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Titel0911

Zeitanhalter  (Harald Kretzschmar)

Haben sich irgendwelche Zeiten in den letzten zwanzig Jahren irgendwie geändert? Ja, gewiß doch, das weiß alle Welt. Nur die Stasi steht felsenfest aktenbefestigt wie ein Monolith im Raum, und kein Ossi kommt darum herum. Die Aufpasser vom Schild und Schwert der Partei haben offenbar seinerzeit für die Ewigkeit gewirkt. Die Stasi-Beauftragte Ulrike Poppe ist nun mit dem Titel »Brandenburger Landesbeauftragte für die Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur« programmatisch in Kampfposition aufgestellt. Mit rückwirkender Überprüfung von zwanzig Jahre brandenburgischer Politik wird demokratischer Neuanfang in Zweifel gezogen. Durfte die böse DDR hier weiterleben? Jede wohlmeinende Erklärung ist übelzunehmende Verklärung. Basta.

Üble Zeiten können für manche große Zeiten gewesen sein. Wer schikaniert und ausgebremst, bespitzelt und gemobbt wurde, hat nun ein Opferdasein zu erinnern. Wer zu leiden hatte, hat Überliefernswertes erlebt. Das muß festgehalten werden, wird unentwegt gerufen. Haltet die Zeit an. Macht die Täter dingfest, allein schon, indem ihr sie nennt. Spürt sie auf. Damit die Spur klarer wird, dreht das Rad zurück.

Ostalgie wird beargwöhnt ausgerechnet von jenen, die ihr eigenes Vergangenes geradezu als kostbare Reliquie vor sich her tragen. Damit es nie wieder geschehe, ruft man, muß ein unbarmherzig peinigendes Erinnern an Missetaten gepflegt werden. Leben in Klage und Anklage – ob das so erstrebenswert sein kann? Ich frage ganz schüchtern. Hält man sich ewig an verlorenen Heimaten, erlittener Unbill und erduldeter Verfolgung fest, wird man dann nicht untauglich zu neuer Bewegung? Kann man frei sein im Zwang des Zurückgedachten? Geht da nicht letzten Endes Zukunftsfähigkeit verloren?

Zurückdenker und Zeitanhalter sagen, die einstigen Opfer kämen in der Leistungsgesellschaft nicht zum Zuge, weil sie weiterhin benachteiligt seien. Ihre Peiniger triumphierten angeblich. Doch: Wer darf sich ein für allemal Opfer nennen? Die sich tatsächlich opferten, nennen sich nicht so. Todesopfer werden geehrt. Geschädigte werden entschädigt. Daß Wunden erst nach einer Strafe für die Verursacher heilen, ist eine fragwürdige Theorie. Wer sich heute noch von wem auch immer bedroht fühlt, wird ewig leiden müssen.

Muß eigentlich nur Vergangenheit bewältigt werden? Gegenwärtige Probleme drängen. Sie resultieren bekanntlich kaum aus vergangenem Fehlverhalten. Ganz selten hören wir profilierte Vertreter der Dissidentenszene von einst etwas Kritisches zum Heute sagen.

Ja, Friedrich Schorlemmer vermittelt jederzeit neue Sichten. Die sehr grundsätzliche Ablehnung neuer Praktiken durch Sebastian Pflugbeil ist fast schon von Resignation geprägt. Jens Reich reagiert nur auf Befragung mit immer denselben Einwänden. Ja, und Richard Schröder relativiert neuerdings gelegentlich auf hohem Niveau seine oft maßlosen Fehlurteile. Joachim Gauck mögen die Verehrer seines Charismas selbst befragen. Aber all die anderen, die von Klage und Anklage Geprägten? Bemerken sie nicht, wie sich die Zeiten ändern? Nehmen Sie das durch ihre oft vagen Schuldzuweisungen herbeigeführte Klima der Verunsicherung gar nicht wahr?

Die Einbildung, man könne gelebtes Leben und Leiden festhalten, nährt sich immer von dem Papier der Akten. Das Gesetz gebietet geradezu, das tote Kapital der Aufzeichnungen einer einst geheimen, jetzt öffentlichen Behörde zu reanimieren. Koste es, was es wolle. Die Kostbarkeit noch ungekannter Kenntnisse muß ans Tageslicht gebracht werden. Doch wer damit aktiv oder passiv beschäftigt ist, bleibt für die Probleme der Gegenwart blind, stumm und taub. Wer von seinem einstigen Unmut oder Mut erst aus Spitzelberichten erfährt, ist kritischer Stellungnahme zum brennenden Heute kaum zugänglich. Wer damals dagegen war, kann heute nur dafür sein. Ist das nicht tatsächlich etwas wert für ein Establishment, das den Namen verdient?