erstellt mit easyCMS
Titel818

Digital und gleichberechtigt?  (Marcus Schwarzbach)

Die zunehmende Digitalisierung der Arbeitswelt wird von Unternehmen gern mit positiven Begriffen verbunden – auch für die Bertelsmann-Stiftung ist es wichtig, den »Wandel antizipieren und für die gesellschaftliche Zukunft interpretieren« zu können. »Dazu gehört es, den Menschen nicht nur Risiken, sondern verstärkt Chancen vor Augen zu führen und sie zur Hilfe zur Selbsthilfe zu ermutigen.«

 

Diese Aufforderung wird zunehmend angenommen. »Die Digitalisierung kann der Karriere-Beschleuniger Nummer 1 für Frauen sein«, verspricht Barbara Lutz Arbeitnehmerinnen. »Werdet mutiger und glaubt an eure Stärken!«, fordert die Gründerin des Frauen-Karriere-Index. Durch die Digitalisierung »könnte Geschlechtergleichheit am Arbeitsplatz in den Industriestaaten bereits im Jahr 2040 erreicht werden, also 25 Jahre schneller als bei der jetzigen Entwicklung", so Sandra Babylon von der Unternehmensberatung Accenture. Da ergebe sich einiges an Potential. Frauen, so Alexandra Borchardt, Chefin vom Dienst bei der Süddeutschen Zeitung, werden eher »nach Leistung befördert, Männer nach Potential«. Auch hier biete die Digitalisierung Frauen die Möglichkeit, aus alten Mustern auszubrechen. Die Chancen für Frauen steigen jedoch, denn »Algorithmen können dabei helfen, ein einigermaßen objektives Bild zu zeichnen«. Noch weiter formuliert eine Top-Bankerin in Richtung der Superlative: »Die Digitalisierung ist für Frauen so etwas, wie es die Pille in den sechziger Jahren war: Sie eröffnet alle möglichen Freiheiten«, verspricht Sylvia Coutinho, brasilianische Chefin der Großbank UBS. »Die Entgrenzung der Arbeit flexibilisiert den Arbeitsplatz, ermöglicht Homeoffice-Modelle«, beschreibt die Unternehmensberaterin Lutz Verbesserungen für Frauen.

 

Die betriebliche Realität sieht jedoch anders aus. Wissenschaftliche Auswertungen zum Arbeiten zuhause lassen Schlimmstes befürchten. Eine Untersuchung zu »Belastung und Beanspruchung durch alternierende Telearbeit« zeigt auf, dass nur in 60 Prozent der analysierten Fälle keine Beanstandungen vorgenommen wurden. »Ergonomischen Erfordernissen wird offenbar bei der Einrichtung des häuslichen Arbeitsplatzes nicht genügend Beachtung geschenkt«. Und: Telearbeiter arbeiten länger – oft ersetzt die Telearbeit die Arbeit in der Firma nicht, sondern erfolgt zusätzlich. 41 Prozent der mobilen Telearbeiter klagen über hohe Stressbelastung im Job, bei den anderen Arbeitnehmern sind es 25 Prozent, zeigt eine Untersuchung von Eurofund, der Europäischen Stiftung zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen. Das hat auch Folgen für die Schlafqualität. Von Telearbeitern wachen 42 Prozent nachts regelmäßig auf, von den anderen Arbeitnehmern 29 Prozent.

 

Bereits heute arbeiten Frauen verstärkt mit neuer Technik, ergab eine Befragung des DGB. Von den 4900 befragten Frauen sagen über die Hälfte (56 Prozent), dass sie in »hohem« oder »sehr hohem Maße« mit digitaler Technik arbeiten. Dies führt zu höherer Arbeitsbelastung. Das betrifft sowohl die Arbeitsmenge (57 Prozent) als auch die Situationen, in denen Multitasking (59 Prozent) gefordert ist. Belastend ist auch die hohe Anzahl der Kommunikationskanäle in vielen Betrieben. Anforderungen, per E-Mail, Chat und Sozialen Netzwerken zu kommunizieren, nehmen zu. Dies führt zur Überforderung, für viele Beschäftigte ist es zu viel auf einmal.

 

Selbst hochqualifizierten Software-Entwicklerinnen bleibt ein beruflicher Aufstieg oftmals verwehrt. Sie werden häufig als »Junior-Entwicklerin« angestellt – das bedeutet niedrigerer Lohn und geringere Chancen auf eine Leitungsfunktion als bei Männern. Dies ergab eine Untersuchung der IT-Stellenbörse Hackerrank, die über 14.000 Teilnehmer zur beruflichen Situation befragt hat. So arbeiten mehr als 20 Prozent der Frauen im Alter über 35 Jahren als Junior-Entwicklerinnen. Männliche Entwickler sind in derselben Position und Altersgruppe mit nur knapp sechs Prozent vertreten. So weit zu den Chancen durch die Digitalisierung – aber nicht zum ersten Mal schaden Forderungen der Bertelsmann-Stiftung den Beschäftigten.

 

 

Marcus Schwarzbach ist Autor des neuen isw-wirtschaftsinfo 53: »Geht uns die Arbeit aus? Wie sich die Digitalisierung auf die Beschäftigten auswirkt«, siehe auch: https://www.isw-muenchen.de/produkt/wirtschaftsinfo-53/