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Die Abschaffung  (Jürgen Rose)

Ob US-Präsident Obama die drängende Warnung Jonathan Schells im Sinn hatte, als er am ersten Sonntag im April in Prag vor Tausenden begeisterter Zuhörer ankündigte, nunmehr endlich Ernst machen zu wollen mit der Abschaffung sämtlicher Atomwaffen auf unserem Planeten, mag dahinstehen. Jedenfalls hat das, was der Autor des Bestsellers »Das Schicksal der Erde« anno 1982 mit dramatischen Worten anmahnte, bis auf den heutigen Tag nicht ein Jota an Aktualität eingebüßt. »Eines Tages – und vermutlich wird dieser Tag bald kommen –«, so Schell, »werden wir unsere Entscheidung treffen müssen. Entweder werden wir in eine Agonie versinken, aus der es keine Rettung mehr geben wird, und die Welt wird mit uns untergehen, oder aber wir werden, wie jemand, der ein todbringendes Gift eingenommen hat und im letzten Augenblick aus seiner Betäubung erwacht und das Gift ausspeit, unsere Ängste und unsere Verdrängungen überwinden, unsere halbherzigen Ausflüchte beiseiteschieben und aufstehen, um sämtliche Atomwaffen vom Antlitz der Erde hinwegzufegen.« Obamas Wortwahl stimmte damit auffällig überein: »Auch wir müssen eine Entscheidung treffen«, sagte er, um wenig später anzufügen: »Als Nuklearmacht, als einzige Atommacht, die diese Nuklearwaffe eingesetzt hat, haben die Vereinigten Staaten eine moralische Verpflichtung, hier zu handeln. … Ich möchte heute also ganz deutlich und mit Überzeugung Amerikas Bereitschaft erklären, den Frieden und die Sicherheit in einer Welt ohne Atomwaffen anzustreben.«

Mit diesem Projekt setzt sich der neue Präsident der USA ein weiteres Mal positiv von der Politik seines Amtsvorgängers George W. Bush ab, der einem grotesken Kriegs- und Rüstungswahn verfallen war. Und reiht sich in die traditionsreiche Geschichte der Versuche ein, eine nuklearwaffenfreie Welt zu schaffen. So hatte bereits 1946 – die USA waren noch Atomwaffenmonopolist – der amerikanische Rüstungsexperte Bernard M. Baruch den Vorschlag unterbreitet, die Kontrolle über Nuklearmaterial und Nuklearindustrie einer internationalen Behörde zu unterstellen. Sein Plan scheiterte 1948 im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen am Veto der UdSSR, die ein Verbot aller Nuklearwaffen forderte.

Viel weiter als der Baruch-Plan reichten die Abrüstungsvorschläge, die einige Jahre später von amerikanischer und sowjetischer Seite eingebracht wurden. Am 15. März 1962 legte die Sowjetunion einen »Vertragsentwurf über eine allgemeine und vollständige Abrüstung unter strenger und internationaler Kontrolle« vor. Nur einen Monat später, am 18. April 1962, folgten die USA mit der »Outline of Basic Provisions of a Treaty on General and Complete Disarmament in a Peaceful World«. Die Ziele und Grundsätze dieser angestrebten Abrüstungsverträge wirken noch heute atemberaubend – sowohl vor dem historischen Hintergrund des Kalten Krieges als auch angesichts einer Gegenwart, in der weltweit 1.200 Milliarden US-Dollar im Jahr für Krieg und Rüstung verschleudert werden. Um sicherzustellen, daß nicht wieder versucht wird, internationale Probleme mit dem Mittel des Krieges zu lösen, sollte nämlich folgendes vereinbart werden: »a) die Auflösung bewaffneter Streitkräfte, der Abbau militärischer Einrichtungen einschließlich der Stützpunkte, die Einstellung der Produktion von Rüstungen sowie ihre Vernichtung oder Umwandlung für friedliche Zwecke; b) die Vernichtung aller Vorräte an nuklearen, chemischen, biologischen und anderen Massenvernichtungswaffen und die Einstellung der Produktion solcher Waffen; c) die Vernichtung aller Trägersysteme für Massenvernichtungswaffen; d) die Auflösung der Organisationen und Institutionen, die dazu bestimmt sind, den militärischen Anstrengungen von Staaten zu dienen, die Einstellung militärischer Ausbildung und Schließung aller militärischen Ausbildungsstätten; e) die Einstellung der Militärausgaben.« So der US-Entwurf.

Selbstverständlich garantierte er allen Vertragsstaaten, daß sie über hinreichende Kräfte und Mittel verfügen könnten, um die innere Ordnung aufrechtzuerhalten und die persönliche Sicherheit der Bürger zu schützen. Das umfassende Abrüstungsprojekt sollte von wirksamen Maßnahmen zur Aufrechterhaltung des Friedens sowie zuverlässigen Verfahren zur Beilegung von Streitigkeiten im Einklang mit den Grundsätzen der Vereinten Nationen begleitet werden. Im Zuge ihrer eigenen Abrüstung sollten die Staaten der Vereinten Nationen eine Friedenstruppe mit vereinbarten Waffen zur Verfügung stellen, damit die UNO jede Drohung mit oder jeden Gebrauch von Waffen wirksam würde abschrecken oder unterdrücken können, wie es die UN-Charta im Kapitel VII vorsieht. Eine Internationale Abrüstungsorganisation sollte überwachen, daß die Abrüstungsverträge getreulich umgesetzt und eingehalten würden. Inspektoren sollten uneingeschränkte Zugangsrechte erhalten.

Die Dynamik des Kalten Krieges ließ diese einzigartigen Abrüstungsinitiativen in rasender Geschwindigkeit Makulatur werden – kaum sechs Monate später, im Oktober 1962, standen die bis an die Zähne bewaffneten Protagonisten anläßlich der Kuba-Krise am Abgrund eines Atomkrieges. Seitdem ist kein neuer Vertragsentwurf für allgemeine und vollständige Abrüstung mehr entstanden, und die damaligen Initiativen scheinen aus dem kollektiven Gedächtnis der Menschheit verschwunden zu sein.

Erst in der Endphase des Ost-West-Konflikts, im Jahr 1986, blitzte kurz noch einmal die Option einer nuklearwaffenfreien Welt auf, als nämlich US-Präsident Ronald Reagan und der sowjetische Generalsekretär Michail Gorbatschow sich während ihres Gipfeltreffens im isländischen Reykjavik um ein Haar auf die Abschaffung sämtlicher Kernwaffenarsenale geeinigt hätten – wenn nicht Reagan starrköpfig auf seinem Raketenabwehrsystem (SDI) insistiert hätte. Immerhin konnte ein Jahr später mit dem INF-Vertrag vom 8. Dezember 1987 die vollständige Vernichtung der nuklearen Mittelstreckensysteme erreicht werden und wenig später auch die aller Kurzstreckenwaffen.

Abrüstung, auch nukleare, hat sich demnach in der Praxis als durchaus möglich erwiesen. Zudem gibt es viele realistische Schritte, die vereinbart und getan werden könnten, ohne daß bereits eine Entscheidung über vollständige nukleare Abrüstung getroffen werden müßte: Limitierung oder Abschaffung von taktischen Kernwaffen, Verifikation der Demontage von Nuklearsprengköpfen, Verzicht auf Ersteinsatz, Einrichtung kernwaffenfreier Zonen, Transparenz- und Sicherungsmaßnahmen der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) auch in Kernwaffenstaaten oder die vertragliche Festlegung auf das Prinzip der Irreversibilität von Abrüstungsmaßnahmen. Beispielsweise das Verbot, Nuklearmaterial, das für eine zivile Nutzung deklariert ist, wieder militärisch zu verwenden. Derartige Schritte schweben nun offenbar auch dem US-Präsidenten vor.

Die existentielle Notwendigkeit zur nuklearen Abrüstung betonten auch der ehemalige Finanz- und Außenminister der USA, George P. Shultz, und seine vormaligen Politikerkollegen Henry Kissinger, Sam Nunn und William Perry – bezeichnenderweise allesamt Galionsfiguren der sogenannten »Realistischen Schule der Internationalen Politik« –, als sie in den Jahren 2007 und 2008 in zwei vielbeachteten Artikeln im Wall Street Journal für eine Welt ohne Nuklearwaffen plädierten. Volle Unterstützung hierfür signalisierten in der Folge nicht weniger als 17 ehemalige Nationale Sicherheitsberater, Außen- und Verteidigungsminister der USA wie auch Altbundeskanzler Helmut Schmidt und der russische Außenminister Sergej Lawrow.

Doch ungeachtet solch prominenter Expertise meldeten sich nun nach Obamas Prager Rede umgehend die ewiggestrigen Hohepriester der nuklearen Abschreckung zu Wort, um ihre Einwände gegen die als »nette Idee« und »schöner Traum« diffamierten Vorschläge des US-Präsidenten hinauszuposaunen. Angeführt wird diese Riege von Josef Joffe (Die Zeit), der apodiktisch behauptet, eine nuklearwaffenfreie Welt werde es nie geben. Ähnlich bezichtigt Michael Rühle, immerhin stellvertretender Leiter der Politischen Planungseinheit der NATO, in der Süddeutschen Zeitung Obama einer »bombastischen Rhetorik«. Mit den üblichen Argumentationshülsen und ausgeleierten Denkschablonen (man könne ja die Atomwaffen nicht »wegerfinden«) legen die beiden Kernwaffenapologetiker die Abschaffungsinitiative kurzerhand ad acta – ohne auch nur ein Wort darüber zu verlieren, daß die Nuklearwaffenmächte im »Non-Proliferation Treaty« (dem sogenannten Kernwaffensperrvertrag) schon vor Jahrzehnten dem Rest der Welt feierlich zugesichert haben, ihre atomaren Schreckenskammern vollständig zu entleeren. Was Präsident Obama in Prag bekundete, war demnach nichts weiter als die Absicht, seit langem existierende völkervertragsrechtliche Verpflichtungen nunmehr endlich zu erfüllen.

Und das ist durchaus nicht unmöglich, wie der eingangs zitierte Jonathan Schell dargelegt hat. Denn schon vor fünfundzwanzig Jahren standdie Frage im Raum, auf welche Weise denn der Friede nach dem Wegfall der abschreckenden atomaren Vernichtungsdrohung gesichert werden könnte. Schell schrieb: »Wir haben von der Erfindung der nuklearen Waffen eine Lehre empfangen, die wir nie wieder vergessen dürfen, sondern nur auf die konventionellen Waffen anwenden müssen. Nicht Sieg, sondern Kriegsverhütung ist die Aufgabe.« Das erforderliche Maß an Abschreckung gegenüber potentiellen Völkerrechtsbrechern könne dadurch fortbestehen, daß bei Abschaffung der Atomwaffen das Wissen um deren Herstellung nicht verloren gehe. Daß diese Vorstellungen realistisch sind und die Einhaltung eines derartigen Abkommens überwacht werden könnte, zeigen die bis heute geltenden Verträge zwischen der NATO und Rußland über die vollständige Abrüstung atomarer Mittel- und Kurzstreckenwaffen, in deren Rahmen weitreichende Verifikationsbestimmungen wie Inspektionsrechte in Produktionsanlagen, Überwachungssysteme und die Offenlegung strategisch wichtiger Waffensysteme für die Inspektion durch Satelliten vereinbart wurden.

Zudem verweist Schell darauf, daß ein Abkommen zur Schaffung einer atomwaffenfreien Welt durch defensive Rüstungsmaßnahmen abgesichert werden müßte: »Der Schutz des Vergeltungspotentials bliebe eben nicht dem Zufall überlassen. Denn das Abschaffungsabkommen würde nicht nur die Voraussetzungen zum Wiederaufbau von Kernwaffen ausdrücklich zulassen, sondern auch Abwehrsysteme zum Schutz vor atomaren Angriffen und defensiv ausgerüstete konventionelle Streitkräfte. Der Angriff des vertragsbrüchigen Staates würde scheitern, weil das Abschaffungsabkommen Klauseln enthielten, die genau für diesen Fall bestimmt wären.« Auch wenn aus friedenspolitischer Sicht eine solche Option längst nicht die Erfüllung aller Wünsche wäre, sondern lediglich ein Schritt auf dem Wege zur Abrüstung, so illustriert sie doch, daß es sich bei dem gegenwärtigen US-Präsidenten mitnichten um einen Träumer, sondern durchaus um einen Realisten handelt, wenn er an seinem Ziel einer nuklearwaffenfreien Welt festhält. In Irrationalismus befangen zeigen sich dagegen all die Joffes und Rüjles der Welt, die unbeirrbar an ihr selbstverfertigtes Dogma von der unaufhebbaren Existenz der Kernwaffenarsenale glauben.

Unbestreitbar kann die Abschaffung der Atomwaffen nur ein erster Schritt zum Frieden sein. Der wirkliche Weltfriede kann nur mit allgemeiner und vollständiger Abrüstung erreicht werden – vielleicht erinnert sich der oftmals mit John F. Kennedy verglichene Barack H. Obama ja gelegentlich an die richtungsweisenden Vorschläge seines Amtsvorgängers aus dem Jahre 1962.

Jürgen Rose, Oberstleutnant der Bundeswehr, vertritt in diesem Beitrag nur seine persönlichen Auffassungen.