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Titel0812

Das Zins-Dilemma  (Wolfgang Schreyer)

Ende 1952 erschien, skizziert schon in der Kriegsgefangenschaft, mein erstes Buch; als damals einziger Krimi in der DDR gut verkauft. Hocherfreut vom Honorar, las ich bei Arthur Schopenhauer, es sei normal, das Geld zu lieben. Sei es doch stets bereit, sich in das aktuelle Ziel unserer wechselnden Wünsche zu verwandeln: »Jedes andere Gut nämlich kann nur einem Wunsch genügen: Speisen sind bloß gut für den Hungrigen, Wein für den Gesunden, Arznei für den Kranken, ein Pelz für den Winter, Weiber für die Jugend ...« Geld allein sei das absolut Gute.

Wein und Pelz fehlten mir nicht, auch ein Weib war schon da. Eher brauchte ich Muße fürs weitere Schreiben und folgte dem Frankfurter Großdenker, der in seinen Aphorismen zur Lebensweisheit mahnt: »Leute, die von Hause aus kein Vermögen haben, aber endlich in die Lage kommen, durch ihre Talente, welcher Art sie auch seien, viel zu verdienen, gerathen fast immer in die Einbildung, ihr Talent sei das bleibende Kapital und der Gewinn dadurch die Zinsen. Demgemäß legen sie dann nicht das Erworbene theilweise zurück, um so bleibendes Kapital zu bilden, sondern geben es aus ...« Stocke dann aber der Erwerb, etwa wenn das Talent sich erschöpfe, weil es vergänglicher Art sei »wie in fast allen schönen Künsten«, sei es mit solchen Leuten aus.

So gewarnt, trug ich mein Geld zur Bank, die in der DDR auf langfristige Einlagen anfangs fünf Prozent Zinsen zahlte. Zwar sank der Satz bald auf 3,25 Prozent – pauschal für jegliches Spargeld. Doch dank zwei Dutzend Büchern hatte sich um 1980 bei mir ein Guthaben gebildet, das monatlich rund 1.600 Mark Zinsen brachte; steuerfrei nach den Regeln des Staates, dem an Kaufzurückhaltung lag, weil er (zur Ulbricht-Zeit) reichlich ein Fünftel des Sozialprodukts akkumulierte, also immer wieder in die Wirtschaft steckte.

Die Zinsen sah ich als Bonus an, als Prämie für Konsumverzicht. Ein rühriger Autor stand oft besser da als ein Minister in der DDR; nur Schlagerstars oder Autoschieber hatten Aussicht auf mehr. Aber 1.600 Mark, ein dreifacher Durchschnittslohn, und zwar leistungslos – im egalitären Umfeld drückte das aufs Gemüt. Es wurde mir zuletzt so peinlich, daß ich ein Drittel des Spargelds an meine mutmaßlichen Erben verteilte. Dennoch fiel es mir nie ein, am Sinn und Wert des Zinswesens zu zweifeln. Über die Einsicht, schrumpfende Wachstumserwartung habe den Zinssatz nach 1960 von fünf Prozent auf 3,25 Prozent sinken lassen, kam ich nicht hinaus.

Erst die Ankunft im Alltag des Kapitalismus half mir weiter. Beflügelt durch Kredite, hatte mein Schwiegersohn mit einem Dutzend teurer, verschleißfreudiger Lastkraftwagen ein Fuhrgeschäft eröffnet. Die Bank nahm ihm einen weit höheren Zins ab als jenen, den sie mir gewährte. Wie üblich hatte er ihr seinen Grundbesitz als Sicherheit verpfändet und ächzte bald auch unter den Tilgungsraten. »Man arbeitet nur für die Banken«, hörte ich ihn seufzen.

Nun zeigte sich mir die Kehrseite der blanken Medaille. Nicht mein Spargeld war es, was da arbeitete, sondern halt Menschen; darunter konkursbedrohte Jungunternehmer und ihre hart schuftenden Mitarbeiter. Die Zinsen – sind sie also zugleich das Zuckerbrot und die Peitsche der Marktwirtschaft? Zuckerbrot aber, das ging mir als nächstes auf, nur für die wirklich Reichen; der riesige Rest zahlt drauf. Denn die Zinslast verteuert ja alles, nicht bloß die Frachtkosten eines Spediteurs, der seinen Fuhrpark abbezahlt. Selbst das Eigenkapital einer Firma muß den Marktzins bringen, anders lohnt es nicht.

Und natürlich steigt der Zinsanteil im Preis mit dem Kapitaleinsatz. Personalintensive Produktionen oder Leistungen wie etwa die Müllabfuhr verteuern sich durch die Kapitalverzinsung vielleicht nur um etwa 15 Prozent, beim Trinkwasser sind es schon 38 Prozent, und im geldintensiven Wohnungsbau entstehen, einzig dem Zins geschuldet, Mehrkosten von 77 Prozent – weshalb man auch von »Mietzins« spricht. Das fand Margrit Kennedy bereits um 1990 für ihren Bestseller »Geld ohne Zinsen und Inflation« (München 2006) heraus. Und weil mindestens jeder dritte ausgegebene Euro ein Zinstribut ist, lohnt sich das ganze Zinswesen in Wahrheit bloß für die reichsten zehn Prozent der Geldbesitzer.

Nur deren persönliche Zinserträge übersteigen stets die Zinsbelastung ihrer Ausgaben, im Durchschnitt um 54 Prozent. Alle übrigen zahlen drauf. Was laufend zur Umschichtung führt. Die Einkommen der grundsätzlich von ihrer Arbeit lebenden Mehrheit wandern zur vorwiegend von Geldbesitz lebenden Minderheit. Wir können folglich gar nicht anders, als dabei mitzutun, daß die vielzitierte Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinandergeht. An der Spitze der Geldpyramide wird das überdeutlich. Werden doch bei einer auch nur fünfprozentigen Verzinsung ihres Kapitals die 31 aktuellen Milliardärsfamilien in unserem Land täglich um 585.000 Euro reicher. Nicht etwa gemeinsam, sondern jeder Clan für sich.

Und das ist leider noch nicht alles, was gegen die geltenden Spielregeln spricht. Hinzu kommt die Tücke des Überwachstums der Geldansprüche, also der Kredite, gegenüber der Realwirtschaft – die hält nie damit Schritt. So nahm Deutschlands Bruttosozialprodukt, ehe es 2008 einbrach, von 1992 an zwar stetig zu; in den 16 Jahren preisbereinigt um schöne 23 Prozent. Die Geldmenge freilich, in bar oder flüssig auf Girokonten, wuchs achtmal schneller, um satte 189 Prozent. Schockzahlen, nachlesbar in Professor Joseph Hubers Buch »Monetäre Modernisierung« (Marburg 2011). Einer der Kernfehler der Finanzordnung, die Huber aufdeckt, ist das Zinswesen.

Dessen Grundübel ist der Zinseszins: das krebsartige Wachstum eines Vermögens, das permanent neu angelegt wird. Da werfen etwa 10.000 Euro, verliehen zu sechs Prozent, jährlich bloß 600 Euro ab; in 50 Jahren immerhin 30.000, falls man die Zinsen verzehrt. Werden die aber reinvestiert, läßt also jemand sein Geld so profitabel weiterarbeiten, türmt sich am Ende ein Berg von 144.200 Euro auf! Welche Wirtschaft käme da noch mit? Die echte Wertschöpfung wächst, wenn überhaupt, nur linear, niemals exponentiell.

Staunend las ich im Werk eines weiteren Fachmanns (Bernd Senf: »Der Nebel um das Geld«, Kiel 2009) das Beispiel vom »Josephs-Pfennig«; eine Horrorstory. Hätte nämlich der biblische Joseph zu Christi Geburt nur einen einzigen Pfennig zu fünf Prozent Zinsen angelegt, und wäre das Geld bis 1990 gültig geblieben, so würde daraus ein Anspruch entstanden sein, der dem Wert von 134 Milliarden Goldkugeln entspricht, jede vom Gewicht unserer Erde. Wie absurd! Da liegt ein Scheitern des Spiels auf der Hand, wurzelnd im System. Und wirklich, es kollabiert ja auch regelrecht nach Großkrisen oder Kriegen immer wieder und muß dann per Währungsschnitt neu gestartet werden. Die einzige Chance, das Spiel zu stoppen, liegt in dem Versuch, die Regeln zu ändern und den irren Wildwuchs des Geldes durch Zins plus Zinseszins zu beenden.

So sieht das auch Edgar Most, leitender Banker sowohl in der DDR wie später bei der Deutschen Bank. In seinem Buch »Fünfzig Jahre im Auftrag des Kapitals – gibt es einen dritten Weg?« (Berlin 2009) hält er fest, daß die Hälfte der Menschheit – 3,5 Milliarden – von weniger als zwei Euro pro Tag lebt; deshalb sterben dort jährlich fast elf Millionen Kinder unter fünf Jahren. Diese furchtbare Armut »muß durch ein neues Weltfinanzsystem besiegt werden. Das bedeutet, die Zinsen für Entwicklungshilfen müssen gegen Null tendieren und alle Zinseszinserscheinungen abgeschafft werden. Der Zins ist zugleich Schmiermittel und Krebsgeschwür für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung.«

Doch außerdem auch ein Tabu, geschützt von den Profiteuren, zu denen ich selber einst zu zählen glaubte. Bewahrt durch die Macht der Gewohnheit. Man folgt halt den Sachzwängen und blendet die Problematik aus. Die ist ins Unbewußte verdrängt worden. Der Islam und das Christentum haben das Zinswesen kritisch hinterfragt. Für uns heute jedoch wirkt ein gesellschaftliches Denkverbot, gespeist auch durch innere Hemmung; man will doch kein Spinner sein.

Ja, da scheint mehr am Werk als die pure Macht der Banken, die so gut mit dem Stand der Dinge leben. Etwa indem sie, wie Bernd Senf warnt, »für aus dem Nichts geschaffene Kredite« ihren Schuldnern Zins nebst Tilgung abfordern – Kunden also, »denen in letzter Konsequenz die Enteignung droht, wenn sie unter der Schuldenlast zusammenbrechen ... Durch diese antreibende Rolle wirken Eigentum, Zins und Geld als Quellen der Wertschöpfung, weil sie allgemein anerkannte und rechtlich verankerte Mittel sind, um sich auch ohne eigene Leistung Teile des Sozialprodukts abzuzweigen, sie zu konsumieren und/oder als Vermögen anzuhäufen.«

Werte abzuschöpfen, die andere geschaffen haben, mit aus dem Nichts geschöpften (das heißt weitgehend ungedeckten) Bankkrediten, das sei »der Zaubertrick des Geldes, doch er ist keine echte Magie, sondern eben nur ein Trick, den das Publikum in der Manege der Gesellschaft Jahrhunderte lang nicht durchschaut hat – weil es immer wieder durch relativ Nebensächliches von der Hauptsache abgelenkt wurde und wird, nach guter alter Zauberer-Tradition«.

Am Schluß seines Buches erinnert der Banker Most uns an Horst Köhler, der zwar die Finanzmärkte »Monster« genannt, doch in seiner Zeit beim Internationalen Währungsfonds nichts dazu getan hat, das bizarre Geldmengenwachstum zu bremsen. Von 1970 bis 2005, also noch vor der heutigen Großkrise, sei die Gesamtsumme der Verschuldung auf dem Weltfinanzmarkt um das Dreißigfache gestiegen, das Geldvolumen aus Aktien gar um das Vierzigfache, während das Realprodukt sich bloß dreizehnfach vermehrte: »Wo soll das hinführen, wenn weltweit das Einkommen aus Finanzblasen schneller steigt als das aus realwirtschaftlicher Arbeit?« Diese närrisch rapide Geldvermehrung hat uns mit all den phantastischen Rettungsschirmen jetzt eine Systemkrise beschert; es droht die Jahrhundertgefahr – der Absturz in den Crash ... Für den auch von Josef Ackermann geschätzten Most ist »unsere Gesellschaft ebenso krank wie ihr Bankensystem. Es gibt viele Ansätze, es wieder gesunden zu lassen. Dazu jedoch müssen wir neue Wege beschreiten.«

Margrit Kennedy: »Geld ohne Zinsen und Inflation«, Goldmann Verlag, 7,95 €; Joseph Huber: »Monetäre Modernisierung«, Metropolis Verlag, 22,80 €; Bernd Senf: »Der Nebel um das Geld«, Gauke Verlag, 22 €; Edgar Most: »Fünfzig Jahre im Auftrag des Kapitals – gibt es einen dritten Weg?«, Das Neue Berlin, 9,95 €