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Neues aus dem Hinterhof der USA  (Wolf Gauer)

Emsiges Kommen und Gehen in Südamerika. Barack Obama besucht Brasilia, Rio de Janeiro und Santiago de Chile. Dilma Rousseff, Brasiliens neue Präsidentin, erscheint überraschend in Portugal und in China. Hugo Chávez Frías steuert Argentinien und Bolivien an, und sein chilenischer Kollege Sebastián Piñera Echenique trifft sich in Lima mit den Regierungschefs von Peru, Kolumbien und Mexiko, konsultiert zuvor aber Israel.

Reisen bedeutet Kommunikation, und Kommunikation will Verständigung. Was beflügelt die Präsidenten, das sie nicht ihren Außenministern überlassen mögen?

Obama wollte die Nachfolgerin des vormaligen Präsidenten Brasiliens, Luiz Inácio »Lula« da Silva, näher kennenlernen, als es die (aus den Wikileaks-Papieren bekannte) Urteilskraft seiner Diplomaten erlaubt: Dilma Vana Rousseff (63), die nun der siebtgrößten Wirtschaftsmacht des Planeten vorsteht. Eher diskret, aber resolut, kann sie dem Charisma ihres Vorgängers Jahre der Stadtguerilla, der Gefängnishaft und der Folter entgegensetzen, aber auch ein Studium der Volkswirtschaft sowie Kabinettserfahrung (Energie und Bergbau, Innenressort). »Dilma«, wie sie schlicht genannt wird, erhielt jüngst von dem führenden liberalen Wirtschaftsblatt Exame 7,75 von 10 möglichen Punkten für ihre drei ersten Amtsmonate – trotz ihrer Herkunft aus dem »ideologischen« Flügel der regierenden Arbeiterpartei (PT) und ihrer aufs Soziale fokussierten Regierungserklärung.

Viel Lob von rechts macht stutzig. Dilma hatte zum kleinen Diner mit den vier Obamas auch den sozialdemokratischen Ex-Präsidenten Fernando Henrique Cardoso (1995–98) gebeten, den radikalen Privatisierer und »Erfinder« der harten Währung (Real). Ein viel beachtetes Omen. Cardosos liberale Wirtschaftspolitik war nämlich auch in den beiden Amtszeiten Lulas (2003–2011) beharrlich fortgesetzt worden. Zum Segen der Banken, der Großagrarier, des Rohstoff- und Agrarexports und der ausländischen Investoren. Aber diese Politik brachte auch beachtliche soziale Verbesserungen mittels steuerlicher Umschichtung (zu Ungunsten der Mittelschicht) und innerer Staatsverschuldung. Alles deutet darauf hin, daß Dilma Rousseff nicht vom pragmatischen Halblinkskurs abweichen wird. Eine solide Zwei-Drittel-Mehrheit in Kongreß und Senat garantiert sicheres Terrain; Lulas eingespielte Zehn-Parteien-Koalition bestimmt weiterhin den Handlungsspielraum.

Die Liberalen honorieren auch die Praxis der PT-Regierung, Arbeitskämpfe ad hoc zu schlichten und die Zuständigkeit der Gewerkschaften oder Basisorganisationen zu ignorieren. Auch die nüchterne Personalpolitik gefällt: Henrique Meirelles, früher Chef der Bank of Boston, Vertrauter der Regierung Bush, danach Präsident der brasilianischen Zentralbank, hat sich nun um die Vorbereitung der Olympischen Spiele zu kümmern, zentrales Thema bis 2016. Brasiliens bisheriger Botschafter in Washington, Antonio de Aguilar Patriota, Protegé des scheidenden Außenministers Celso Amorim, setzt dessen feinfühlige Außenpolitik fort: politische Autonomie und freundschaftliche Distanz zu den USA und ihren Satrapen. Brasiliens Solidarität mit den Mercosur- und den BRIC-Staaten (Rußland, Indien, China), mit Kuba, Bolivien, Venezuela, Haiti, Palästina und den blockfreien Nationen bewährte sich in der Organisation der Amerikanischen Staaten (OAS) und in den UNO-Abstimmungen, zuletzt beim Widerstand gegen das Mandat zum Militäreinsatz in Libyen.

Brasiliens linkes Kolorit ist außenpolitisch bewahrt, viel deutlicher als in Lulas interner Hinterlassenschaft. Lucien Goldmanns klassische Definition der Instrumente der lateinamerikanischen Linken, nämlich Staat, Politik, Geschichte und Revolution (der »revolutionäre Reformismus«), ist längst überholt: Globalisierung und Deregulierung ersetzen auch in Brasilien die Vorrechte des Staats, und die neoliberale, multinationale bis hegemoniale Lobby ist der bestimmende politische Vektor. Geschichte und Revolution aber sind im Bewußtsein der Mehrheit der lateinamerikanischen Nationen noch immer der gefühlte gemeinsame Nenner, wenn es um die Selbstbehauptung gegenüber imperialistischen Ansprüchen von Seiten der USA und der EU geht.

Nahezu frei von äußerer Verschuldung und insofern nicht dem Diktat des Internationalen Währungsfonds unterworfen, wird sich Dilma Rousseff mit dem hohen internen Schuldendienst Brasiliens zu plagen haben, der 35,7 Prozent des Jahreshaushaltes verschlingt, und auch mit der wachsenden Inflation (zur Zeit etwa sechs Prozent). Die überfälligen Land-, Steuer- und Erziehungsreformen, die weiterhin riskante Energiepolitik – im Februar hat Kollegin Merkel eine Bürgschaft von 1,3 Milliarden Euro für das umstrittene dritte brasilianische Atomkraftwerk zugesagt – und vor allem der dringend notwendige Sozialausgleich, kürzlich noch Gegenstand von Wahlversprechungen, sind nunmehr Teil der Erwartungen einer rasch zunehmenden kritischen Stadtgesellschaft, der über 90 Prozent der 190 Millionen Brasilianer angehören. 81,3 Millionen nutzen das Internet und lösen sich damit allmählich vom Informationsmonopol der Konzernmedien.

Obama kam mit US-imperialem Wunschzettel. Tenor: »Kollegialität« der beiden größten Nationen der amerikanischen Kontinente und »Zusammenarbeit« bei der Ausbeutung der enormen brasilianischen Ölfelder vor der Küste – denn da ist wieder mal »unser Öl unter eurem Meer«. Weitere Wünsche: Brasilien solle den beschlossenen Ankauf von 36 Jagdbombern gefälligst in den USA und nicht – wie von Lula angebahnt – in Frankreich tätigen. Man rechne außerdem auf eindeutige Unterstützung in der UNO, sofern Brasilien wirklich einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat anstrebe. Desgleichen bei der US-Besatzungspolitik in Haiti. Im Übrigen sei US-Präsenz in Sicherheitsfragen vonnöten (als würden sich amerikanische »Dienste« nicht schon längst mehr oder weniger rechtens in Brasilien bewegen). Washingtons Schutzzölle auf brasilianisches Ethanol aber seien leider, leider nicht zu umgehen, beim Orangensaftimport wolle man aber großzügiger sein.

Dilma Rousseff vermied jedes Zugeständnis, bestand unbeirrt auf Brasiliens Ablehnung des Militärüberfalls auf Libyen und verwies auf die friedliche Koexistenz ihres Landes mit allen Staaten dieser Welt. Obama flog weiter nach Chile, mit leeren Händen, aber den Dolch im Gewande (s.u.). Dilma reiste nach Portugal, wo sie zusammen mit Altpräsident Lula auf die Fallstricke des Internationalen Währungs- und des EU-Rettungsfonds hinwies und dem einstigen Kolonisator finanzielle Hilfe anbot. Immer noch fit, erschien sie (rot gewandet) bei Brasiliens größtem Handelspartner, der Volksrepublik China. Dort konnte sie die Bestellung von 150 brasilianischen Verkehrsflugzeugen im Wert von 1,5 Milliarden Dollar verbuchen, dazu die Zusage eines ausgewogeneren Güteraustauschs zwischen beiden Ländern und der Fürsprache Chinas für Brasiliens UN-Aspirationen. Am 12. April nahm die Präsidentin am Gipfeltreffen der BRIC-Staaten auf der Insel Hainan teil, bei dem die Südafrikanische Union dieser zunehmend an Einfluß gewinnenden Staatengemeinschaft beitrat. Insgesamt ein unerwartet glänzender Antritt der ersten brasilianischen Präsidentin – und eine Ohrfeige für den Repräsentanten des Imperiums.

Konziliant war Obamas Empfang in der Hauptstadt Brasilia, verbittert dagegen die Reaktion der arbeitenden Bevölkerung bei seinem Ausflug nach Rio de Janeiro. Ein Manifest sozial engagierter Gruppen erklärte den US-Präsidenten zur »persona non grata«. »Als Lateinamerikaner wissen wir«, heißt es darin, »daß sich die Lateinamerika-Politik der USA in nichts geändert hat. Wir akzeptieren nicht die anhaltende Blockierung Kubas, die Provokationen gegenüber Venezuela, Nikaragua, Bolivien und Ekuador.« Gegen den Willen der regierenden Arbeiterpartei fanden Demonstrationen vor dem US-Konsulat statt, Polizeigewalt beendete sie.

Das Manifest hat Recht. Das in Washington nach wie vor dominierende imperialistische Denken äußerte sich am deutlichsten in Kommentaren von Politikern, die nicht der amtierenden Regierung angehören. Der vormalige US-Staatssekretärs für die Westliche Hemisphäre, Richard Noriega, benannte die Hauptsorge: »Brasilien ist ein wichtiger Wirtschaftspartner, aber wir sollten aufpassen, China verschlingt unseren Lunch auf dem venezolanischen Erdölmarkt, der Iran schürft da Uran ... alles mit der Hilfe von Chávez .« Und der republikanische Senator Orrin Hatch sagte ungeniert, der Präsident sollte doch lieber die bewährten Freundesnationen Kolumbien und Panama besuchen, mit denen abgesprochener Handel floriere und deren Freundschaft es zu untermauern gelte. Panama und Kolumbien stehen in Lateinamerika für Verrat an der eigenen Nation, für US-hörige Plutokraten, für Privatarmeen, Rechtsbeugung, Drogenwirtschaft und für die höchste Todes- und Vermißtenrate (Kolumbien) aufgrund polizeilicher und paramilitärischer Übergriffe.

Unterdessen reist auch der venezolanische Staatspräsident Hugo Chávez und kämpft für den Gemeinsamen Markt Mercosur (bisher fünf Mitglieds- und fünf assoziierte Staaten mit 280 Millionen Menschen), obwohl Venezuelas volle Zugehörigkeit noch immer von der politischen Rechten in Paraguay blockiert wird. Der solidarischste unter den mehr oder weniger linken Regierungschefs des Kontinents hat Argentinien jährlich zwölf Millionen Barrel Heiz- und Dieselöl zugesagt. Per Güteraustausch, ganz nach den bolivarischen Wirtschaftsprinzipien: Öl gegen Rindfleisch, Autos und Industrieanlagen. Auch Uruguay soll in gemeinsame Vorhaben zur Viehzucht und Ölförderung einsteigen. Chávez stieß weiterhin den Bau von zwölf Flußtankern an, die venezolanisches Öl auf dem Rio de la Plata nach Bolivien bringen werden.

Während US-Medien Muammar Gaddafi immer mal wieder in Bolivien und Venezuela witterten, beschlossen diese beiden Länder die Errichtung eines bilateralen Großunternehmens zur Produktion von Nahrungsmitteln. Bolivien wird unter anderem mit dem Anbau von Stevia (Süßkraut) beginnen, dessen Süßkraft die der Zuckerrübe etwa 300fach übertrifft. Weitere 18 Abkommen sehen die Zusammenarbeit in den Bereichen Erziehung, Energie, Handel und Industrie vor, zum Beispiel bei der Herstellung von Lithiumbatterien zur autarken Nutzung der Lithiumreserven Boliviens.

»Wir reden vom Sozialismus, aber der fällt nicht vom Himmel, wir müssen ihn denken, auf die Welt bringen und vorwärtstreiben«, sagte Chávez im Beisein seines bolivianischen Amtskollegen Evo Morales. Und im Hinblick auf Libyen: »Der Imperialismus ist in die Phase des extremen Irrsinns eingetreten ... wir leben in einer Zeit, in der sich das Schicksal der Menschheit, unserer Völker, entscheiden wird.«

Zu den Profiteuren des Irrsinns zählt Sebastian Piñera, Obamas Idealpartner in Südamerika. Der Milliardär und in den USA gedrillte Präsident Chiles liftete Obamas angeschlagenes Ego. Sie schlossen ein Abkommen über Atomenergie im Erdbebenland Chile (ohne Einblick des Parlaments). Und Piñera rapportierte seine Einmischung in den Präsidentschaftswahlkampf des Nachbarlands Peru. Es galt, die Wahlchancen des nationalistischen US-Kritikers Ollanta Humala um jeden Preis zu mindern. Humala erreichte dennoch am 10. April 31,7 Prozent aller Stimmen – bei fünf Kandidaten – und wird bei der Stichwahl am 5. Juni gegen Keiko Fujimori (23 Prozent) antreten, die Tochter des Diktators Alberto Fujimori (1999–2000), der wegen Vergehen gegen die Menschenrechte zu 25 Jahren Gefängnis verurteilt wurde.

Humalas Profil (Offizier und Politologe) ähnelt dem des Venezolaners Hugo Chávez. Er brachte die versteckte militärische Präsenz der USA in Peru ans Licht und will die Totalprivatisierungen der Fujimori-Diktatur revidieren. Vor einem möglichen Wahlsieg Humalas soll deshalb noch die seit langem von den USA betriebene Spaltung Lateinamerikas festgeschrieben werden, über die Obama während seines Besuchs so wenig gesprochen hat wie überr die US-amerikanische Rolle in Pinochets Chile oder in Uribes Kolumbien: Am 28. April haben Chile, Peru, Kolumbien und Mexiko den Acuerdo del Pacífico (Pazifik-Bund) zelebriert – nach offizieller peruanischer Mitteilung »die Integration von vier Ländern moderner, offener Wirtschaftsform«. Nicht alle können da mitmachen, heißt es weiter, »wegen der verschiedenen wirtschaftlichen Anschauungen und Modelle«. Washingtons Musterschüler setzen sich ab. Ein Tiefschlag für Simón Bolivars Idee eines geeinten, sozial orientierten, lateinischen Amerika.