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Sozialabbau 2012, Folge 4  (Franziska Walt und Tilo Gräser)

11. März: Für einen gebrauchten Holzschreibtisch, an dem ihre mittlerweile neunjährige Tochter Johanna ihre Hausaufgaben machen kann, hat Christina Menzler aus Berlin-Schöneberg vier Jahre gekämpft, schreibt die B.Z. Die »Hartz IV«-Bezieherin beantragte bei Johannas Einschulung vom Jobcenter einen Schreibtisch. Der Antrag wurde abgelehnt. »Ich hätte es nicht beantragt, wenn ich nicht bedürftig wäre. ›Hartz IV‹ reicht für einen Schreibtisch nicht aus«, zitiert die Zeitung Menzler. Rund 40 Briefe wurden zwischen Menzlers Anwalt und dem Jobcenter ausgetauscht, mit negativem Ergebnis. Zwischenzeitlich lieh sich die Frau Geld, um ihrer Tochter einen gebrauchten Tisch zu kaufen. Erst ein Urteil des Sozialgerichts zwang das Jobcenter nach vier Jahren, der Klägerin das Geld für einen Second-Hand-Tisch zu überweisen. Der Tisch hat 70 Euro gekostet.

15. März: Linda und Bernd Ranzinger aus der Nähe von München haben nur noch einen Holzvorrat für zwei Tage, um ihre Wohnung einigermaßen warm zu halten, schreibt die Frankenpost online. Eigentlich hätte das Holz bis April reichen sollen. Doch wegen der kalten Phase Anfang des Jahres, in der die Ranzingers an gewissen Tagen bis zu -30°C vor ihrem Haus gemessen hätten, wird das Holz in den ersten Märztagen knapp. Die beiden gesundheitlich stark angeschlagenen »Hartz IV«-Empfänger hätten das Jobcenter mehrmals auf ihre Situation aufmerksam gemacht, schreibt die Zeitung. Dann hätten sie endlich grünes Licht für zusätzliches Holz erhalten. Die Freude währte aber nicht lange. Die Arbeitsagentur genehmigte zwar dreieinhalb Ster (Kubikmeter), wollte aber pro Ster nicht mehr als 40 Euro bezahlen. Der Holzlieferant des Ehepaares verlangt aber 44 Euro pro Ster, und dies erst ab einer Lieferung von 20 Ster und mehr. Zum Zeitpunkt des Erscheinens des Artikels in der Frankenpost online wußten die Ranzingers nicht, woher ihr Holz kommen soll.

23. März: Per Rundschreiben wurden in Berlin die Jobcenter durch Sozialsenator Mario Czaja (CDU) informiert, daß ab sofort »Hartz IV«-Empfänger bei der Erstausstattung einer Wohnung vom Amt keinen Fernseher mehr bewilligt bekämen, schreibt der Berliner Kurier. »Fernsehgeräte können im Rahmen der Erstausstattung nicht gewährt werden, da es sich weder um Einrichtungsgegenstände noch um Haushaltsgeräte handelt, die für eine geordnete Lebensführung erforderlich sind. Stattdessen dienen sie allein der Befriedigung des Unterhaltungs- und Informationsbedürfnisses und sind damit aus den Regelsätzen zu decken«, zitiert das Blatt aus dem Rundschreiben. Bisher seien für die Betroffenen jeweils 100 Euro für ein gebrauchtes Fernsehgerät bewilligt worden. Jetzt sollen die armen Menschen aus ihrem monatlichen Regelsatz von 374 Euro jeweils 2,58 Euro für ein Gerät zurücklegen.

24. März: Ein Herzkranker aus Oberhausen mußte sich Mitte März einer Operation in einer Fachklinik in der Nachbarstadt Essen unterziehen. Bei diesem Eingriff starb der 55jährige, schreibt Der Westen, das Onlineportal der WAZ. Die langjährige Lebensgefährtin, hatte – wegen des fehlenden Trauscheins und weil sie als »Hartz IV«-Empfängerin keine finanziellen Ressourcen hat – kein Recht zu bestimmen, wo der Verstorbene bestattet werden soll.

27. März: Bildung bleibt eine Frage des sozialen Status. Das zeigt eine Studie von deutschen und Schweizer Bildungsforschern für die Vodafone-Stiftung, über die der Tagesspiegel berichtet. Kinder aus sogenannten bildungsfernen Familien haben es danach in ihrer Schullaufbahn doppelt schwer: Lehrer geben ihnen häufig schlechtere Noten als Schülern höherer Schichten. Schüler niedriger sozialer Herkunft werden in 29,8 Prozent der Fälle trotz gleicher Leistung schlechter bewertet als ihre Mitschüler aus höheren Schichten. Benachteiligt würden sie aber auch dadurch, daß sich ihre Eltern häufiger gegen eine weiterführende Schullaufbahn ihres Nachwuchses entscheiden.

28. März: »Ich bin seit zehn Monaten wohnungslos, übernachte abwechselnd bei meinen Kindern oder Freunden«, zitiert die Westdeutsche Zeitung online die 48jährige Andrea K. aus Langenfeld. »60 Mal habe ich um eine Wohnung nachgefragt, das Wohnungsamt, die Arbeitsagentur und die Wohnungslosenhilfe des Sozialdienstes katholischer Frauen aufgesucht. Für 277 Euro, die ich als ›Hartz IV‹-Zuschuß für eine Wohnung erhalte, kriege ich keine.« Beim Sozialpolitischen Stammtisch der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmergemeinschaft (CDA), bei dem Andrea K. sprach, äußerte sich auch Rainer Sartorius, Sachbereichsleiter der Wohnungslosenhilfe des Sozialdienstes für katholische Frauen: »Die Stadt hat 340 Wohnberechtigungsscheine für den sozialen Wohnungsbau ausgestellt, den es seit Jahren gar nicht mehr gibt. Die Nachfrage kann nicht befriedigt werden. Vermieter nehmen keine Arbeitslosen oder Bewerber mit Schufa-Eintrag.«

– Laut Bundesarbeitsministerium erwerben Minijobber nach einem Jahr Anspruch auf eine monatliche Rente von 3,11 Euro. Nach 45 Versicherungsjahren beträgt der Anspruch auf Grundlage der heutigen Werte 139,95 Euro, schreibt die Süddeutsche online. In Deutschland haben 7,4 Millionen Menschen eine Stelle auf 400-Euro-Basis, für die sie keine Steuern und Sozialabgaben zahlen. Davon waren Mitte 2011 knapp 4,65 Millionen Frauen. Gut zwei Drittel von ihnen haben ausschließlich diesen Minijob. Vielen Minijobbern drohe deshalb Altersarmut. Das muß nicht sein, behauptet das Institut der deutschen Wirtschaft in Köln: Die große Mehrheit der betroffenen Frauen lebe ja in Paarhaushalten und profitiere im Alter von den Alterseinkünften ihrer Partner. Nur 19 Prozent der geringfügig beschäftigten Frauen sei alleinstehend oder alleinerziehend.

29. März: Die Einkommensungleichheit in Deutschland hat seit der Jahrtausendwende signifikant zugenommen, stellt das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) fest. Die Spanne zwischen Arm und Reich öffne sich überdurchschnittlich schnell. »Immer mehr junge Erwachsene arbeiten im Niedriglohnsektor, nicht einmal jeder Zweite schafft innerhalb von fünf Jahren den Aufstieg auf ein höheres Einkommensniveau.« Die Einkommensungleichheit würde durch eine radikale Vereinfachung des deutschen Steuersystems, wie sie Paul Kirchhof vorschlägt, verschärft werden, warnt das DIW. Die bestverdienenden zehn Prozent würden begünstigt, die Menschen mit mittleren Einkommen belastet.

31. März: Das Bildungspaket beginne schon mit einem Webfehler und zementiere Bildungsunterschiede zwischen Kindern aus »Hartz IV«-Familien und solchen aus finanziell besser gestellten Schichten. Denn beim Bildungspaket werde eine Nachhilfe nur bei Versetzungsgefährdung bezahlt, schreibt die Hannoversche Zeitung. Dabei würden auch besser gestellte Familien häufig auf Extra-Unterrichtsstunden für ihre Sprößlinge zurückgreifen, um sie für eine Gymnasialempfehlung fit zu machen. Obendrein habe sich herausgestellt, daß die bürokratischen Hürden ausgerechnet bei den Anträgen für die Lernförderung am größten seien. Der hehre politische Anspruch, Kinder armer Eltern endlich genauso an den Aufstiegschancen teilhaben zu lassen, werde damit zur Farce.

3. April: Eine Vorschrift im Sozialgesetzbuch diskriminiert nach Ansicht des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe pflegebedürftige Menschen mit Behinderungen, die in Behindertenheimen leben, berichtet das Onlineportal Westfalen heute. Danach variiert die finanzielle Unterstützung von Pflegebedürftigen je nach Art der Einrichtung, in der sie wohnen. So zahle die Pflegekasse für Personen, die in einem Behindertenheim leben, höchstens 256 Euro im Monat, während sie in einem Pflegeheim bis zu 1.900 Euro bekämen. Für die Differenz kommen die Kommunen oder ihre Kommunalverbände über die Sozialhilfe auf.

– Das deutsche Pflegesystem ist im EU-Vergleich öffentlich unterfinanziert, stellt das DIW in seinem Wochenbericht fest. In der Bundesrepublik ist das Risiko Pflege bewußt als Teilleistungsversicherung abgesichert. Die Folge: Hierzulande können lediglich Personen mit erheblichem Pflegebedarf Leistungen aus der Pflegeversicherung beziehen. Und selbst dann sind häufig noch hohe private Zuzahlungen nötig. Bei stationären Pflegeleistungen beispielsweise beträgt der Eigenkostenanteil in Deutschland über 50 Prozent. In anderen europäischen Ländern ist dieser Anteil nicht nur deutlich niedriger, sondern es werden, zum Beispiel in Dänemark oder Finnland, bereits bei geringfügiger Pflegebedürftigkeit Leistungen gewährt, oftmals auch, wenn lediglich Hilfe bei den hauswirtschaftlichen Tätigkeiten benötigt wird. Deshalb müssen Pflegebedürftige und ihre Angehörigen in der Bundesrepublik privat mehr ausgeben: Laut DIW werden von den privaten Haushalten jährlich rund neun Milliarden (109 Euro je Einwohner) für Pflegeleistungen ausgegeben (in Belgien 340 Million – 32 Euro je Einwohner, in Spanien 2,7 Milliarden – 59 Euro je Einwohner und in Frankreich 140 Millionen – zwei Euro je Einwohner). Damit liege die Bundesrepublik über dem internationalen Durchschnitt.