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Eine Gedenkstätte im Stillstand  (Helmut Kramer)

Ein zweistöckiger Solitärbau, überragt von einem Uhrentürmchen mit Läuteglocke: die ehemalige Hinrichtungsstätte mitten in der Justizvollzugsanstalt in der Altstadt von Wolfenbüttel. Dort starben in der NS-Zeit über 650 Menschen unter dem Fallbeil oder am Galgen: ausländische Widerstandskämpfer, Wehrmachtsdeserteure und »Wehrkraftzersetzer«, verschleppte Zwangsarbeiter, Sinti und Roma und »Volksschädlinge«.

Bemerkenswert ist bereits die Geschichte des Gebäudes. Im März 1937 befahl das Reichsjustizministerium die Errichtung der Hinrichtungsstätte. Damit sollte ersichtlich dem für den Kriegsfall eingeplanten »vermehrten Hinrichtungsbedarf« Rechnung getragen werden.

Das bundesweit einzigartige Gebäude und die in zusätzlichen Räumen zur Erinnerung an die Opfer und Täter der NS-Justiz eingerichtete Gedenkstätte zur NS-Justiz gäbe es nicht, wenn es nach dem Willen geschichtsvergessener Politiker gegangen wäre. Anfang der 1980er Jahre entschloß sich der niedersächsische Justizminister, sich von der lästigen Vergangenheit zu befreien und das historische Gebäude abzureißen. Trotz Protesten der damals an solchen Dingen noch interessierten SPD bekräftigte er den Entschluß sogar im niedersächsischen Landtag. Doch in letzter Minute gelang es einer Initiative entschlossener Bürger, durch Mobilisierung der Angehörigen und Kameraden der in Wolfenbüttel umgebrachten Opfer des berüchtigten hitlerschen »Nacht und Nebel«-Befehls, den Abriß zu verhindern und die Forderung nach einer Gedenkstätte durchzusetzen. Bemerkenswerterweise findet sich in der Gedenkstätte zu dieser interessanten Vorgeschichte kein Wort.

Einige Jahre lang wurde in dem Hinrichtungsgebäude eine kleine, eher provisorische Ausstellung gezeigt. Mit Hilfe einer kleinen Arbeitsgruppe altruistischer Rechtshistoriker und Justizforscher entstand dann in zusätzlichen Räumen eine professionell erarbeitete Ausstellung, die 1999 eröffnet wurde. Nach Erarbeitung auch einer Wanderausstellung (2002) erlahmten das Interesse und der Arbeitseifer des Gedenkstättenleiters Wilfried Knauer. Trotz Zuarbeit durch die Arbeitsgruppe stellte er fast alle Aktivitäten ein. Auch die alljährlichen Tagungen für Richter und die Seminare für Referendare und Pädagogen ließ er einschlafen. Obwohl ihm weitere hauptamtliche Mitarbeiter sowie Honorarkräfte zur Seite gestellt worden sind, beschränkt er sich seit vielen Jahren auf routinemäßige Führungen von Schüler- und anderen Gruppen durch die Gedenkstätte, eine Aufgabe, die er auch gut bewältigt.

Ähnlich aufgebaut wie alle modernen Gedenkstätten berichtet die neue Ausstellung zur ersten Einführung und für eilige Besucher in großen Schautafeln über die Grundzüge de NS-Justiz, mit leicht lesbaren kurzen Texten und Fotos. Für besonders interessierte Bürger und zur Vertiefung auch für Schüler waren Aktenordner vorgesehen, insbesondere mit Biographien der Opfer und der Täter. Es war die Aufgabe des Gedenkstättenleiters, mit Hilfe der fortbestehenden Arbeitsgruppe diese Biographien auf der Grundlage der vorhandenen Personalakten und Archivalien zu erarbeiten. Nach Anfertigung von 15 Opferbiographien und vier schmalen Täterbiographien stellte er diese Arbeit im Jahre 2002 endgültig ein. So blieb die Hälfte der zum Gedenken an die Opfer vorgesehenen 30 Schuber leer. Vor allem mangelt es aber an Biographien über die juristischen Schreibtischtäter, ihre in der Bundesrepublik fortgesetzten Karrieren und ihre perfide Arbeitsweise, mit der sie unter Einsatz ihrer reichhaltigen juristischen Methodik das Unrecht verrechtlichten und vor dem Terror eine Legalitätsfassade errichteten. Man erfährt auch so gut wie nichts darüber, auf welche Weise die Schreibtischmörder von Strafe verschont blieben.

Über den Mißbrauch des juristischen Rechtsanwendungsinstrumentariums und die Mentalität jener Juristen zu berichten ist allerdings schwieriger als eine Darstellung der Schicksale und des Leids der Opfer. Eine zweite Wanderausstellung mit Schwerpunkt auf den Tätern ist leider eingemottet. Zur Beratung, Hilfe, notfalls auch Kritik und Kontrolle wurde eine sogenannte Kleine Kommission eingerichtet. Trotz dringlicher Aufforderungen beruft Knauer sie nicht mehr ein.

Wesentlicher Bestandteil des Wolfenbütteler Ausstellungskonzepts war der sogenannte Täterturm, ein auch künstlerisch anspruchsvoll gestaltetes Aktengestell, das die Täterbiographien aufnehmen und die Blicke auf sie lenken sollte. Ausstellungsbesucher stellten lästige Fragen nach dem Zweck dieser mit nur vier schmalen Akten bestückten Etalage. Knauer ließ dann den »Täterturm« auf den Dachboden der Justizvollzugsanstalt schaffen, ein geradezu symbolischer Akt, mit dem er sein Desinteresse an den Tätern bekundete. Davon informierte er weder den damaligen Geschäftsführer der Stiftung niedersächsischer Gedenkstätten noch die Kleine Kommission.

Unter den vielen markanten Opferschicksalen und lehrreichen Täterkarrieren, die in eigenen Ordnern hätten dokumentiert werden sollen, verwundert das Fehlen von zwei Fällen ganz besonders: Moritz Klein wurde am 10. September 1942 in Wolfenbüttel hingerichtet. Er war der letzte Jude in Helmstedt, das nach dem Willen fanatischer Nationalsozialisten und angepaßter Richter »judenfrei« werden sollte. Und so wurde Moritz Klein trotz zweifelhafter Beweislage wegen eines angeblichen Sittlichkeitsvergehens zu der nicht einmal nach NS-Strafrecht zulässigen Todesstrafe verurteilt. Beispielhaft sind auch die von einer widerlichen Pressehetze begleitete unverhohlene antisemitische Urteilsbegründung und die skandalöse Art und Weise, in der die Schreibtischmörder des Moritz Klein nach 1945 von Strafe verschont blieben. Seltsamerweise präsentiert die Ausstellung überhaupt kein jüdisches Opfer, das in Wolfenbüttel hingerichtet wurde.

Ein Täter, mit dem sich die Ausstellung unbedingt befassen sollte, ist Werner Hülle – nicht nur wegen des hohen Ranges, den dieser Jurist sowohl vor als auch nach 1945 eingenommen hat. In der Nazi-Wehrmachtsjustiz war er ein Mann der ersten Stunde. Schon 1935 lobte er in seinem Kommentar zur Militärgerichtsordnung die »nationalsozialistische Revolution«: »Sie gab der Wehrmacht binnen kurzem das zurück, was blinder Haß und Unverstand ihr geraubt hat.« Mit dem Zitat »Der Führer ist des Deutschen Volkes Oberster Gerichtsherr« berief er sich ausdrücklich auf die berüchtigte Rede Adolf Hitlers nach dem 30. Juni 1934 mit dessen Anmaßung, sich ohne Bindung an Gesetz und unabhängigen Richterspruch zum Herren über Leben und Tod aufschwingen zu dürfen. In seinen zahlreichen Aufsätzen in der Zeitschrift für Wehrstrafrecht forderte Hülle eine einheitliche geistige Ausrichtung aller Militärjuristen auf eine »Rechtsfindung (...), geboren aus einer geheimnisumwobenen Schau unserer Seele«. Dem mit solcher Art von Sprachvirtuosität Begnadeten eröffneten sich unter dem NS-Regime große Aufstiegschancen. Hülle avancierte im Reichskriegsministerium, später Oberkommando der Wehrmacht, zum Leiter der wichtigsten Abteilung, der Gesetzgebungsabteilung. Damit war er maßgeblich an Hunderten von militärischen Unrechtsgesetzen, Verordnungen und Erlassen beteiligt. Nach dem von ihm mitformulierten Barbarossa-Kriegsgerichtsbarkeitserlaß wurden große Teile der sowjetischen Zivilbevölkerung, auch Juden, Zigeuner und psychisch Behinderte, zu ungeschützten Opfern des einkalkulierten Massenmordes. Hülle war auch Organisator des berüchtigten »Nacht und Nebel«-Erlasses. Auf dieser Grundlage ließ die deutsche Besatzung Widerstandskämpfer in Frankreich, Belgien und anderen Ländern spurlos verschwinden. Ihre Namen wurden getilgt und durch Nummern ersetzt. Heimlich nach Deutschland verschleppt, wurden die gefangenen Widerstandskämpfer von Sondergerichten und vom Volksgerichtshof abgeurteilt. In Wolfenbüttel wurden 64 von ihnen hingerichtet, andere starben in der Haft. Für Angehörige der »Nacht und Nebel«-Opfer und nicht nur für sie ist es unverständlich, warum der Name Werner Hülle in Wolfenbüttel nicht vorkommt und warum der Gedenkstättenleiter ihn in eine inzwischen nur noch selten gezeigte Wanderausstellung verbannt hat. Spannend ist auch die Nachkriegsgeschichte Werner Hülles. Ein Strafverfahren wurde klammheimlich eingestellt. In Fortsetzung seiner steilen Karriere brachte er es schon im Jahre 1950 zum Richter am Bundesgerichtshof, 1955 zum Präsidenten des Oberlandesgerichts Oldenburg. Entgegen einer verbreiteten Vorstellung, nach der die Juristen jener Jahre aus ideologischer Verblendung gehandelt haben sollen, war Werner Hülle kein überzeugter Nationalsozialist. Er war ein Karrierist und Formalist, für die sozialen und politischen Zusammenhänge des Rechts interessierte er sich nicht. Aus dem Mangel an anschaulichem und exemplarischem Dokumentationsmaterial läßt sich die Ausblendung des Falls Werner Hülle nicht erklären. Auf die zunehmende Kritik an dem Fehlen gerade der wichtigsten Opfer- und Täterbiographien haben der Gedenkstättenleiter und sein Vorgesetzter in Celle, der Geschäftsführer der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten Habbo Knoch, zwei Jahre lang mit Schweigen reagiert und, bei einer angeblichen »Priorität der Opfer«, schließlich eine Beschäftigung mit den Tätern als nachrangig eingestuft.

Neuerdings suchen beide die Kritik an diesen und anderen Tätigkeitsdefiziten mit der Behauptung als gegenstandslos erscheinen zu lassen, die Ausstellung sei zu »textlastig« und müsse neu konzeptioniert werden.