deutschland für die bildende Kunst bienenfleißig die einschlägigen Daten und Fakten zu sammeln und ordnen begann. Da er dazu angehalten war, im zentralen Parteiorgan die offizielle Linie zu vertreten und zu verbreiten, hatte seine Faktensammlung zunächst diesen Trend.

Um so höher ist zu bewerten, daß sich nun in vielen Einträgen eine neue Sicht durchsetzt, zum Beispiel auf Wasja Götze und Max Uhlig. Auffällig ist aber auch, daß Künstler, die sich politisch ganz zurückhielten oder immer alternativ wirkten, durchaus bei den regelmäßig stattfindenden Parteitagswettbewerben für Plakat, Grafik und Karikatur Preise und Anerkennungen erhielten oder bei den Wettbewerben der »Hundert Grafiken« des Staatlichen Kunsthandels die gültige Richtung mitzubestimmen vermochten.

Der Verband zerfiel im April 1990 rettungslos in alle regionalen und funktionalen Bestandteile. Horst Kolodziej, der langjährige Leiter des Sekretariats des VBK, wurde danach Mitbegründer der Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde. Er vertrat bis zu seinem Tod 2008 eine selbstkritisch wertende, wirkliche Leistungen würdigende Haltung, veranstaltete im Galerieraum der GBM so manche profunde Ausstellung von hier lexikalisch Erfaßten und brachte auch dieses Projekt auf den Weg. Rudolf Grüttner gestaltete den Umschlag des dicken Wälzers. Die dabei von ihm zusammengestellten 15 Bildbeispiele sind mustergültig zu nennen.
Harald Kretzschmar

Dietmar Eisold: »Lexikon Künstler in der DDR«, Verlag Neues Leben, 1088 Seiten, 32 €


Press-Kohl
In Hans Kriegers »Reklame für einen Unbekannten« (Ossietzky 7/10), die sich mit einem Sachverhalt beschäftigt, den es eigentlich gar nicht geben kann, wird festgestellt:
»Eigentlich kann es das gar nicht geben, und wer es nicht selbst erlebt hat, kann es kaum glauben. Denn in unserer Zeit der medialen Vernetzung, so meint man, bleibt ein Talent, gar ein überragendes, nicht unentdeckt,« meint man, nämlich Hans Krieger.

In unserer Zeit, und zwar vor ihrer zunehmenden medialen Vernetzung, traf ich zufällig ein Talent, ein fast überragendes Talent im Weitspucken von Kirschkernen, das unserem leider verstorbenen Freund Günter P. gehörte und bis heute weithin unentdeckt blieb. So was gibt es also auch.

Krieger fragt weiter: »Kann es also sein, daß in ... einer oberbayerischen Provinzstadt ein über 70jähriger Pianist, von dem die Musikwelt bisher kaum Notiz genommen hat, sich an den Steinway setzt ...« Warum denn nicht? Der Mensch könnte sich an einen Steinway setzen oder an einen Blüthner oder Bechstein. Aber Krieger fragt überdies: »sich setzt und mit so überwältigender Klangphantasie und Geisteshelle Mozart spielt, daß man zum ersten Male Mozart in seiner ganzen Fülle zu erkennen glaubt – allen Erinnerungen an Clara Haskil, Friedrich Gulda oder Alfred Brendel zum Trotz?«

Wir erfahren, wie es scheint, Un-glaubliches. »Das Unwahrscheinliche geschah in Freising. Vor gerade mal gut 40 Zuhörern erfüllte Wolfgang Leibnitz den chromatischen Tiefsinn des a-Moll-Rondos KV 511, das polyphone Raffinement der D-Dur-Sonate KV 576, die harmonischen Abgründe des h-Moll-Adagios KV 540 mit einer wahrhaft atemberaubenden Spannung, als hörte man die wohlvertrauten Stücke zum ersten Mal: jeder Ton, selbst noch bei den Verzierungen, ein aufregendes Klangereignis ...« Na, na. »Leibnitz, 1936 in Meerane geboren, ging früh in den Westen und wurde Meisterschüler von Claudio Arrau.« Auf den CD-Einspielungen des Meisters Leibnitz »kann man sich überzeugen, daß Schubert ... bei Leibnitz mindestens so bewegend und tiefgründig klingt wie bei Brendel oder Svjatoslav Richter, Chopin nicht ganz so charmierend elegant wie bei Rubinstein ...«

Von feinen Redensarten ermüdet, werde ich hoffentlich nicht ganz so charmierend elegant schnarchen wie bei Rubinstein.
Felix Mantel